Der Fundamentalismus ist eine intellektuelle Seuche, auf religiösem wie auf säkularem, zumal wissenschaftlichem Terrain. Diese übergreifende, «pandemische» Tendenz des Geistes legt die Frage nahe: Könnte sie einer gemeinsamen kognitiven Disposition entspringen, die das fundamentalistische Virus in sich trägt?
Nichts scheint mir einen Antwortversuch besser zu inspirieren als der Burckhardtsche Schimpfbegriff der «terribles simplificateurs», der «schrecklichen Vereinfacher». Ich gebe ihm einen zeitgemässen Klang: die «schrecklichen Vereindeutiger». Und ich konkretisiere sie hier kurz anhand von vier Typen: Orthodoxer, Verschwörungstheoretiker, Alleserklärer, Szientist.
Orthodoxer
Natürlich verknüpft man Eindeutigkeitsansprüche leicht und schnell mit dem religiösen Glauben. Die drei grossen monotheistischen Religionen sind Vehikel der Ambiguitätsverringerung. Sie beanspruchen, dass ihre Lehren von Gott selbst stammen. Und sie verlangen, dass alle Menschen diese Lehren akzeptieren. Es gibt eine Lehre. Die Logik der Offenbarungsreligion geht aufs Ganze; und wenn es ums Ganze geht, entscheidet keine neutrale Instanz, kein Drittes. Oder vielmehr: Dieses Dritte liegt ausserhalb menschlicher Reichweite, es ist der Gott, an den man glaubt. Ende der Debatte.
In dieser Haltung verharrt die Orthodoxie – sei sie christlich, jüdisch oder islamisch. Ein Glaube aber, für den alles Wissen bereits in einem geoffenbarten Text steht, kann keinen Fortschritt durch die Entfaltung der Neugier dulden. In seiner Logik gibt es nur die «richtige» Auslegung der heiligen Schrift. Alles andere ist bodenloser Irrtum. Und der gehört ausgerottet.
Ich sage damit wohlgemerkt nicht, dass die Religion nur schreckliche Vereindeutiger kennt. Tatsächlich gibt es in allen Religionen Freunde der Ambiguität. So betrachtete zum Beispiel der Korangelehrte Ibn al-Dschazari im 15. Jahrhundert die Deutungsoffenheit des Korans als Gnade Gottes. Das heilige Buch sei «ein gewaltiges Meer, in dem man nie auf Grund stösst und nie durch ein Ufer zum Halten gebracht wird». Eindeutigkeit im Verständnis erschien ihm weder möglich noch erstrebenswert. Das kennzeichnet meines Erachtens den wahren Glauben.
Verschwörungstheoretiker
Verschwörungstheorien sind die ersten Erklärungsversuche der Welt. Im mythischen Denken wimmelt es von Konspirationen der Götter und Dämonen. Heutige Verschwörungstheorien sind eine moderne Erscheinungsform des Mythos. Sie fragen wie «normale» Theorien: Warum geschieht das? Aber während «normalen» Theorien nach einem kausalen Zusammenhang fragen, fragt der Konspirationist nach einem intentionalen Zusammenhang: nicht «Was steckt dahinter?», sondern «Wer steckt dahinter?».
Anstelle verwickelter Verschränkungen von Ökonomie und Ökologie sehen Verschwörungstheoretiker Umweltübeltäter; anstelle veränderter demographischer Bedingungen sehen sie Betrüger als Ursache eines Wahlresultats; anstelle des eigenen ungesunden Essverhaltens sehen sie «Vergifter» in Agrikultur und Nahrungsmittelindustrie. Das Motto dieser Einäugigkeit: Erkläre nicht durch Ursache und Wirkung, was du genau so gut durch Absichten und Motive – meist böse – erklären kannst.
Im Gegensatz zur wissenschaftlichen Theorie richtet sich die Verschwörungstheorie nicht nach der Welt, sondern die Welt nach der Theorie. Für den Verschwörungstheoretiker sind alle Ereignisse oberflächliche Erscheinungen, sozusagen Pilze, die aus einem unterirdischen fabulösen Myzel schiessen. Verschwörungstheorien führen Monologe, in denen auch Widersprüche ihren Platz finden. Ein Verschwörungstheoretiker kann behaupten, dass Lady Di vom britischen Geheimdienst ermordet wurde und dass sie auf einer kleinen Insel im Pazifik haust. Deshalb nützt ein Appell an die Logik nicht. Die Logik lehrt uns: Ex falso quodlibet – aus einer Kontradiktion folgt alles Beliebige. Verschwörungsköche benützen dieses simple Rezept, um ihren mehr oder weniger giftigen Sud «logisch» zu brauen. Sie haben überdies ein probates Mittel im Umgang mit Gegnern. Man geht gar nicht auf Argumente ein, sondern stracks auf den Argumentierenden. Wer die Verschwörungserzählung in Frage stellt, gehört selbst zur Verschwörung.
Alleserklärer
Der Mensch ist das Tier, das die Warum-Frage stellt. Der Drang zum Erklären und Erzählen ist uns allen eigen. Die Dinge geschehen, aber wir können sie nicht einfach geschehen lassen. Wir fragen: Warum geschehen sie? Für uns Menschen gibt es «die» Welt, die einfach geschieht, nicht. Wir wollen in ihr immer Ursache, Zweck, Sinn sehen.
Der Alleserklärer weiss nicht alles zu erklären. Er ist vielmehr der Typus, der nichts unerklärt lassen kann und will. Der Gedanke ist ihm unerträglich, dass alles Geschehen letztlich chaotisch sein könnte. Auch wenn er die Erklärungen im Besonderen nicht kennt, ist er doch verschossen in die Idee der Erklärbarkeit der Welt. Selbstverständlich ist dies die Leitidee jeder Wissenschaft. Aber wir kennen das Einsteinsche Wort: «Das Unverständlichste am Universum ist im Grunde, dass wir es verstehen.» Wir können nicht erklären, warum wir die Dinge erklären können. Unsere Erklärungen hängen sozusagen in der Luft. Das beunruhigt, ja, ängstigt den Alleserklärer zutiefst. Eine Welt jenseits des Horizonts des Erklärbaren ist für ihn eine existenzielle Bedrohung. Wenn ihm etwas unerklärlich erscheint, neigt er trotzdem dazu, es in diesen Horizont hineinzuziehen, indem er Gründe oder Motive fingiert. Er hat dann zwar keine Erklärung, aber stellvertretend dafür eine Meinung.
Wissenschafter sind nicht Alleserklärer. Die intelligenten unter ihnen haben sogar ein klares Bewusstsein ihrer Erklärgrenzen. «Meiner Ansicht nach ist das Universum nicht nur sonderbarer als wir es uns vorstellen, sondern sonderbarer als wir es uns vorstellen können», schrieb der britische Biologe J. B. S. Haldane, ein Pionier der Populationsgenetik. Er meinte damit nicht, dass das Universum das Verständnis der Wissenschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt, sondern generell übersteigt. Er rückte so unseren kognitiven Apparat in den Fokus. Um etwas zu begreifen, muss man zunächst einen Begriff davon haben. Und um einen Begriff zu haben, braucht man einen hinreichend raffinierten kognitiven Apparat, der insbesondere Sprache ermöglicht. Nun ist dieser Apparat ja selber ein Produkt der Natur, und aus seiner Begrenztheit folgt auch die Begrenztheit der Naturerkenntnis. Alleserklärer sind Gehetzte eines nicht erfüllbaren Wunsches.
Szientist
Verwandt mit dem Alleserklärer ist der Szientist. Seine These: Für alles gibt es eine verbindliche Erklärungsgrundlage, die wissenschaftliche. Das war und ist das Motto der wissenschaftlichen «Entzauberung» von einstmals intentional erklärten Phänomenen. So sehen zum Beispiel gewisse Neurowissenschafter unser ganzes geistiges, intentionales Leben als Folge geistloser, nicht-intentionaler Gehirnvorgänge. Das Motto dieses verhirnenden Reduktionismus: Erkläre menschliches Handeln nicht durch Intentionen und Motive, wenn du es genau so gut durch Neurotransmitter und Hormone erklären kannst. Man sollte Szientisten nicht mit Wissenschaftern gleichsetzen. Im Grunde fehlt Szientisten die erkenntnistheoretische Bescheidenheit, wie sie in den Worten des Biologen Haldane zum Ausdruck kommt. Unbescheiden wirft der Szientist sich in die Positur des Letzterklärers, der «im Grunde» weiss, wie die Welt tickt. Erkennbar ist er an seiner Nichts-als-Parole: «Liebe ist nichts als Chemie», «Die Psyche nichts als ein Output von neuronalen Algorithmen», «Altruismus nichts als evolutionäre Vorteilssuche». Und wenn der Szientist damit lauthals populärwissenschaftlich hausieren geht, ist er nicht weit vom Scharlatan entfernt.
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Allen vier Typen ist der Hang zu einem eindeutigen Erklärungsfundament – zu einer «Wurzel» von allem – gemeinsam. Natürlich habe ich mich hier selber als «schrecklichen Vereinfacher» geoutet: Ich karikiere. Aber Karikaturen eigenen sich gerade durch ihre Überzeichnung gut, gewisse Charaktermerkmale deutlich herauszustreichen. Bei uns allen sind die Charaktermerkmale mehr oder weniger ausgeprägt vorhanden und damit die Disposition zum schrecklichen Vereindeutiger. Und eine Zeit der Ungewissheit wie die heutige ist ihnen wohlgewogen.