Die Demonstranten sind der Meinung, Mubarak könnte ja leicht sein Wort wieder zurücknehmen, wenn er jetzt seine Position wieder festigen kann. Sie bestehen daher auf seinem Rücktritt. Um die Spannung weiter zu erhöhen, planen sie nun einen Marsch auf das Präsidentenpalais selbst. Falls er stattfindet, erhöht er auch die Gefahren.
Dass die Armee nicht zu schiessen gedenkt, ist inzwischen klar geworden. Doch die Präsidialgarde von 30 000 Mann, die nicht dem Generalstabschef, sondern dem Verteidigungsminister Tantawi direkt untersteht, könnte zu jenen Teilen der Armee gehören, die immernoch zum Regime halten. Falls das zutrifft, könnte es doch noch zu einem Blutbad kommen. Die Krise in Ägypten ist noch nicht beendet.
Nachdem während Tagen einzelne Soldaten und Feldoffiziere haben durchblicken lassen, nicht auf die Demonstranten schiessen zu wollen, hat am Montag auch ein Sprecher der Streitkräfte am Fernsehen das selbe erklärt: "Die Armee wird nicht auf das ägyptische Volk schiessen. Sie steht auf den Strassen, um Unruhe und Gewalt zu verhindern. Doch sie wird nichts gegen die freie Meinungsäusserung der Bürger tun. Diese freie Meinungsäusserung garantiert sie sogar. "
Es war jedoch nicht ganz klar, wer da im Namen der Armee sprach. Kein Armeekommandant wurde genannt. Wenn die Armee offiziell spricht, müsste dies im Namen eines ihrer obersten Kommandanten oder politischen Verantwortlichen geschehen, sollte man erwarten. In Frage käme der Verteidigungsminister, Feldmarshall Tantawi, oder der Generalstabschef, Lt.Gen. Sami Annan, oder auch der neu ernannte Ministerpräsident, Air Marshall Ahmed Shafik. Sowohl Tantawi wie auch Shafik stehen Husni Mubarak nahe. Sie waren gewillt, ihm in der gegenwärtigen Lage als Minister zu dienen. Wohl weil sie wissen, sie stehen oder fallen mit ihm. Der neue Finanzminister, den Mubarak ernennen wollte, Gaudat al-Mait, hat sich geweigert, das Amt zu übernehmen. Er gehört zum Corps der Aufseher über das Rechnungswesen des Staates. Das heisst, er muss viel über die Korruption des Regimes wissen.
Der Generalstabschef blieb zunächst in Amerika
Was Generalstabschef Annan angeht, so ist er erst am 29. Januar aus Washington nach Kairo zurückgekehrt. Dort dürfte er dringende Gespräche mit seinen amerikanischen Offizierskollegen geführt haben. Die Unruhen in Ägypten hatten bereits am 25. Januar begonnen. Annan hat über den Einsatz der regulären Armee zu befinden. Je nach Angaben umfasst sie 340 000 bis 480 000 Mann. Verteidigungsminister Tantawi direkt untersteht die "Republican Guard" von etwa 60 000 Elitetruppen, die im wesentlichen zur Absicherung des zentralen Herrschaftsbereiches Mubaraks dienen. Ministerpräsident und alt-Airmarschall Shafik hat seine Verbindungen in der Luftwaffe, die als eine besonders rücksichtsvoll behandelte, manche sagen verwöhnte, Sondertruppe gilt. Es war die Luftwaffe, die das Überfliegen des zentralen Tahrir-Platzes am Sonntag durchführte. Dies konnte nur zur Einschüchterung der Demonstranten dienen. Dagegen konnte die Erklärung der Armee, nach welcher sie die Meinungsfreiheit schütze, nur zur Ermutigung dienen.
Das muss noch nicht eine Spaltung unter den Streitkräften bedeuten, doch es zeigt an, dass es offenbar verschiedene Blöcke mit unterschiedlichen Absichten bei ihnen gibt. Es läge nahe, einen Block der altgedienten Anhänger Mubaraks zu unterscheiden von einem anderen, gewichtigeren, den die reguläre Armee ausmacht. Anan wäre in diesem Falle die wahrscheinlichste Führungsfigur der Armee; Tantawi jene der Republikanischen Garden und Shafik eine einflussreiche Figur in der Luftwaffe.
Ein Bruch zwischen den drei Kräften braucht nicht vorzuliegen. Doch es sieht so aus, als ob die drei anfänglich auf entgegengesetzten Seiten gestanden haben könnten: Tantawi und Shafiq mit Mubarak, Anan und die reguläre Armee "mit dem Volk". Um ein Auseinanderbrechen der Armee zu vermeiden, was die Gefahr eines Bürgerkrieges mit sich brächte, müssen die drei sich finden. Die Kräfteverhältnisse liegen so, dass dies auf der Seite "des Volkes" geschehen muss.
Richtungskämpfe in der Politik Dazu kommen divergierende Tendenzen in der Politik. Mubarak und seine Beschützer können für sich in Anspruch nehmen, dass sie, wenn man sie handeln liesse, einen abgesicherten Übergang zu einem neuen Regime lenken könnten. Ahmed Shafik, der neue Ministerpräsident, hat diesen angeboten, indem er erklärte, er sei bereit mit "den Oppositionsgruppen" zu verhandeln und eine neue Verfassungsordnung zu entwerfen. Doch er fand bei der Opposition wenig Gehör. Sie fürchtet, gewiss nicht ohne Grund, dass ihre Anliegen, sobald sie den Druck auf Mubarak und seine Beschützer aufgäbe, ignoriert werden könnte und alles, nur ein wenig neu dekoriert, beim alten bliebe. Deshalb fordert sie reinen Tisch, bevor Verhandlungen über die neue Ordnung beginnen.
Opposition ohne wirklichen Sprecher
Die Opposition ist stark auf der Strasse, doch sie weist eine Schwäche auf: sie hat niemand, der verbindlich für sie zu sprechen vermöchte. Der frühere IAEA-Chef El-Baradei hat versucht, sich zum Sprachrohr zu machen. Doch nicht mit vollem Erfolg. Die Demonstranten sind sich bewusst, dass sie die Opposition ausgelöst haben, nicht El-Baradei. Sie wollen sich gern von ihm helfen lassen, doch dass er über ihre Zukunft bestimmen sollte, kommt für sie nicht in Frage. Ähnliches gilt von den Muslimbrüdern.
Solange jedoch die Opposition keine sichtbare und verantwortliche Leitung besitzt, besteht immer ein Anreiz für die Alt-Politiker und die Alt-Militärs um den Präsidenten herum, sich selbst als die Inhaber der politischen Initiative zu positionieren. Was von der Opposition durch die bis heute nicht abgeklungene Forderung blockiert wird: Mubarak muss gehen. Sie impliziert: "Und mit ihm seine Minister und militärischen Stützen der letzten Stunde. "
Die zögernden Stimmen von aussen
Eine weitere Frage ist die des Auslands. In erster Linie Amerika, der grosse Geldgeber der ägyptischen Armee seit über 30 Jahren, und als weitere kleine Seitenfigur auch Europa. Diese Aussenmächte haben Mubarak bisher bedingungslos unterstützt. Jetzt suchen sie sich neu zu positionieren, denn es wird ihnen klar, dass demnächst ein neues Ägypten mit einer neuen politischen Linie entstehen wird.
Foltern für Amerikaner und Europäer
Bisher hatte Mubarak das Ausland an seiner Seite gehabt, weil er - unterstützt durch die israelische Propaganda die Angst vor den angeblich so gefährlichen Islamisten schüren konnte. Er diente sich zu als der Mann, der sie in Schach halten könne. Dies nahm höchst widerwärtige und für die ganze westliche Welt beschämende Züge an. Beispielsweise bei den "Renditions", bei denen auch europäische Geheimdienste mitwirkten. Renditions bedeutete, dass die edlen Amerikaner und (mindestens als passive Mitwisser) Europäer Gefangene, denen sie keine Schuld nachweisen konnten, an Ägypten und andere Staaten mit foltergeübten Geheimdiensten auslieferten, um sie foltern zu lassen, bis sie "gestanden". Was sie gestanden, entsprach meist nicht den Fakten sondern nur den Wünschen der Folterer und ihrer Auftraggeber.
Neueinschätzung der Islamisten wäre nötig
Mit einer Revision des Verhältnisses zu Mubarak dürften auch erste Neueinaschätzungen der Islamisten einhergehen. In dem Sinne, dass »der Westen« auch mit ihnen wird Kontakt halten, verhandeln und sie in einen politischen Prozess einbeziehen sollte. So könnte man erkennen, dass Demokratie und Islam nicht als Gegensätze, sondern als Mächte erkannt werden, die einander ergänzen und bestärken können.