Fragen solchen Typs stellten die beiden Kognitionswissenschafter Frank Keil und Leon Rozenblit 1998 in einem Experiment, in dem sie herauszufinden suchten, wieviel wir tatsächlich verstehen, wenn wir glauben, wir verstünden etwas.
Selbstüberschätzung
Die Befragten wurden zuerst aufgefordert, ihren Wissensstand nach eigener Einschätzung auf einer Skala anzugeben. Danach mussten sie eine möglichst detaillierte, im Idealfall eine kausale Erklärung formulieren. Schliesslich hatten sie Gelegenheit zur Neubewertung ihres Wissensstands. Die meisten sahen sich zur Zurückstufung auf einen tieferen Rang der Skala gezwungen.
Das Ergebnis formulierten Keil und Rozenblit so: Wir glauben vieles zu wissen, aber wenn wir dieses Wissen explizieren sollen, sind wir dazu nur sehr mangelhaft in der Lage. Wir wiegen uns in einer „Illusion der erklärenden Tiefe“.
Die Ignoranz der Ignoranz
Das erinnert an einen klassischen Philosophen, der die Illusion zu zerschlagen suchte. In Platons „Apologie des Sokrates“ spricht die Figur Sokrates von einem „weisen Staatsmann“, der ihm weise vorzukommen schien, es aber nicht war:
„Darauf nun versuchte ich ihm zu zeigen, er glaubte zwar weise zu sein, wäre es aber nicht, wodurch ich dann ihm selbst verhasst ward und vielen der Anwesenden. Indem ich also fortging, gedachte ich bei mir selbst: weiser als dieser Mann bin ich nun freilich. Denn es mag wohl eben keiner von uns beiden etwas Tüchtiges oder Sonderliches wissen; allein dieser doch meint zu wissen, da er nicht weiss, ich aber, wie ich eben nicht weiss, so meine ich es auch nicht. Ich scheine also um dieses wenige doch weiser zu sein als er, dass ich, was ich nicht weiss, auch nicht glaube zu wissen.“
Sokrates argumentiert raffiniert. Er geht vom Gleichstand der Ignoranz aus. Aber er ist um ein „Weniges“ weiser als der andere. Der andere weiss nicht, dass er nicht weiss. Nennen wir dieses Phänomen die Ignoranz der Ignoranz.
Politisches Bescheidwissen
2013 gab ein anderes Team von Kognitionswissenschaftern – Steven Sloman, Philip Fernbach et. al. – dem Experiment von Keil und Rozenblit einen neuen Schwenk. Sie befragten Probanden nicht über Technik und Wissenschaft, sondern über Politik – zum Beispiel über den Emissionshandel von Treibhausgasen. Auch hier beobachteten sie eine Herabstufung des Kenntnisstandes bei den meisten Befragten. Dieses Eingeständnis führte im Besonderen dazu, dass viele Probanden eine anfängliche Extremhaltung durch den Test zu einer moderateren Haltung abschwächten. (1)
Das leuchtet ein. Das Erklären eines politischen Mechanismus wie etwa des Emissionshandels kann zur Einsicht in die Begrenztheit eigener Kenntnis führen. Aufschlussreich ist nun aber die Variante von Sloman und Fernbach. In einem zweiten Experiment stellten sie die Probanden vor die Aufgabe, nicht eine Politik und ihre Folgen zu erklären, sondern ihre eigene Position zu dieser Politik zu begründen.
Das Resultat unterschied sich deutlich vom ersten. Die Befragten stuften sich nun in ihrer Beurteilung keineswegs herunter, wurden nicht moderater. Seine eigenen Gründe für die Position zu einer Politik zu nennen, ist viel leichter als die detaillierte Erklärung dieser Politik und ihrer Folgen. Wer versteht schon den vertrackten Emissionshandel, wer kennt schon seine Konsequenzen? Aber persönliche Gründe für oder dagegen lassen sich vertreten, ohne dass man viel versteht.
Beschränktheit ohne Massstab
Sich mit einer Politik und ihren Folgen zu beschäftigen, ist ein höchst frustrierendes Unterfangen. Es macht Löcher in unserem Wissen sichtbar. Begründungen und Rechtfertigungen der eigenen Position dagegen stopfen tendenziell diese Löcher. Die Welt ist uns gegenüber nicht sehr taktvoll. Wenn sie uns zeigt, dass unsere Erklärungen löcherig sind, reagieren wir auf zwei entgegengesetzte Weisen, in der lernenden und in der abwehrenden.
Im ersten Fall werden wir sozusagen aus dem persönlichen Zentrum unserer Meinungswelt gerissen: verunsichert. Im zweiten Fall sichern wir dieses Zentrum, indem wir persönliche Gründe zu seiner Befestigung suchen. Die Entwicklungspsychologie beschreibt das Abrücken von der Ich-Perspektive als intellektuellen Reifeprozess des Menschen. Demnach wäre die zweite Reaktion – die Zentrierung auf die Person – eine Umkehr des Reifwerdens.
Die Social Media verstärken diese Umkehr. Das Internet hat keinen Mittelpunkt; deshalb kann jeder Punkt darin potenziell Mittelpunkt sein. Man kann sich wie in einem Spiegelkabinett einrichten, das man für die Welt hält. Eine Aussenperspektive als Korrektiv zur Ich-Perspektive existiert kaum mehr. Man sieht alles auf sich hin orientiert. Man wird buchstäblich beschränkt, nur dass ein Massstab zum Aufzeigen dieser Beschränktheit fehlt. Das Risiko, dass wir uns auf diese Weise intellektuell und emotional zurückbilden, ist nicht zu unterschätzen. Man kann Extremismus und Brutalismus der Meinungsbildung durchaus als Anzeichen für diese retrograde Entwicklung sehen.
Werten statt Verstehen
Ignoranz lässt sich auch gut hinter Werthaltungen verbergen. Eine Werthaltung dispensiert einen oft von einem genaueren Nachforschen. Das hat der Moralpsychologe Jonathan Haidt mit einem Szenario demonstriert. Darin beschreibt er den inzestuösen Akt von Julie und Mark, Schwester und Bruder im geschlechtsreifen Alter. Die meisten Leute reagieren darauf moralisch empört. Als Grund der Empörung nennen sie in der Regel Tabubruch, und ein Tabubruch ist per se falsch. Mehr braucht man eigentlich nicht zu sagen.
Aber was genau ist daran falsch? Haidt konstruiert sein Szenario geschickt so, dass er möglichen Begründungen a priori den Boden entzieht. Julie nimmt die Pille, Mark benützt ein Kondom. Negative psychische Folgen zeichnen sich nicht ab für die Geschwister. Sie verhüten beide, das Problem geschädigten inzestuösen Erbguts erübrigt sich also. Ihr intimes Abenteuer wirkt sich auch nicht sozial aus, besteht doch die Übereinkunft, es als ihr Geheimnis zu wahren.
Kurz, welche „objektiven“ Gründe wir auch für unsere Ablehnung anführen, sie sind letzlich nicht stichhaltig – ausser dass sie unserem subjektiven sprachlosen Moralempfinden oder einem soziokulturellen Comment den Schein der Allgemeingültigkeit verleihen. Wir reagieren viszeral, aus dem Bauch, nicht rational, aus dem Kopf heraus. Wertedebatten verdrängen die oft peniblen und langweiligen Analysen über Folgen und Kosten von Entscheidungen und Haltungen, indem sie sie in die Frage transformieren: Gut oder schlecht? Er ist ein Banker: schlecht; sie ist eine Gewerkschafterin: gut; er ist für die EU: gut; sie ist gegen die EU: schlecht. Und niemand wird dabei aus der komfortablen Illusion der erklärenden Tiefe gerissen.
„L’ illusion est le premier plaisir“
Als Kollektiv wissen wir immer mehr über die Welt, aber als Individuen wissen wir immer weniger. Die Welt ist grenzenlos komplex, und es erscheint schon schwierig genug, sich nur auf einem Gebiet als Experte hervorzutun. Hinzu kommt, dass jemandem zu erklären, er lebe in einer Wissensillusion, eine heikle Mission darstellt. Es entbehrt nicht der Ironie, wenn Sloman und Fernbach zugeben, sich selber in der Illusion zu wiegen, die Illusion des Verstehens zerschlagen zu können. Sie machten sogar die gleiche Erfahrung wie ehedem Sokrates: Einige Probanden weigerten sich, noch mit ihnen zu reden. „Wir hatten gehofft, die Zerschlagung der Illusion des Verstehens würde die Leute neugieriger und offener für weitere Informationen über das vorgelegte Thema machen. Wir fanden das Gegenteil heraus. Wenn die Befragten feststellten, dass sie falsch liegen, neigten sie dazu, sich weniger zu informieren.“
Wir sind also wieder auf Feld eins, bei Sokrates. Die Illusion des Verstehens ist uns viel zu lieb, als dass wir sie mir nichts dir nichts verabschieden. Oder mit Voltaire gesprochen: „L’ illusion est le premier plaisir“ (La Pucelle d’ Orléans). Das könnte freilich in einen Teufelskreis führen – wenn das nicht ohnehin schon passiert ist.
(1) Dieser Artikel ist inspiriert vom jüngst erschienenen Buch; Steven Sloman & Philip Fernbach: The Knowledge Illusion, New York, 2017.