Gerade in diesen Zeiten, da sich viele alltägliche Routinen auflösen, unser normalerweise nach kleineren und grösseren Zielen ausgerichtetes Leben zu schlingern beginnt, fragt man sich wahrscheinlich häufiger als sonst: Was soll ich jetzt tun, wenn ich keine Aufgabe, keine Arbeit, kein Ziel habe?
Die Frage hat meist einen bangen Klang, denn Denken und Handeln erscheinen uns ganz selbstverständlich als zielgerichtet. Vom Kindergarten an treten wir ein in Endloszyklen der Messung, der Evaluierung, des Assessments, welche sich immer dem Zweck unterordnen, unseren Lebensfortschritt auf bestimmte Ziele hin auszurichten. Wer dieser Vorgabe nicht entspricht, fällt schnell in die anrüchige Kategorie Tagedieb, Müssiggänger, Nichtsnutz, Herumstreuner. Deshalb ist die Situation jetzt günstiger denn je, dem nicht zielgerichteten Leben ein paar Gedanken zu widmen.
Keine Apologie der Ziellosigkeit
Zunächst eine Klarstellung. Es geht hier nicht um eine Apologie der Ziellosigkeit. Bestimmte spezifische Ziele haben wir immer, kleinere oder grössere: der 95-jährigen Mutter einen schönen Tag zu bescheren oder den Nobelpreis zu gewinnen. Aber wir kennen alle das banale bekannte Phänomen: Oft erreichen wir ein solches Ziel nicht, wenn wir es direkt anvisieren, sondern über Umwege, ja, Sackgassen, wenn wir den Blick von ihm weglenken. Der Name einer berühmten Schauspielerin fällt uns nicht ein, wir strapazieren unser Gedächtnis, es gibt nichts her, dann denken wir an etwas anderes, und – schwupp – taucht der Name plötzlich auf!
Das ist eine ganz allgemeine Erfahrung. Man hört immer wieder Storys von erfolgreichen Leuten, die im Laufe ihres Vorhabens, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, auf ein unerwartetes Sprungbrett treten und in eine völlig andere Richtung katapultiert werden. Das Sprungbrett kann einen glücklichen Zufall bedeuten. Johnny Depps ursprüngliches Ziel soll nicht Schauspielerei, sondern Musik gewesen sein. Er spielte in einer mässig erfolgreichen Band, und der Zufall wollte es, dass er die Schwester des Bassisten heiratete, die wiederum als Maskenbildnerin Zugang zu Filmleuten hatte.
Das Fingerfallen-Paradox
Ziele können täuschen, einen falschen Kompass abgeben. Ein eingängiges Beispiel dafür liefert die sogenannte (chinesische) Fingerfalle. Eine harmlos aussehende geflochtene Röhre, in die man meist den Zeigefinger steckt. Aber einmal hineingesteckt, ist der Finger gefangen. Das trickreich-tückische Geflecht zieht sich zusammen, wenn man den Finger herausziehen will, und zwar umso mehr, je stärker man zieht. Das Ziel, den Finger frei zu bekommen, erreicht man, wenn man ihn in die entgegengesetzte Richtung stösst. Denn dann verbreitert sich die Röhre. Falscher Kompass also: Um sich zu befreien, muss man sich gerade nicht befreien wollen. Das Phänomen ist so universell, dass man vom Fingerfallen-Paradox sprechen könnte: Ein bestimmtes Ziel direkt anzuvisieren kann verhindern, dass man es erreicht.
Telische und atelische Aktivitäten
Die Philosophen borgen sich von den Linguisten einen Terminus aus. Sie unterscheiden „telische“ und „atelische“ Tätigkeiten, solche mit einem Ziel (altgriechisch: telos) und solche ohne Ziel. Nach der sorglosen atelischen Kindheit stecken wir die meiste Zeit und Energie in telische Aktivitäten, wir „zielen“ auf einen erfüllenden Beruf, auf Partnerschaft, Kinder, gute Gesellschaft, auf das Gemeindepräsidium, eine Sportkarriere, die Expansion der Firma, einen Bestseller. Aber es bleibt da stets ein zielloser Rest, der sich – meist in der Lebensmitte – immer unangenehmer vernehmbar macht in der Frage „War’s das?“
Es gibt das Paradox der telischen Handlung: Scheitert man, ist man frustriert; aber erreicht man das Ziel, ist die Lust des Erreichens bald ausgelöscht. Der Mathematiker hat sein halbes Leben in den Beweis eines Theorems investiert. Nun ist es bewiesen. Was jetzt? Die Leichtathletin trainiert sieben Tage pro Woche für die Teilnahme an den Olympischen Spielen. Sie gewinnt die Goldmedaille im 100-Meter-Lauf. Was jetzt? Beide ahnen vielleicht, dass sie das Ziel – vor allem, wenn es hochgesteckt ist – nicht noch einmal erreichen können. Sie sind temporär tief befriedigt, sie können selbstverständlich ihren Erfolg auch nutzen oder vermarkten. Aber dennoch kann die Erfolgreichen nach der Klimax auch eine Leere und Schlaffheit heimsuchen. Frustration auch hier.
Arthur Schopenhauers Pessimismus
Kein Philosoph hat das Paradox eindringlicher beschrieben als Arthur Schopenhauer, der philosophische Grantler. Jedes Erreichen eines Ziels, jede Befriedigung ist für ihn nichts als der Ausdruck eines Willens des Menschens, sich in etwas zu „objektivieren“. Ein fundamentales Defizit. Denn: „Mit der Befriedigung hört (…) der Wunsch und folglich der Genuss auf. Daher kann die Befriedigung oder Beglückung nie mehr seyn als die Befreiung von einem Schmerz, von einer Noth (…) Nun ist es aber so schwer, irgend etwas zu erreichen und durchzusetzen: (…) bei jedem Schritt häufen sich die Hindernisse. Wann aber endlich Alles überwunden und erlangt ist, so kann doch nie etwas Anderes gewonnen seyn, als dass man von irgend einem Leiden, oder einem Wunsche, befreit ist, folglich nur sich so befindet wie vor dessen Eintritt.“
Diese Verzweiflungsmetaphysik taucht telisches Handeln generell in deprimierende Grautöne. Trotzdem steckt in ihr ein Körnchen Wahrheit, wenn man sie folgendermassen interpretiert. Wir alle verleihen unserem Leben Sinn, indem wir Ziele und Zwecke verfolgen, etwas wollen. Dieses Wollen kann scheitern – das ist deprimierend. Es kann erfüllt werden, aber mit der Erfüllung erlöscht paradoxerweise auch die motivierende Kraft des Ziels – das ist ebenfalls deprimierend. Wie wenn man Freundschaft schliessen wollte, nur um dem Freund Lebewohl zu sagen.
John Stuart Mills Optimismus
John Stuart Mill, ein anderer grosser Philosoph des 19. Jahrhunderts, hat einen Ausweg aus diesem Paradox skizziert. Mill war ein Wunderkind, das schon früh in seinem Leben alle seine intellektuellen Vorhaben realisierte. Aber in seiner Autobiographie steht zentral ein Kapitel mit dem Titel „Eine seelische Krise“. Darin stellt Mill die Frage: „Gesetzt, dass alle deine Lebensziele verwirklicht wären (…), würdest du froh und glücklich sein?“. Und eine „ununterdrückbare Stimme“ in Mills Innerem antwortet: „Nein!“.
Höchst aufschlussreich ist nun die Begründung: „Ich schwankte in der Tat nie in der Überzeugung, dass Glück der Prüfstein aller Verhaltensregeln und der Endzweck des Lebens sei; aber jetzt dachte ich, dieser Zweck liesse sich nur erreichen, wenn man ihn nicht zum direkten Ziel mache. Bloss diejenigen sind glücklich, dachte ich, welche ihren Sinn auf etwas anderes als das eigene Glück gesetzt haben (...) Während man so auf etwas anderes abhebt, findet man das Glück unterwegs.“
Das kleine Nichts
Ich halte diese Worte für eine der tiefsten lebenspraktischen Einsichten. Glück ist ein erratisches Fundstück auf dem Weg irgendwohin – wenn man will: Der Weg ist das Glück. Man muss also Wege finden, die man begehen kann, auch ohne Ziel. Spontan denke ich an Spaziergänge. Haben sie ein Ziel? Wohin führen sie, wenn nicht immer wieder zurück zum Ausgang? Hat man dann etwas „erreicht“?
Man kann Spaziergänge telisch und atelisch unternehmen. Telisch zum Beispiel, um sich etwas Luft und Erleichterung von der klaustrophobischen Einengung des Shutdowns zu verschaffen. Habe ich dieses Ziel erreicht, kehre ich befriedigt zurück. Den gleichen Spaziergang kann ich auch atelisch unternehmen, immer wieder. Er bleibt so unerschöpflich, hält stets Unerwartetes, Neues in petto. Er ist völlig in der Gegenwart aufgehoben. Man könnte sagen: Der Spaziergang realisiert zugleich Präsens, Perfekt und Futurum, ein perfektes präsentes Futurum – indem ich spaziere, bin ich schon spaziert und visiere nicht etwas anderes als Spazieren an.
Das gilt auch für andere atelische Aktivitäten: Man schreibt und hat geschrieben, man schwimmt und ist geschwommen, man gärtnert und hat gegärtnert, ohne bestimmtes künftiges Ziel. Für eine atelische Aktivität ist nur nötig, dass man sie hier und jetzt ausübt. Ich muss kein Ziel erreichen, ich habe es schon erreicht. Der unergründliche Zauber atelischer Aktivitäten liegt gerade darin, dass man nicht fragen muss „Und was jetzt?“, ja, dass man auf die Frage ein tief befriedigtes „Nichts jetzt!“ antworten kann. Die Kunst, kein Ziel zu haben, ist die Kunst, glücklich auf den Grund dieses kleinen „Nichts“ zu sinken. Man findet es überall.
Postscriptum
Ich bin ein hoffnungsloser Fall. Nachdem ich dieses Stück geschrieben habe, setzt mir das Jahr 2021 die Frage schon wieder in den Nacken: Und was jetzt?