Timothy Snyder ist einer der international bekanntesten Historiker. In seinem neuesten Buch macht er sich auf, die Freiheit noch einmal ganz neu zu denken und zu erkunden. Sein Weg führt ihn von persönlichen Eindrücken und Erfahrungen über zahlreiche Begegnungen mit herausragenden Persönlichkeiten bis zu sarkastischen Einschätzungen gegenwärtiger politischer Tendenzen.
Es ist ein merkwürdiges Phänomen, dass sich Unfreiheit leichter veranschaulichen lässt als Freiheit. Die Ketten der Sklaven, die Mauern von Gefängnissen, militärischer Zwang oder auch die blanke Not materieller Entbehrungen oder prekärer Wohnverhältnisse sprechen eine Sprache, die jeder versteht. Entsprechend liegt der Gedanke nahe, dass es gilt, diese Zwänge zu beseitigen, um die Freiheit durchzusetzen.
Die Fallstricke
Aber damit stellt sich die Freiheit nicht automatisch ein. Gerade die Geschichte des 20. Jahrhunderts lehrt, wie zum Beispiel aus sozialistischen Freiheitsbewegungen Tyranneien entstanden oder wie sich innerhalb von kapitalistischen Märkten Machtkonzentrationen ergeben, die nicht zuletzt die politischen Institutionen von Rechtsstaaten unterhöhlen. Die USA bieten dafür ein aktuelles und warnendes Beispiel.
In seinem neuen Buch «Über Freiheit» geht der amerikanische Historiker Timothy Snyder auf diese eigentümliche Dynamik ein und benutzt dazu eine Unterscheidung, die der Oxforder Historiker Isaiah Berlin 1958 in einer Vorlesung erstmals vornahm. Isaiah Berlin sprach von negativer und positiver Freiheit: «Freiheit wovon» und «Freiheit wozu». Diese Unterscheidung wirkt auf den ersten Blick trivial, aber Timothy Snyder zeigt in seinem umfangreichen Buch, dass darin Fallstricke liegen, über die unsere Gesellschaften bis heute stolpern.
Klima der Freiheit?
Die wohl dramatischste Fehleinschätzung des vergangenen Jahrhunderts, der die meisten Politiker und politischen Theoretiker ab 1989 erlegen sind, hängt mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion zusammen. Das Hindernis der kommunistischen Diktatur mit seiner kollektivistischen Wirtschaft war beseitigt, also, so die Annahme, müsse nun quasi automatisch eine Hinwendung zum Westen mit seinen freien Gesellschaften und der Marktwirtschaft erfolgen. Dass dies nicht geschah, hängt mit dem zusammen, was Timothy Snyder in Anlehnung an Isaiah Berlin «positive Freiheit» nennt. Zur positiven Freiheit gehören Visionen, Leitbilder, institutionelle Leitplanken, die es ermöglichen, Wege einzuschlagen, die tatsächlich in die Freiheit führen. Die aber fehlten vollkommen. Statt dessen kam Putin. Der Westen hatte sich geirrt, als er meinte, mit der Abschaffung des Kommunismus sei das Spiel schon entschieden. Anders, als der Westen annahm, gibt es keinen Determinismus, der vom Privateigentum direkt in die Freiheit führt.
Was aber muss geschehen, damit sich ein Klima der positiven Freiheit herausbildet? Die Antwort ist höchst komplex. Es sind einzelne Menschen, die mit ihren Lebensentwürfen, ihrem Mut und ihren Entscheidungen Wege gehen, die andere ermutigen und positiv beeinflussen. Timothy Snyder hat zahllose Reisen in die östlichen Länder unternommen, beherrscht zum Teil ihre Sprachen und hat Freundschaften geschlossen. Die derzeit herausragendste ist wohl die mit Wolodymyr Selenskyj, der unter Einsatz seiner «positiven Freiheit» den Mut aufbrachte, nach dem russischen Angriff entgegen dem Rat der Amerikaner, Kiew sofort zu verlassen, standhielt und damit auch seinen «Leib» zur Verteidigung der Freiheit einsetzte.
Persönliche Erfahrungen
Die persönlichen Begegnungen sind für Timothy Snyder von grösster Bedeutung, und darin ähnelt er Timothy Garton Ash, der in Oxford seine Doktorarbeit – zusammen mit Jerzy Jedlicky – betreute. Timothy Garton Ash ist der mit Abstand bedeutendste Zeitzeuge des Umbruchs im Osten seit den 1980er Jahren, als sich im Westen noch kein Mensch für die dortige Opposition interessierte. Bis heute sind seine Berichte packend und lesenswert. Auch die Bücher von Snyder wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Sein neues Buch unterscheidet sich von den früheren allerdings durch seine starke Subjektivität. Snyder unternimmt den Versuch, anhand seiner ganz persönlichen Erfahrungen, die mit der Kindheit beginnen, und seinen zahlreichen Beobachtungen und Begegnungen die verschiedenen Facetten der positiven Freiheit aufzufächern. Einerseits wirkt das faszinierend, weil sich darin immer wieder regelrechte Perlen finden. Auf der anderen Seite wird die Lektüre mühsam, weil seine Assoziationen allzu beliebig wirken. Er springt von Vaclav Havel zu Sokrates, von der Umweltproblematik zur Kernfusion, für die er sich mehr Förderung wünscht. Und es gibt allzu viele Wiederholungen.
Nun ist dieses Buch sein zweiter Anlauf, um dem Thema der Freiheit auf persönlicher Ebene auf die Spur zu kommen. Ursprünglich hatte er dieses Buch «als eine Art dichtes philosophisches Gedicht geplant». Zwei «frühe Leserinnen» überzeugten ihn aber davon, dass dieser Versuch misslungen war. Das jetzige Buch wurde einem breiten Diskussionsprozess ausgesetzt, an dem unter anderem auch Insassen von amerikanischen Haftanstalten beteiligt waren. Und es scheint so zu sein, dass es zahlreiche Leser gibt, die sich an der Weitschweifigkeit und den Redundanzen nicht stören.
Über Tyrannei
Gleichwohl sollte man zum Vergleich seinen im Jahr 2017 erschienen Weltbestseller «Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand» heranziehen. Dieses Buch liest sich, als wäre es gerade jetzt geschrieben worden, und es ist so eindringlich, dass man es wiederholt zur Hand nehmen wird.
Unter Imperativen wie dem ersten: «Leiste keinen vorauseilenden Gehorsam» finden sich jeweils ein paar Merksätze und es folgen äusserst kurze und präzise Erläuterungen, die mit dem Naziterror, den Verbrechen des Kommunismus und der gegenwärtigen Verwüstung der politischen Kultur Amerikas durch Donald Trump zu tun haben.
Und die 9. Lektion «Sei freundlich zu unserer Sprache» enthält in den Erläuterungen eine Beobachtung, die nicht neu, aber immer noch bedrängend ist. «Das Bemühen, die Gestalt und die Bedeutung von Ereignissen zu bestimmen, erfordert Wörter und Begriffe, die uns entgleiten, wenn wir in den Bann visueller Reize geraten. Wenn man sich Fernsehnachrichten anschaut, ist es mitunter so, als würde man jemandem zuschauen, der ebenfalls auf ein Bild starrt. Wir halten diesen kollektiven Trancezustand für normal. Wir sind langsam in ihn verfallen.» Besser kann man es nicht sagen.
Timothy Snyder: Über Freiheit. 410 Seiten. C. H.Beck, September 2024, 29,90 Euro
Timothy Snyder: Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand. 127 Seiten. C. H. Beck, 9. Auflage September 2024, 12 Euro