Der rechtspopulistischen italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni geht es gut. Eben hat sie bei den Europawahlen ein Spitzenergebnis erzielt. Eben auch steht sie beim G7-Gipfel in Süditalien strahlend im internationalen Scheinwerferlicht und wird von Staats- und Regierungschefs verehrt und geküsst. Und dennoch ...
Nichts scheint sie falsch zu machen. Die ausländische Presse lobt sie. Sie wird als «Königsmacherin» im Europaparlament bezeichnet. Auch die internationale Politik rollt ihr den roten Teppich aus. Joe Biden hat im Weissen Haus ihr blondes Haar geküsst, Ursula von der Leyen und Charles Michel hören nicht auf, sie zu umarmen. Kaum ein Minister oder Regierungschef lässt es sich entgehen, zusammen mit einer lächelnden Meloni fotografiert zu werden.
Und jetzt der G7-Gipfel im süditalienischen Borgo Egnazia, einem der luxuriösesten Hotelkomplexe in Apulien – gelegen zwischen Bari und Brindisi mit den touristischen Hotspots Fasano, Alberobello und Ostuni in der Nähe. Hier, in einer Absteige der Superreichen, empfängt nun Meloni die ganz Grossen dieser Welt: den amerikanischen und französischen Präsidenten, den britischen, kanadischen und japanischen Premierminister, den deutschen Kanzler.
Stolz auf Meloni
Viele Italiener sind stolz darauf. Dank Meloni gilt Italien wieder etwas in der Welt. Es war Zeit. Viele Italiener und Italienerinnen litten unter dem schlechten Ruf, den das Land jahrelang im Ausland hatte. Eine Führungsrolle hatte Italien schon längst nicht mehr. Während Jahren, vor allem während der langen Berlusconi-Zeit, wurde das Belpaese international kaum mehr ernst genommen. Man entrüstete oder mokierte sich über Berlusconis Frauengeschichten, über seine rüden Macho-Sprüche – und wies darauf hin, dass es dem Land wirtschaftlich immer schlechter ging: mit einer Staatsverschuldung von 3’500 Milliarden Euro. «Wir wissen», sagten viele Italiener und Italienerinnen, «dass man im Ausland über uns spottet.»
Jetzt also wird dieses Land rehabilitiert und mit grossem Pomp wieder in die internationale Familie aufgenommen. «Wir sind wieder wer», heisst es da und dort. All das ist Balsam auf die lange Zeit geschundene italienische Volksseele.
Giorgia, wie man sie in Italien nennt, und wie sie sich selbst vorstellt, strahlt. Sie strahlt unaufhörlich. Sie fühlt sich als Fels in der Brandung. Ohne sie geht im Moment gar nichts. Sie scheint fest im Sattel zu sein, überlegen, clever, ehrgeizig, zäh, angehimmelt. Immer mehr neugeborene Mädchen werden in Italien Giorgia genannt.
Ja, clever ist sie. Ihre grösste Leistung ist es, dass sie sich klipp und klar auf die Seite des Westens gestellt hat. Sie unterstützt die Ukraine tatkräftig und verurteilt Putin scharf. Sie hat sich ins westliche Establishment eingenistet. Das war mutig, denn gerade in der rechtspopulistischen Fauna, aus der sie stammt, gibt es viele Putin-Bewunderer und Kriegsgegner. Belohnt wurde ihre Haltung mit der Aufnahme in den Brüsseler EU-Schoss, garniert mit einem EU-Aufbaukredit von sage und schreibe 200 Milliarden Euro.
Innenpolitisch eine Null-Nummer
Doch ganz so fest sitzt sie denn doch nicht im Sattel. Zwar brilliert sie aussenpolitisch, doch innenpolitisch ist sie bisher eine Null-Nummer. Die aussenpolitischen Erfolge verdecken, dass sie innenpolitisch fast gar nichts erreicht hat.
Ihre Innenpolitik besteht darin, ja nichts falsch zu machen, ja nicht anzustossen. Wird es da und dort brenzlig, zieht sie sich ins Schneckenhaus zurück und sagt … einfach mal gar nichts. Aussitzen heisst die Devise – und zum nächsten Termin ins Ausland reisen.
Beginnendes Murren
Es gäbe in Italien weiss Gott viel Grundlegendes anzugehen und zu verbessern. Doch ausser schönen Absichtserklärungen geschah bisher kaum etwas. Natürlich kann man nicht erwarten, dass Meloni das geschundene Land in anderthalb Jahren in ein Paradies verwandelt, aber erste Ansätze zur Besserung wären doch angezeigt. Doch anstatt Lösungen auszuarbeiten herrscht auf vielen Gebieten nach wie vor das legendäre italienische Gewurstel.
Da und dort beginnen die Leute zu murren. Es sei ja toll, wenn die Regierungschefin im Weissen Haus geküsst werde, aber die horrend steigenden Lebenshaltungskosten seien eben nicht so toll, heisst es. Italien ist unter Meloni, das werden die Touristen diesen Sommer feststellen, sehr viel teurer geworden.
Bei den Europawahlen am vergangenen Sonntag haben Melonis «Fratelli d’Italia» 28,8 Prozent der Stimmen erhalten. Das ist im Vergleich zu vor fünf Jahren ein Plus von genau 20 Prozent. Doch das ist nicht allein Meloni zuzuschreiben. Hauptgrund für diesen fast phänomenalen Zuwachs ist der Zusammenbruch der «Lega» von Matteo Salvini – einer Putin-freundlichen, Ukraine-kritischen Partei, die noch weiter rechts steht als die Fratelli d’Italia. Meloni gelang es, einen grossen Teil der Salvini-Wählerschaft aufzusaugen. Während die Ministerpräsidentin 20 Prozent gewann, verlor Salvini 25 Prozent. Unter dem Strich hat also das Rechtsaussen-Lager nichts gewonnen.
Mojito-Partys bei Sonnenuntergang
Salvini könnte nach Angaben gut informierter Beobachter in Rom eine Gefahr für Meloni werden. Die Ministerpräsidentin regiert mit einer Dreierkoalition: mit ihren Fratelli, mit Salvinis Lega und mit der Ex-Berlusconi-Partei «Forza Italia». Zusammen kommen diese drei Parteien auf eine komfortable Mehrheit im 400 Mitglieder zählenden Parlament (Camera dei deputati). Würde aber die Lega sich zurückziehen, hätte Meloni keine Mehrheit mehr.
Matteo Salvini hatte bei den Europawahlen vor fünf Jahren über 34 Prozent der Stimmen erhalten. Dieser Erdrutschsieg machte ihn übermütig. 2019 war der Sommer von Matteo Salvini. Er zeigte sich mit offener Brust, braungebrannt, mit Goldkette am Strand von Milano Marittima an der Adria, umschwärmt von schönen Frauen und internationalen Kamerateams: Mojito-Partys bei Sonnenuntergang im Beach Club. Er hatte alle Chancen, Regierungschef und «Capitano von Italien» zu werden. Daraus wurde nichts, dank eines weisen Manövers des Staatspräsidenten.
Damoklesschwert
Der Sommer 2019 ist weit weg. Jetzt, im Sommer 2024, ist Salvini zur kleinen Nummer geschrumpft. Er tobt, provoziert, schlägt um sich und beleidigt. Doch nichts will ihm mehr gelingen. Meloni hat ihn an die Wand gespielt. Er weiss, dass er sich von der Regierungschefin lösen müsste, um nicht noch weiter an Zuspruch zu verlieren. Als fünftes Rad am Wagen geht er unter. Er muss sich neu profilieren – und das kann er nur im Alleingang, in der Opposition.
Meloni hat ihm das Amt des stellvertretenden Regierungschefs übergeben. Meloni hofft, dass er dieses wichtige Amt behalten will. So hat sie ihn kaltgestellt – und er hat kaum etwas auszurichten. Doch wenn er sich dann doch zum Alleingang und zur Neuprofilierung gezwungen sieht, was einige in Rom nicht ausschliessen, kann Meloni wegen fehlender Mehrheit im Parlament nicht mehr wie bisher regieren. Diese Möglichkeit schwebt seit Monaten wie ein Damoklesschwert über ihrer Regierung.
Ungeduldig, unberechenbar
Eine andere Gefahr für Meloni lauert seit dem letzten Wochenende. Die italienischen Wähler und Wählerinnen, das zeigt die Erfahrung, sind unberechenbar und ungeduldig. Sie wechseln recht schnell das Hemd und lassen ihre einstigen Idole ebenso schnell fallen. Dann vor allem, wenn die Regierung nicht schnell konkrete Resultate vorweist und etwas zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Wählerinnen und Wähler beiträgt. Von einer solchen Verbesserung sind die meisten weit entfernt.
Am vergangenen Sonntag hat nun der sozialdemokratische Partito Democratico (PD) – zum Erstaunen fast aller – stark zugelegt. Seit langem dümpelten die Sozialdemokraten zwischen 15 und 20 Prozent dahin. Viele Jahre liegen zurück, als Matteo Renzi (der damals ein Sozialdemokrat war) über 40 Prozent der Stimmen erhielt. Doch dann begann der Niedergang. Wichtige linke Hochburgen gingen verloren. Die Linke reihte Niederlage an Niederlage.
Hoffen auf eine Trendwende
Vor 15 Monaten war die jetzt 39-jährige Elly Schlein zur neuen Parteivorsitzenden des Partito Democratico gewählt worden. Schlein, die das schweizerische, italienische und amerikanische Bürgerrecht hat, war in Lugano zur Schule gegangen und rückte die Partei wieder mehr nach links. Der Erfolg blieb zunächst aus. Schon gab es Stimmen innerhalb der Partei, die sagten, Schlein sei nicht die richtige Frau für die Partei.
Bei der Europawahl am vergangenen Sonntag kamen nun die Sozialdemokraten erstmals wieder auf 24 Prozent der Stimmen – nur gut 4 Prozent weniger als die Meloni-Partei. Im Vergleich zu den nationalen Wahlen 2022 gewann der PD 5 Prozent der Stimmen dazu. Natürlich hoffen die Sozialdemokraten jetzt auf eine Trendwende.
Genährt wird diese Hoffnung durch die Tatsache, dass der PD bei Kommunalwahlen, die ebenfalls am vergangenen Sonntag stattfanden, wichtige Städte erobert hat: Bergamo, Cagliari und Modena. In Bari und Florenz findet eine Stichwahl statt, bei denen sich die Sozialdemokraten in der Pole-Position befinden. Diese Erfolge geben der Linken Auftrieb. Erfolg provoziere Erfolg, heisst es bei den Sozialdemokraten in Rom. Ob diese Hoffnung in Erfüllung geht, muss sich erst noch zeigen.
Beide Parteichefinnen zeigten Grandezza und gratulierten sich gegenseitig für ihr gutes Abschneiden bei den Wahlen.
«Illiberale Demokratie»
Hat Meloni von Marine Le Pen gelernt – oder Marine Le Pen von Meloni? Diese Frage wird in Italien diskutiert, auch wenn die Antwort unerheblich ist. Tatsache ist, dass beide, die sich einst schrill rechtsextrem gaben, jetzt wie Lämmer Gottes auftreten – und damit für viele wählbar sind. All das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Meloni vielleicht gefährlicher ist, als es viele wahrhaben wollen. Sie hat eine Mission. Sie will den Staat umkrempeln, die Gesellschaft verändern. Ihr wahres Gesicht hat sie vielleicht noch immer nicht gezeigt.
Nimmt man frühere Äusserungen unter die Lupe, so erfährt man, dass Meloni wenig von einer Demokratie in heutiger Form hält. Sie will Italien in einen straff organisierten Staat à la Viktor Orbán verwandeln. In eine «illiberale Demokratie», in der das Volk und vor allem das Parlament viel weniger zu sagen haben als heute. Mit Orbán ist sie eng befreundet, zeigte dies allerdings aus wahltaktischen Gründen in jüngster Zeit nicht mehr offen.
Zurück in die Vergangenheit
Als ersten Schritt will sie, dass der Ministerpräsident oder die Ministerpräsidentin künftig nicht mehr vom Parlament, sondern vom Volk gewählt wird und mit viel Machtfülle ausgestattet wird. Diese Woche hat der italienische Senat, die kleine Kammer im Parlament, einen Vorentscheid getroffen, der die Wahl des Regierungschefs durch das Volk vorsieht. Das Ergebnis führte zu einem Eklat. Die linke Opposition verliess den Plenarsaal und spricht von einer «Demütigung des Parlaments». Am 18. Juni soll im Senat die Schlussabstimmung stattfinden.
Im Innersten, so sehen es viele Beobachter, ist Meloni eine erzkonservative, reaktionäre Frau. Sie will zurück in eine Vergangenheit, die es längst nicht mehr gibt. «Gott, Vaterland und Familie» ist ihr Slogan. Sie spricht die Ängste jener Leute an, die mit Veränderungen nicht zurechtkommen – Leute, die Angst vor Neuem haben. Sie plädiert für eine strikte Law-and-Order-Politik. Die Kirche soll wieder aufgewertet werden. Feminismus ist vom Teufel, ebenso die Globalisierung, ebenso gleichgeschlechtliche Heiraten, ebenso das Gerede vom Klimawandel. Gelobt wird das Familienmodell der 50er Jahre.
Und wer sind ihre Freunde? Neben Viktor Orbán und Marine Le Pen sind es Steve Bannon und vor allem Santiago Abascal, der Vorsitzende der spanischen «Vox»-Partei – ein EU-feindlicher, teils rassistischer, rechtsextremer Nationalist. Vergessen ist auch, dass sich Meloni vor noch nicht allzu langer Zeit in TV-Interviews teils cholerisch, schreiend und grobschlächtig aufführte. Lilli Gruber, die «grande dame» des italienischen Fernsehens, drohte ihr einmal, das Mikrofon abzudrehen.
All das gerät jetzt in Vergessenheit. In Borgo Egnazia, in einer der schönsten Gegenden Italiens, wo die Menschen früher in «Trulli» lebten, hält Giorgia Meloni jetzt Hof – begleitet von Hunderten Presseleuten und Fernsehteams aus aller Welt. Und sie strahlt und hört nicht auf zu strahlen. Es ist «ihr» Gipfel.