Vor kurzem erschütterte ein Empörungsbeben die Medien, weit oben auf der moralischen Richterskala. Das Epizentrum lag bei der Hochzeitsfeier in einem Appenzeller Krähwinkel. Ein Grossteil der 200 Gäste soll sich beim Anlass mit dem Coronavirus angesteckt und ihn weiterverbreitet haben. Es handelt sich nicht um den Einzelfall von gedankenlosen Hinterwäldlern. Auch anderswo scheinen sich bestimmte Schweizer einen Dreck um die gegenwärtige Krisenlage zu scheren. Was mich zu einer kleinen Exkursion ins Gelände des Regelbruchs veranlasst.
Es gibt unvernünftige Formen des Regelbefolgens wie vernünftige Formen des Regelbruchs. Man kann sie gegenwärtig an einem banalen Phänomen beobachten: In einem leeren Zugsabteil sitzt ein Passagier ohne Gesichtsmaske; allein auf weiter Flur trägt ein Spaziergänger eine Gesichtsmaske. Der eine bricht die Regel des Maskentragens in Innenräumen auf vernünftige Weise; der andere befolgt die Regel draussen auf unvernünftige Weise.
Nun geht es mir hier nicht primär um das Maskentragen und dessen Nützlichkeit, sondern um ein altes philosophisches Problem: Was bedeutet eigentlich dieses „vernünftig“ im Handeln? Kann man vernünftig gegen Regeln verstossen? Wann ist ein Regelbruch angesagt?
Wie setzt man Regeln durch?
Das Problem beginnt mit dem Status von Regeln oder Gesetzen – zivilen, moralischen, geschäftlichen, sportlichen und anderen. Sie sind allgemein. Sie decken eine grosse Zahl und einen weiten Bereich von Lebensumständen ab. Wie aber setzt man sie durch?
Im familiären Rahmen erfolgt dies meist kasuistisch, von Fall zu Fall, über zwischenpersönliche Kontakte. Die Eltern lehren ihre Kinder direkt, was sich geziemt und was nicht. Sowohl Lektion wie Sanktion sind individuell. Das lässt sich im Grossen nicht durchführen. Eine funktionierende Gesellschaft hat Exekutivbehörden, die mit der Aufgabe der Durchsetzung betraut sind. Aber die einschlägigen Beamten kommen nicht zu jedem einzelnen Gesellschaftsmitglied und sagen ihm, was es tun oder lassen soll.
An wen appelliert die Regel?
Die Allgemeinheit der Regel impliziert, dass sie sich nicht – wie im Elternhaus – an besondere Individuen richtet. Eine Regel appelliert zwar an mich, aber dieses „Mich“ ist nicht die Person E. K., sondern das Mitglied einer Kategorie von Personen, welche die Regel akzeptieren und zulassen, dass Regelbrüche sanktioniert werden.
Wer sich ans Lenkrad seines Autos setzt, gehört zur Kategorie der Verkehrsteilnehmer, und die Verkehrsregeln gelten für ihn als Mitglied der Kategorie, obwohl er natürlich immer noch eine besondere Person ist. Und wenn er einen Regelbruch begeht – zum Beispiel die Geschwindigkeitsgrenze übertritt –, kann er diesen nicht mit dem Hinweis auf seine persönliche Besonderheit rechtfertigen. Hier ist ein Konflikt angelegt. Es gibt nämlich gar nicht so wenige Autofahrer, die meinen, aufgrund ihrer „Besonderheit“ seien sie legitimiert, Regeln zu brechen, sei dies, weil sie einen Lamborghini fahren, sei dies, weil sie sich für „Siebesieche“ der Strasse halten, oder auch bloss aus grenzdebiler Selbstüberschätzung.
Eigenverantwortung
Eine Besonderheit drängt sich allerdings in der heutigen Krisensituation durchaus in den Vordergrund: Eigenverantwortung. Mit ihr appellieren wir ja an eine Tugend, die individuell ganz unterschiedlich ausgeprägt ist. Regeltreue heisst Abgabe von Verantwortung, also kann Eigenverantwortung durchaus Regelbruch bedeuten. Aber wann? Wir alle kennen solche Fälle. Der banalste: Ich fahre mit dem Velo auf dem Trottoir, weil weit und breit kein Passant in Sicht ist. Ich achte die Regel durchaus, aber ich sehe, dass die Umstände es erlauben, sie zu brechen. Und jener, der das Nichtbefolgen der Corona-Massnahmen mit dem Hinweis auf Eigenverantwortung begründet? Überblickt er die Umstände, die ihm den Regelbruch erlauben?
Hier wird das Problem definitiv delikat. Regeln können Sicherheit gewähren oder uns in Zwangsjacken stecken. Wie gesagt: Regeln und Anwendungsumstände bilden ein untrennbares, Dilemma-anfälliges Paar. Die schwierige Frage ist, wie Regeln und Anwendungsumstände in konkreten Situationen auszutarieren sind. Eigenverantwortung ist gut, kann aber leicht in Eigenwillen und Eigennutz kippen, also letztlich in Unverantwortlichkeit. Auf eine Formel gebracht: Sind die Anwendungsumstände unübersichtlich, diktiert die Regel, sind sie übersichtlich, die Eigenverantwortung.
Besonnenheit
Regelbefolgung und Eigenverantwortung rücken eine alte Tugend in den Vordergrund: Besonnenheit. Besonnenheit liegt auf einem Spektrum zwischen den Polen des unbesonnenen Regelbefolgers und des unbesonnenen Regelbrechers, zwischen der Mentalität des Blockwarts und jener des Hallodris. Die Regelkonformität des Blockwarts ist stur und gnadenlos, die Renitenz des Hallodris infantil bis delinquent.
Besonnenheit heisst, durch das Allgemeine und das Besondere navigieren zu können, allgemeine Regeln zu achten und spezielle Anwendundungsumstände zu berücksichtigen. Aristoteles nannte Besonnenheit die „rechte Mitte“.
Wie wir jetzt konsterniert feststellen, haben wir diese Mitte in den Sommermonaten verlassen. Sie heute in der unüberschaubaren Situation einer zweiten Welle zu fordern, ist natürlich leichter gesagt als getan. Weshalb sich im Zweifelsfall eher die Regelbefolgung empfiehlt. Das hat überhaupt nichts mit Unterwerfung unter eine „Corona-Diktatur“ oder mit der Unmündigmachung des Bürgers zu tun, sondern mit dem Vermögen, eine Regelvorgabe aus Gründen der praktischen Vernunft zu akzeptieren.
Eine neue Mündigkeit
Solche Regeltreue entspricht nun gerade nicht jener „praktischen Vernunft“, wie sie Kant dem aufgeklärten Menschen diktierte. Diese beruht auf einer für alle geltenden kategorischen Regel, die nicht gebrochen werden soll. Nein, Regeln sind dazu da, befolgt und gebrochen zu werden. Wer Regeln einfach stur befolgt, gibt Verantwortung ab. Wer Regeln besonnen bricht, nimmt Verantwortung, ja, sogar Schuld auf sich. Dazu braucht es eine Vernunft, die ständig lernt, zivilen Gehorsam gegen Ungehorsam abzuwägen.
Wenn mich ein Angestellter am Eingang des Tierparks auffordert, die Maske zu tragen, dann wendet er sich an mich als an eine Person, welche die Einsicht hat, einer Regel zu gehorchen. Ich muss nicht, sondern ich kann, weil ich die Anwendungsumstände einsehe. Gewiss, das ist nicht immer so eindeutig der Fall. Eindeutig aber ist: Regeln gelten nur, weil man ihnen folgen wollen kann. Dieses Können ist ein Akt der Freiheit, weil man eine Wahl trifft – ein Zeichen der Mündigkeit. Jetzt haben wir Zeit, uns darin zu üben.