Zur Zeit des eben einsetzenden Kalten Krieges wurde es zum Gegenstand erbitterter Diskussionen unter Intellektuellen linker und rechter Observanz. Böswillig und infam sei es, argumentierten die einen, die Sowjetunion, die eben im Grossen Vaterländischen Krieg den deutschen Faschismus niedergerungen habe, derart zu diskriminieren. Erhellend und höchst verdienstvoll sei es, so urteilten die andern, endlich die Wahrheit über den menschenverachtenden Terrorismus der stalinistischen Diktatur ans Licht gebracht zu haben.
Arthur Koestler, der Autor des umstrittenen Bestsellers, war, als er an seinem Buch arbeitete, etwas über dreissig Jahre alt und hatte in seinen jungen Jahren mehr erlebt als gemeinhin ein volles Menschenalter zu fassen vermag. 1905 in Budapest als Sohn assimilierter Juden geboren, war Koestler vielseitig begabt und lernte mit Leichtigkeit: „Ich wurde rasch intelligenter“, schreibt er in seiner Autobiographie, „aber nur langsam verständiger.“ Ein Ingenieurstudium in Wien brach er kurz vor dem Abschluss ab, begeisterte sich für den Zionismus und reiste nach Israel. Er arbeitete in einem Kibbuz, versuchte sich als Architekt und führte das Kreuzworträtsel in die hebräische Sprache ein.
Im Zeppelin auf Arktis-Expedition
Zuerst Auslandkorrespondent verschiedener deutscher Zeitungen mit Sitz in Jerusalem, gelangte Koestler 1929 nach Paris, dann an den Hauptsitz der Ullstein-Presse in Berlin. Aufsehen erregte er, als er als wissenschaftlicher Redaktor auf einer Arktis-Expedition im Zeppelin mitflog. Er trat der Kommunistischen Partei bei, hielt sich längere Zeit in der Sowjetunion auf und erfuhr dort von der Machtübergabe an Hitler und vom Reichtagsbrand. „Ich war ein politischer Flüchtling geworden“, schreibt er in seiner Autobiographie, „und sollte es die nächsten dreizehn Jahre bleiben.“ Im Unterschied zu vielen westeuropäischen Russlandpilgern der zwanziger Jahre gewann Koestler einen bedrückenden Eindruck von der gesellschaftlichen Realität des Stalinismus. Er blieb aber gläubiger Kommunist und hatte Kontakt mit einer Reihe führender Persönlichkeiten der Parteihierarchie. Zu diesen gehörten Männer wie Michael Kolzow, Karl Radek und Nikolai Bucharin, Vertreter der alten revolutionären Garde, die alle Opfer des stalinistischen Terrors wurden.
Schauplatz: ein sowjetisches Gefängnis in Moskau
Auch im Spanischen Bürgerkrieg war Koestler dabei. Er berichtete als Korrespondent des Londoner „News Chronicle“, wurde von Franco zum Tode verurteilt und nach dreimonatiger Haft begnadigt. Darauf gelangte er nach Paris und arbeitete dort für eine Zeitung des kommunistischen Publizisten Willy Münzenberg. Nach Frankreichs Kriegserklärung an Deutschland wurde er erneut verhaftet und in Südfrankreich interniert. Wieder liess man ihn frei, und er gelangte, nachdem die Deutschen schon in Frankreich einmarschiert waren, mit viel Glück nach London. Aus der kommunistischen Partei trat Koestler aus, nachdem sich der russische Diktator im August 1939 mit dem deutschen Diktator im Hitler-Stalin-Pakt verbündet hatte.
Der Roman „Sonnenfinsternis“ ist das Produkt von Koestlers Erfahrungen und hätte ohne sie nie geschrieben werden können. Schauplatz des Geschehens ist ein sowjetisches Gefängnis in Moskau. Die Handlung spielt zur Zeit der grossen kommunistischen Säuberungen und Schauprozesse in den Jahren 1936-1938. Im Verlauf dieser „Säuberungen“ wurden weit über zweihunderttausend Sowjetbürger, führende Politiker und Militärs, aber auch arme Bauern und Arbeiter, als „antisowjetische Elemente“ verhaftet, im Schnellverfahren abgeurteilt und erschossen oder deportiert. Es steht heute fest, dass diese Vernichtungsaktion vom höchsten Machtorgan des Regimes, vom Politbüro, und vom obersten Repräsentanten von Partei und Staat, von Stalin, ausging. Ziel dieser „Säuberungen“ war es, Sowjetbürger, die von der offiziellen Parteilinie abwichen oder einen entsprechenden Verdacht geweckt hatten, unschädlich zu machen. Durch die Liquidation solcher „Abweichler“ hoffte Stalin noch den leisesten Widerspruch zum Schweigen zu bringen.
In qualvollen Verhören physisch und psychisch zermürbt
Die Hauptgestalt von Koestlers „Sonnenfinsternis“ heisst Nicolai Salmonowitsch Rubaschow. Er gehört der Elite der sowjetischen Revo-lutionäre an und hat im Bürgerkrieg gekämpft. Als Volkskommissar hat er mit gnadenloser Strenge die Linientreue kommunistischer Parteien im Ausland überwacht. Nun wird er selbst verhaftet, in eine Einzelzelle gesteckt und angeklagt, sich von bürgerlicher Gesinnung nicht gelöst, die Partei verraten und ein Attentat auf Stalin geplant zu haben. Rubaschow wird in qualvollen Verhören physisch und psychisch derart zermürbt, dass er sich schliesslich nicht nur in allen Anklagepunkten als schuldig bekennt, sondern auch selbst davon überzeugt ist, schuldig zu sein. Im öffentlichen Schauprozess legt er ein umfassendes Geständnis ab und wird von den Zuschauern verlacht. Dieses immer gleich ablaufende „Ritual der Liquidation“ wird durch Radio und Presse propagandistisch eingesetzt. Rubaschow geht in den Tod im Bewusstsein, der Partei mit seinem Sühneopfer einen letzten Dienst zu erweisen.
Das alles, das finstere Kerkerloch, der Seelenterror der Verhöre, die Selbstgespräche Rubaschows, der Gang zur Exekution, wird von Koestler in einer knappen, unterkühlten Sprache geschildert, die nicht die leiseste Anteilnahme verrät. So ungefähr, denkt man sich, beschreibt ein Forscher den Verlauf eines todbringenden Tierexperiments. Die Botschaft, die Koestlers Roman vermittelt ist die, dass der Kommunismus deshalb keine Chance hat, weil sein Menschenbild der Wirklichkeit nicht entspricht. Die kommunistische Ideologie, so Koestler, geht von einem uniformen und uniformierbaren Menschen aus, dessen Rolle durch den dialektischen Geschichtsverlauf vorgegeben ist. Was den Menschen ausmacht, seine Individualität, seine seelischen Bedürfnisse und geistigen Sehnsüchte, seine Bildungsfähigkeit wie seine Korrumpierbarkeit, fällt nicht in Betracht. „Die Tennismoral des Liberalismus“, sagt der Verhörrichter, „wird ersetzt durch die logische Konsequenz.“ Und: „Wir reissen der Menschheit die alte Haut vom Leibe und nähen sie in eine neue ein. Das ist kein Geschäft für schwache Nerven.“
"Die Freiheit des Geistes ist ein Menschenrecht"
Koestler hat Zeit seines Lebens gegen den totalitären Machtanspruch des Kommunismus angekämpft. Er gehörte zu den Organisatoren des „Kongresses für kulturelle Freiheit“, der 1950 in Berlin stattfand und führende Intellektuelle aus den USA und Europa versammelte. Ein Manifest, das er damals für die liberale Zeitschrift „Der Monat“ verfasste, beginnt mit dem Satz: „Wir halten es für eine axiomatische Wahrheit, dass die Freiheit des Geistes eines der unveräusser-lichen Menschenrechte ist“.
Über die Wirkung von Koestlers „Sonnenfinsternis“ lässt sich nur spekulieren. Vielen Lesern dürfte es ähnlich gegangen sein, wie dem französischen Historiker François Furet, der in seinem Lebensbe-richt schreibt: „Ich erinnere mich, um 1947 ‚Le Zéro et l’Infini‘ von Koestler mit Begeisterung gelesen zu haben, was mich nicht hinderte, wenig später der kommunistischen Partei beizutreten. Ich bewunderte, wie der Richter und der Angeklagte darin übereinstimmen, dem gleichen Zweck zu dienen – der erste als Henker und der zweite als Opfer.“
„Sonnenfinsternis“ ist Koestlers berühmtestes und wichtigstes Buch geblieben. In weiteren Werken hat er sich, vielfältig begabt, wie er war, den verschiedensten Gebieten zugewandt, der Psychologie und Parapsychologie, den Naturwissenschaften, der Astronomie. In seiner Art, mit seismographischer Empfindlichkeit auf Zeittendenzen zu reagieren, totalitäres Denken zu entlarven und unerschrocken Stellung zu beziehen, erscheint Koestler als der Idealtypus des Intellektuellen im 20. Jahrhundert.
Sein Privatleben freilich war, wie man bei den Biographen nachlesen kann, unstet und haltlos. Er war ein starker Raucher und Trinker, nahm Drogen, fuhr schnelle Autos, verführte unzählige Frauen. Gleichzeitig war er, wie einer seiner Freunde, der Schriftsteller Julian Barnes, schreibt, „grosszügig, gastfreundlich, lustig, lie-benswürdig und unendlich anregend“. Er liebte Hunde und die Natur, wandte sich gegen die Todesstrafe, trat für die Sterbehilfe ein. Als er 1983 durch Selbstmord aus dem Leben schied, nahm er seine weit jüngere Ehefrau in den Tod mit.
Das Ende der Sowjetunion hat Arthur Koestler nicht mehr erlebt. Aber die Krankheit, die zu diesem Ende führte, hat er in „Sonnenfinsternis“ ein halbes Jahrhundert zuvor richtig diagnostiziert.