In Ägypten hat die letzte Phase des Ringens um die Präsidentschaft begonnen. Viele Wähler und gerade die ausdrucksstäksten unter ihnen erklären sich enttäuscht über das bisherige Resultat. Sie sagen und schreiben, die Stichwahl stelle sie vor die Wahl zwischen Teufel und Beelzebub. Sie könnten sich weder mit dem konservativen Muslimbruder, Mohamed Morsi, solidarisieren, noch mit dem Ex-General und früheren Minister Mubaraks, Ahmed Schafik.
Eine enttäuschende Alternative
Viel lieber, so erklären sie, hätten sie die unterlegenen Kandidaten in der Stichwahl gesehen: den früheren Muslimbruder vom liberalen Flügel der Bruderschaft, Aboul-Futuh, den sozialistischen Aufsteiger Hamdi Sabbahi oder Kairos einstigen Ausssenminister Amr Moussa. Sich auf einen aus diesem Trio zu einigen, wäre allen Ägyptern viel leichter gefallen.
Die einfachen Ägypter haben für die beiden Ausscheidungskandidaten nicht besonders liebevolle Spitznamen gefunden; der ex-General ist ein "Überrest" aus der Zeit Hosni Mubaraks, und der Muslimbruder der"Ersatzreifen" der Bruderschaft. Er wurde aufgestellt, nachdem der "Reifen", Khairat al-Shatir, ein Loch bekam und seine Luft entwich, als die Wahlkommission ihn aussortierte.
Lockrufe an die Kritiker
Die Stimmen jener, die weder für den einen noch den anderen der beiden Kandidaten gestimmt haben und ihnen eigentlich nicht zustimmen möchten, machen rund die Hälfte der Wählerschaft aus. Die beiden verbleibenden Kandidaten wissen, dass sie nun die Stimmen jener benötigen, die sie eigentlich nicht unterstützen wollten. Sie sehen sich beide genötigt, über ihren eigenen Schatten zu springen.
Schafik gibt sich fortschrittlich
Ahmed Schafik, der inoffizielle Kandidat der Militärs, der Mann der Ordnung und der Mann Mubaraks, sagt nun, er sei beinahe ein Revolutionär, natürlich einer, der eine ordentliche Revolution anführen werde. Jedenfalls könne das Land sicher sein, er werde es zu neuen Horizonten führen. Die Epoche Mubaraks sei endgültig vorbei.
Schafik sah sich gezwungen, Erklärungen zu dementieren, welche die "New York Times" druckte. Das amerikanische Blatt wollte wissen, er habe am 15. Mai der Amerikanischen Handelskammer erklärt, er werde als Präsident innert eines Monats Ruhe und Ordnung schaffen, indem er brutal durchgreifen werde und Unruhestifter hinrichten lasse. Doch ein offizieller Sprecher seiner Kampagne erklärte nun, nachdem ägyptische Zeitungen die Geschichte aufgegriffen hatten, Schafik sei falsch verstanden und falsch übersetzt worden.
Der Muslimbruder erklärt sich liberal
Der Muslimbruder Mohamed Morsi versichert seinerseits, er trete an, um die Revolution zu retten. Er gedenke, ein pluralistisches und liberales Regime zu führen, falls er Präsident werde. Ihm liege daran, dass alle Ägypter, Vertreter aller Meinungen und Ideologien, zusammenarbeiten könnten. Morsi verspricht eine Koalitionsregierung; er erwäge die Möglichkeit, einen oder mehrere Vizepräsidenten zu ernennen, um Raum für anders Denkende zu schaffen. Er erklärt auch, als Präsident werde er nicht an die Weisungen der Obersten Führung der Muslimbrüder gebunden sein. Natürlich werde auch die – immer noch nicht zustande gekommene - Verfassungskommission Vertreter aller Schichten und Meinungsströmungen Ägyptens enthalten, neben ausgewiesenen Fachleuten.
Der erste Versuch, eine solche Verfassungskommission zu bilden, war fehlgeschlagen, weil alle anderen Politiker sich darüber beklagten, die Bruderschaft suche die Versammlung zu dominieren. Die wenigen Vertreter anderer Ausrichtungen, die gewählt worden waren, traten zurück, und die Gerichte annullierten die erste Versammlung.
Verhandlungen mit den Rivalen
Mohamed Morsi hat die wichtigsten der Präsidentschaftskandidaten, die nicht in die Stichwahl gelangt sind, zu Beratungen eingeladen. Er versucht offensichtlich, ihnen ein Mitspracherecht in der künftigen Politik zu versprechen, um im Austausch dafür die Stimmen ihrer Wähler für sich zu gewinnen. Doch Hamdin Sabbahi und Amr Mousa haben erklärt, sie wollten nicht mit ihm verhandeln.
Die Parteipolitiker jedoch, im Gegensatz zu den Präsidentschaftskandidaten, scheinen eher bereit, Verhandlungen aufzunehmen. Allerdings werden sie sich mit blossen Versprechen nicht begnügen. Sie wollen versuchen, bindende Zusagen zu erlangen. Abul-Futouh, der Ex-Muslimbruder, hat dazu aufgerufen, eine revolutionäre Front aus allen säkularen Gruppen und allen Freunden der Revolution zu bilden und geeint über sie Verhandlungen mit Morsi zu führen. Doch bisher ist es nie gelungen, alle säkularen oder auch nur alle Revolutionsformationen unter einen Hut zu bringen.
Glaubwürdige Zusagen der Muslim Brüder?
Die Muslimbrüder gelten als ziemlich skrupellose Taktierer. Diese Reputation wurde verstärkt durch den Umstand, dass sie während Jahren, vor und während der Revolution, immer wieder versprochen hatten, sie würden sich nicht um die ägyptische Präsidentschaft bewerben. Sie kamen jedoch am 31. März dieses Jahres, nach ihrem Sieg in den Parlamentswahlen, auf ihr Versprechen zurück und stellten dann gleich zwei Kandidaten auf, „den Reifen" Shatir und den "Ersatzreifen" Morsi.
Sie erklärten damals, sie müssten ihr Versprechen zurücknehmen, weil die Revolution gefährdet sei. Die Militärführung drohe sie abzuwürgen. Die Bruderschaft müsse daher die Präsidentschaft erlangen, um in der Lage zu sein, diesen Versuchen die Spitze zu brechen. Die Erklärungen waren nicht unglaubwürdig. Doch sie sind vergessen. Was den Ägyptern im Gedächtnis bleibt, ist der Wortbruch der Brüder. Er macht es nun ihrem Kandidaten schwer, glaubwürdige Versprechen abzugeben.
Welche Kompetenzen für den Präsidenten?
Bei aller Aufregung über die Stichwahl ist noch immer nicht klar, welche Vollmachten der zu wählende Präsident innehaben wird. Eine neue Verfassung gibt es nicht. Die Militärführung (SCAF) hat kurz vor dem Beginn der Präsidentenwahlen bekannt gegeben, sie werde noch vor Wahlbeginn eine provisorische Verfassung dekretieren, um das rechtliche Vakuum zu füllen. Doch dieser Schritt wurde nicht getan. Es gab Bedenken seitens der Justiz dagegen, weil die erste provisorische Verfassung, welche die Militärherrscher zu Beginn ihrer Machtübernahme formuliert hatten, im März 2011 durch ein Plebiszit abgesichert worden war. Die geplante Ergänzung dazu wäre es nicht gewesen.
Taktische Hintergrundspiele?
Vielleicht haben sich einige der Militärführer auch gesagt, es sei klüger abzuwarten, wer gewählt werde, bevor beschlossen werde, welche Vollmachten dem gewählten Präsidenten einzuräumen seien. Was allerdings auch nicht ganz aufgeht, weil die Militärherrscher sofort nach der Präsidentenwahl ihre Macht abgeben sollten. Ob dann noch Zeit für sie bleibt, um festzulegen, wie viel Macht jener ausüben soll, dem sie ihre Macht - wenigstens pro forma - übergeben?
Haben die Armeeoffiziere schon eingegriffen?
In diesen Zusammenhang gehört auch die Frage, ob die Militärs diesmal ihr Gewicht bei den Wahlen zur Geltung gebracht haben. Wenn dies wirklich geschehen sein sollte, muss es zu Gunsten von Schafik geschehen sein und könnte in der Stichwahl noch einmal für Schafik geschehen.
Hamdi Sabbahi, der sozialistische und "nasseristische" Kandidat, der in den beiden Grossstädten Alexandria und Kairo überraschend Mehrheiten gewonnen hat, erklärt offen, er sei der Ansicht, die Militärs hätten die Wahlen "gefälscht". Entgegen den gesetzlichen Vorschriften seien 900 000 ausgehobene Militärpflichtige an die Urne gegangen. Mit 700 000 Stimmen meh hätte Sabbahi aber Schafik überrundet.
Doch die Wahlkommission hat über die Stichwahl entschieden, und gegen ihre Entscheidungen gibt es keinen Rekurs vor den Gerichten.
Ein Gesetz gegen Schafik?
Schafik wird auch angefochten, weil das Parlament ein Gesetz verabschiedet hat, gemäss dem die Minister Hosni Mubaraks von den Wahlen ausgeschlossen würden. Das Verfassungsgericht muss dieser Tage entscheiden, ob dieses Gesetz gültig ist oder nicht. Die Militärs sind der Ansicht, nur sie könnten Gesetze verabschieden, solange sie die Macht inne hätten. Wenn das Gericht ihnen recht gibt, was am wahrscheinlichsten scheint, bleibt Schafik in der Stichwahl. Wenn es die Entscheidung vertagt, geschieht das Gleiche. Sollte es aber gegen die Ansicht der Militärführung befinden, schiede Schafik aus, und Sabbahi träte an seine Stelle. Dies würde noch einmal alle Wahlperspektiven entscheidend verändern.