Hier, im Aargauer Kunsthaus in Aarau, zeigte der damalige Direktor Heiny Widmer im Jahr 1973 erstmals rund 90 grossformatige Zeichnungen aus dem Nachlass von Emma Kunz (1892–1963). Feinste, meist gerade Linien in zarten Farben überzogen die quadratischen Millimeterpapier-Blätter und bildeten komplexe, meist symmetrische Strukturen.
Die Fülle der Blätter faszinierte, ebenso beeindruckten die Energie und die Hartnäckigkeit, die diese rätselhafte, bei aller Präzision der Ausführung doch fast manisch wirkende Produktion erst ermöglichten.
Wer schuf diese Bilder, die seither in Ausstellungen in prominenten Museen und Galerien fast um die ganze Welt gezeigt wurden – zum Beispiel in Düsseldorf, Paris, an der Biennale Lyon, mehrfach an der Biennale Venedig, in Tel Aviv, in den USA, in Dublin, jüngst auch in München und wieder in der Schweiz, in Appenzell?
Emma Kunz wurde in Brittnau im Aargau geboren, wuchs in einfachen Verhältnissen auf, besuchte keinerlei höhere Schulen, genoss keine künstlerische Ausbildung und las kaum Bücher. Sie interessierte sich nicht für Kunst und sah sich nicht als Künstlern, sondern als Forscherin und Heilerin. Ihre Zeichnungen, deren Kraftfelder sie mittels Pendeln erspürte, und deren dichte Strukturen sie mit Lineal und Zirkel ausführte, sah Emma Kunz im Kontext dieser Beschäftigung – dieses Befragens der Kräfte der Natur und der intuitiv gefühlten Beziehungen zwischen Mensch und Natur. 1951 zog Emma Kunz nach Waldstatt (Appenzell Ausserrhoden), wo sie ihre Tätigkeit als Naturheilerin im Gegensatz zur übrigen Schweiz frei entfalten konnte. Hier starb sie 1963.
Emma Kunz im Trend der 1970er Jahre
Über ihren Alltag, die Hintergründe ihrer Arbeit, über ihr Weltbild ist wenig Präzises bekannt. Über den Zusammenhang zwischen ihrem Zeichnen und dem Heilen gibt es nur Vermutungen. Schriftliches aus ihrer Hand? Nur zwei kleine Broschüren. Verbürgte Aussagen existieren kaum. Ihre authentischen Äusserungen sind die rund 600 geheimnisvollen und kaum schlüssig interpretierbaren Zeichnungen. Sie entstanden ausserhalb jedes Kunst-Kontextes und ohne Kunst-Wollen: Ein Paradebeispiel für Art brut.
Ein Rückzug auf die „Individuellen Mythologien“ prägte als Gegenbewegung zur grossen Geste des Abstrakten Expressionismus weite Teile der Kunst der 1970er Jahre. Damit einher ging ein neues Interesse an künstlerischem Aussenseitertum jenseits rationaler Erkenntnis. Um 1973 lagen die Zeichnungen von Emma Kunz im Trend, und Heiny Widmer, der dieses Interesse an „Outside“-Kunst in Aarau tatkräftig vorantrieb, traf mit der Emma-Kunz-Schau einen Nerv der Zeit. Kein Wunder: Erfolge stellten sich ein. Und rasch rankten sich Anekdoten, Geschichten und Legenden um die stattliche, eigenständige schöne Frau, die selbstbewusst ihren Weg ging, und um ihre Kunst, die keine Kunst sein wollte.
Der geheilte Bub
Vieles blieb verschwommen oder Gerücht aus dem Dunstkreis der Esoterik. Wer damals und später über sie schrieb, Harald Szeemann zum Beispiel oder Theo Kneubühler, begegneten ihr nicht persönlich. Auch Heiny Widmer lernte sie nur über die Zeichnungen kennen, die an ihn herangetragen wurden. Im Katalog von 1973 verwies er auf Gewährsleute, doch er nannte niemanden mit Namen. Ein Überprüfen der Aussagen war nicht möglich und vielleicht auch gar nicht beabsichtigt. Häufig sind auch Hinweise auf nachhaltige Heilungserfolge von Emma Kunz, doch auch diese Informationen blieben nebulös.
Entscheidend aber ist eine Geschichte: 1943 soll der fünfjährige Anton Meier, Sohn eines Steinbruch-Besitzers in Würenlos und an Kinderlähmung erkrankt, geheilt worden sein – von Emma Kunz, die ihm Wickel aus zermahlenem Kalk aus dem Steinbruch verschrieb. In den 1980er Jahren entwickelte Anton C. Meier den Steinbruch zu einem Kult- und Kraftort und schliesslich zum aus dem In- und Ausland rege besuchten Emma-Kunz-Zentrum. Der Stiftung, die hinter diesem Zentrum steht, gehören die meisten Zeichnungen von Emma Kunz und alle Rechte am Nachlass. Bis heute vertreibt das Zentrum über Drogerien und Apotheken erfolgreich das hier gewonnene „Heilgestein AION A“.
„Gemachte“ Biographie
Nun also, nach bald 50 Jahren, ein Wiedersehen mit Emma Kunz am gleichen Ort. Yasmin Afschar zeichnet verantwortlich für das Projekt „Kosmos Emma Kunz“, das Emma Kunz’ Zeichnungen mit Werken von Künstlerinnen und Künstlern unserer Tage konfrontiert. In ihrem breit gefächerten und klug argumentierenden Katalogbeitrag sucht Yasmin Afschar nicht primär nach Interpretationen der Zeichnungen, die sich einem rational-wissenschaftlichen Zugriff verschliessen. Sie widmet sich vielmehr, und das ist neu, der Rezeption von Emma Kunz. Und da spielt die von Dritten „gemachte“ Biographie der Heilerin-Forscherin eine wichtige Rolle: Das Schaffen der Künstlerin, die keine sein wollte, wurde und wird immer wieder eingespannt in Zusammenhänge und Vorstellungen, die sich aus der jeweiligen Zeitstimmung heraus ergeben – ob das nun einen ausgeweiteten Kunst- und Kulturbegriff betrifft oder einen Hang zu Esoterik und Visionärem (was immer das genau heissen soll) – oder ob es schlicht zum Marketing des Unternehmens Emma Kunz in Würenlos gehört. An der Museumskasse in Aarau wird denn auch das Emma-Kunz-Produkt „Schweizer Heilgestein AION A“ wirksam zum Verkauf präsentiert.
Fraglose Schönheit
Die Ausstellung „Kosmos Emma Kunz“ in Aarau zeigt das zeichnerische Werk der Künstlerin allerdings ohne das Geraune um ihre Biographie. Ein kleiner Nebenraum fasst aber die nötigen Informationen zum biographischen Hintergrund zusammen und lässt die Besucher auch in Interviews mit Leuten, die Emma Kunz kannten, hineinhören.
Dass die Millimeterpapier-Blätter auch ohne dieses Umfeld Bestand haben, und das seit Jahrzehnten, spricht für ihre Eigenständigkeit und Qualität und lässt auch auf eine starke und energiegeladene Persönlichkeit der Künstlerin schliessen. Manche Werke bestechen schlichtweg durch ihre fraglose Schönheit und ihre kraftvolle Präsenz. Sehr viele Blätter formulieren einen klaren Hang zu Harmonie der Linien und Proportionen und zu Ausgewogenheit der Farben und wirken wie Mandalas des Vajrayana-Buddhismus, ohne allerdings Mandalas zu sein. Als Rechtfertigung für eine Wiederbegegnung mit dem Schaffen von Emma Kunz reicht das allemal. Die Werke von Emma Kunz, die nicht als Kunst gedacht sind, lassen sich auch ohne Ausflug in die Esoterik als Kunst erleben.
Wieder im Trend?
Für Yasmin Afschar findet Emma Kunz’ Schaffen und Persönlichkeit auch in der Kunst der Gegenwart ein fruchtbares Umfeld – in einer Zeit, da mancherlei, was Emma Kunz in ihrem Leben und in ihrer Arbeit gewissermassen im Alleingang und im Verborgenen realisierte, Allgemeingut geworden ist: Ein anders reflektierter Naturbegriff, ein erneutes Beharren auf Ganzheitlichkeit, eine andere Sicht auf die Zusammenhänge zwischen verstandesmässigem Erkennen und Erfühlen der Wirklichkeit oder zwischen wissenschaftlichem und künstlerischem Vorgehen. Auch Esoterisches mag mitspielen. Die Kuratorin lud denn auch 14 Künstlerinnen und Künstler ein, sich in neuen Arbeiten zu Emma Kunz zu äussern. Das führt zu einer verschiedenartigen und mitunter auch wechselnd stringenten Gruppenausstellung im Umfeld von Person und Werk von Emma Kunz. Nachfolgend Hinweise auf einige der Beispiele.
Aspekte des Heilens
Rivane Neuenschwander (Brasilien) befasst sich mit dem im Zusammenhang mit Emma Kunz wichtigen Aspekt der heilenden Kraft der Kunst – und rückt, im Gegensatz zu anderen Beteiligten, weit vom „Vorbild“ ab: Sie liess Kinder ihre Ängste in Worte fassen und versah gemeinsam mit Designern entwickelte Phantasieschöpfungen von Kinderkleidern mit diesen Wörtern: Das Kleid wird zum magisch wirkenden Schutzschild oder zu einer Art Beschwörung.
Im gleichen Raum spürt Athene Galiciadis (Altstätten) in einer Wandinstallation aus sanft eingefärbten Stuckplatten dem Millimeterpapier als Raster für Emma Kunz’ Zeichnungen nach.
Ebenfalls im den Aspekt des Heilens, nun allerdings aus sehr persönlicher Sicht, geht es der als Performerin, Schriftstellerin und Künstlerin tätigen Kanadierin Lauryn Youdens, die im Katalog-Interview mit Julia Voss von ihrer eigenen psychischen und physischen Behinderung und den damit verbundenen Panikattacken und von Fragen der Selbst-Heilung spricht. Sie liess aus Muschelkalk aus dem Steinbruch von Würenlos eine Portal-Skulptur schaffen. Sie steht, wie eine kräftige Selbstbehauptung der Künstlerin, hoch aufragend auf einer spiegelnd schwarzen Wasserfläche im Innenhof des Museums.
Goshka Macuga (Polen), Beispiel für ein ganz anderes Vorgehen, rückt Emma Kunz in einen Zusammenhang mit weltumspannenden esoterischen Strömungen – zur Theosophin Helena Blavatsky.
Die Genferin Mai-Thu Perret nimmt direkt Bezug auf ein konkretes Werk von Emma Kunz und bildet, verändert allerdings, dessen Struktur in leuchtenden Neonröhren ab. Geprägt ist diese Begegnung Mai-Thu Perrets mit Emma Kunz durch früheres Erleben von Kunst mit spirituellem Hintergrund, zum Beispiel von Hilma af Klint oder Agnes Martin.
Im Beitrag von Shana Moulton (USA) blitzt Ironie auf, wenn sie die Kommerzialisierung heutigen Wellness-Bestrebens und der allgegenwärtigen Alternativ-Methoden thematisiert.
Aargauer Kunsthaus Aarau. Bis 24. Mai. Der Katalog erscheint später.