Die beträchtliche Zunahme der Wohnbevölkerung in der Schweiz - schon sind wir acht Millionen – ist in der Tat eine Belastungsprobe für das System Schweiz. Immer mehr Menschen sind der Meinung, die Einwanderung könne nicht endlos in diesem Ausmass fortdauern. Als Wundermittel will die SVP die Zahl der Einwanderer kontingentieren; das soll die Zuwanderung auch aus den Staaten der Europäischen Union (EU) bremsen. Es handelt sich hier um ein altbekanntes Mittel, aber hat es sich auch bewährt?
Trotz Kontingenten Anstieg
Die Begrenzung wurde bereits 1963 eingeführt und danach wiederholt verschärft: 1964 verordnete der Bundesrat eine betriebsweise Reduktion der ausländischen Arbeitskräfte um 5 Prozent - ohne Erfolg. Im Vorfeld der Abstimmung über die Schwarzenbachinitiative beschloss der Bundesrat 1970 die Stabilisierung der Zahl der ausländischen Erwerbstätigen. Er setzte fürs ganze Land eine jährliche Höchstzahl fest und teilte jedem Kanton ein Kontingent für neue Bewilligungen zu.
Die Wirkung war bescheiden. Erst die weltweiten Erdölkrise brachte die Wende: Zwischen 1975 und 1977 gingen über 200’000 Arbeitsplätze verloren, und von 1970 bis 1978 sank die ausländische Bevölkerung um 220’000 Personen auf rund 900’000. Die Lehre, die daraus zu ziehen ist: Solange die Wirtschaft wächst, vermögen auch Kontingente die Einwanderung nicht wirksam zu bremsen. Diese Einsicht hatte der Bundesrat bereits 1965 einer Nationalratskommission mitgeteilt. Trotz Kontingenten nahm die Zuwanderung während des Aufschwungs in den 80er Jahren erneut stark zu.
Hat die SVP nichts gelernt?
Es ist erstaunlich, dass SVP-Politiker wie Christoph Blocher und Adrian Amstutz uns weis machen wollen, Kontingente würden die Einwanderung fühlbar bremsen. Seit über 60 Jahren ist die Ausländerpolitik in der Schweiz stets auf die Bedürfnisse der Wirtschaft ausgerichtet, und damit ist auch die SVP einverstanden. Ihre Volksinitiative enthält keine Höchstzahl, und die SVP-Spitzenvertreter betonten selber, die Kontingente wären so zu bemessen, dass die Wirtschaft die benötigten ausländischen Arbeitskräfte erhält. Auf diese Weise kann die von der SVP beklagte Masseneinwanderung aber kaum gebremst werden.
Die Initianten greifen deshalb zu einem Trick, um ihr Ziel doch zu erreichen. Sie wollen die Kurzaufenthalter fördern – eine Art Wiederbelebung des Saisonnier-Statuts - und ganz allgemein den Familiennachzug erschweren. Doch jede Person hat gemäss Artikel 14 unserer Bundesverfassung das Recht auf Familie. Ein verheirateter Ingenieur, sei er aus Deutschland oder Italien, würde kaum bereit sein, unter der Bedingung, sich von der Familie zu trennen, in der Schweiz zu arbeiten. In diesem Bereich würde die Schweiz bei den von der SVP geforderten Neuverhandlungen bei der EU auf Granit beissen.
Beschönigung der Bundesbehörden ist unklug
Weiter würden laut Initiative nicht nur die Grenzgänger in das Kontingent einbezogen, sondern auch „der Asylsektor“. Dass Grenzgänger mitgezählt werden sollen, wäre wohl vertretbar. Doch widerspräche es jeder Logik und dem Sinn des politischen Asyls, wenn auch verfolgte Menschen, die Schutz bei uns suchen, einem jährlichen Gesamtkontingent angerechnet werden müssten. Asylgesuche hängen von Diktatoren und Kriegen ab; ihre Zahl kann sehr hoch sein, wie während der Kriege im ehemaligen Jugoslawien, aber auch niedrig wie Anfang des 21. Jahrhunderts.
Dass viele Schweizerinnen und Schweizer besorgt sind, weil in den letzten Jahren die ausländische Bevölkerung um rund 70’000 Personen pro Jahr anwuchs, ist verständlich. Neben den von der Mehrheit anerkannten Vorteilen der Personenfreizügigkeit mit den EU-Staaten sind auch negative Auswirkungen sichtbar, die vom Bundesrat heruntergespielt werden, zum Beispiel der Lohndruck. Das gilt besonders für die Grenzgebiete und den Ersatz von in der Schweiz ansässigem Personal durch jüngere, billigere Arbeitskräfte aus dem Ausland. Die behördliche Beschönigung ist auch deshalb unklug, weil die bilateralen Abkommen mit der EU, die durch ein Ja zur SVP-Initiative stark gefährdet wären, für die Schweiz insgesamt vorteilhaft sind.
SVP will bremsen und gibt gleichzeitig Gas
Die SVP verschreibt der Schweiz nicht nur das falsche Rezept, um den starken Zufluss von Einwanderern zu begrenzen. Viele ihrer Politiker fördern gleichzeitig das Wachstum der Schweizer Wirtschaft, was ein zusätzliches Bedürfnis nach ausländischen Arbeitskräften auslöst. Das lässt den Schluss zu, dass die SVP-Initiative das Resultat einer widersprüchlichen und scheinheiligen Politik ist:
SVP-Politiker sind an vorderster Front daran beteiligt, in den Kantonen und beim Bund Steuern zu senken, mit dem ausdrücklichen Ziel, reiche Ausländer und ausländische Unternehmen anzuziehen, welche auch Personal, oft ausländisches, rekrutieren müssen.
Welche Schweiz wollen wir?
Die SVP ist gegen flankierende Massnahmen, welche die einheimischen Arbeitnehmer besser dagegen schützen, dass sie – vor allem ab 50 – durch jüngere und billigere Einwanderer ersetzt werden. Dieses Phänomen macht besonders auch Grenzkantonen wie Tessin und Genf zu schaffen. Dass sich die SVP nicht für einen besseren Schutz der Einheimischen vor Dumpinglöhnen einsetzt, hat einen einleuchtenden Grund: Werden die Nachteile der Freizügigkeit gut abgefedert, sinkt der Unmut in der Bevölkerung und damit die Erfolgsaussichten ihrer Volksinitiative.
Wollen wir erreichen, dass in den nächsten Jahren weniger Menschen in die Schweiz einwandern, müssen wir das Wachstum der Wirtschaft mässigen. Es stellt sich die Frage: Welche Schweiz wollen wir? Das ist Teil der grossen Debatte, die durch die Volksinitiative ins Rollen gebracht wurde. Nach dem erwünschten Nein am 9. Februar darf sie nicht beiseite geschoben werden. Zu dieser Diskussion gehört auch die Frage: Wie sind die Auswirkungen einer offenen Schweiz mit den Interessen der Bevölkerung am besten zu vereinbaren.