Es korrigiert eine Gerichtspraxis, die sehr streng mit Schmerzpatienten verfuhr, indem sie von der Generalannahme ausging, Schmerzen seien prinzipiell überwindbar. Diese Annahme ist auch medizinhistorisch, ja, kulturhistorisch von Bedeutung.
Die Subjektivität des Schmerzes
Wir alle - bis auf wenige Ausnahmen - kennen den Schmerz. Wir alle wissen, wie es ist, Schmerzen zu haben. Und doch ist Schmerz etwas extrem Privates. Kein halbwegs normaler Mensch zweifelt daran, dass auch der andere Schmerzen haben kann. Aber die Empfindung ist und bleibt je mein Schmerz. Spezifischer spricht die Medizin etwa vom „anfallartigen, „ticartigen“, „kolikartigen" Schmerzcharakter, von „Dolor localisatus" oder „Dolor translatus". Und dennoch kreisen sowohl alltäglicher pain talk wie klassifizierende Fachsprache nur um das eine unsagbare schwarze Loch in uns: Schmerz, seine unauslöschbar subjektive Wirklichkeit, ist unteilbar. Er widerfährt, ausschliesslich und ganz, dir oder mir. Wohl deshalb nährt er auch so stark das Gefühl der Vereinzelung, der Einsamkeit. Man möchte sagen: Wie keine andere Empfindung macht uns der Schmerz unsere Subjektivität schmerzlich bewusst. Liegt darin seine Bedeutung?
Die Entpersönlichung des Schmerzes
Nun hat natürlich jedes Gefühl diesen inneren, subjektiven Aspekt. Was den Schmerz auszeichnet, ist das stark gewachsene Interesse der Forschung an ihm. Eine eindrucksvolle wissenschaftliche Phalanx tritt heute gegen ihn an: Diagnose mit Computertomografie des Schädels, Therapie mit neuen Medikamenten, raffinierte neurochirurgische Eingriffe ins Gehirn, neue grundlegende Einsichten in die Neurophysiologie und Biochemie des Schmerzes. Die moderne Medizin verbucht mit dieser Strategie grosse Erfolge. Man könnte sie die Strategie der Entpersönlichung nennen. Der objektive, klinische Blick nimmt gerade nicht den inneren Aspekt des Schmerzes wahr. Er abstrahiert von ihm und reduziert den Patienten auf einen x-beliebigen ichlosen Organismus mit Defekt. Dadurch verliert der Schmerz seine persönliche Bedeutung und wird in erster Linie als Alarmzeichen und Warnsymptom eines Körperschadens registriert (die Schmerzphysiologie spricht in diesem Zusammenhang von „Nozizeption", von Schadenswahrnehmung) . Ist dieser Schaden als Ursache einmal geortet, dann obliegt es der medizinischen Schadensbekämpfung, den Schmerz als Begleitphänomen eines defekten Körpers aus der Welt zu schaffen.
Schmerz als Leitsymptom
Liesse sich der Schmerz allein auf diese Weise bekämpfen, dann wäre die Welt in bester medizinischer Ordnung. Aber sie ist es nicht. Es gibt den chronischen, rebellierenden Schmerz, der sich trotz aller analgetischen Offensive und Therapie im Patienten verschanzt. Es gibt, wie die Ärzte sagen, den Schmerz als Leitsymptom, welches weder auf einen Körperschaden noch auf eine Grundkrankheit als Ursache hinweist. Seit den 1960er Jahren suchen sogar spezielle Einrichtungen wie Schmerzzentren an Spitälern und Schmerzkliniken diesem renitenten Peiniger der Menschheit beizukommen. Der ehemalige verantwortliche Arzt des Centre anti-douleur am Pariser Spital Saint-Antoine, Francois Boureau (gestorben 2005), brachte das Problem einmal so auf den Punkt: „Die Kranken (haben) Mühe, sich chronische Schmerzen vorzustellen, deren Ursache man kennt, für die es aber keine radikale Behandlung gibt. Die Schmerzen dauern an, trotz korrekter Behandlung: diese Paradoxie ist schwer verdaulich! Den Kranken geht es nicht in den Kopf, dass man im Zeitalter der Genetik und der Organtransplantation noch nicht weiter ist. Und doch ist das die Realität".
Aus der Geschichte des Schmerzes
Das Problem, das hier zutage tritt, sprengt den Horizont der Bio- und Neuromedizin und leuchtet tief in unsere Kulturgeschichte zurück. Denn der Umgang mit dem Schmerz widerspiegelt ja eigentlich den Umgang mit unserem Körper, mit einem Stück lebender Natur also, das wir selbst sind. So gesehen, lässt sich die Strategie der Entpersönlichung als Aspekt eines kulturellen Umwertungsprozesses beschreiben, der Säkularisierung des Schmerzes und des Leidens. Bis ins 17. Jahrhundert hat der Mensch im europäischen Kulturkreis Schmerz, Krankheit, Leiden als „kosmische" Heimsuchungen erlebt und gedeutet. Im Mittelalter zum Beispiel galt Schmerz als Ausdruck einer unvollkommenen, verderbten: einer „gefallenen" Natur. Er war sozusagen Erbteil des Sündenfalls, bitterer Nachgeschmack irdischen Daseins, Plage und Strafe zugleich (im englischen pain und im deutschen Pein steckt das lateinische poena: Strafe).
Das ist eine Einstellung zu Krankheit und Schmerz, die uns heute ziemlich fremd anmutet. Wo Schmerz als Zeichen einer „unheilbar" verderbten Natur gedeutet wird, erscheint der Gedanke einer radikalen Schmerzbeseitigung geradezu als widernatürlich. Obwohl Alkohol und Opium seit alters als Anästhesiemittel bekannt sind, bleibt der Schmerz in diesem Weltbild ein elementares Widerfahrnis, das man grundsätzlich nicht aus der Welt schaffen kann. Der Mensch ist ein von Natur aus schadhaftes Wesen. Man kann dem Schmerz deshalb letztlich nur mit bestimmten Haltungen begegnen, ihm etwa heroisch trotzen, ihn stoisch leugnen, in ihm das Zuchtmittel eines Gottvaters sehen oder sich ihm als einer Prüfung oder einem Läuterungsprozess unterwerfen. Schmerz ist zudem nie bloss ein rein körperliches Übel, sondern immer zugleich auch ein Leiden der Seele - das Leiden der Seele an der „gefallenen" Körpernatur des Menschen sozusagen.
Die technologische Einstellung zum Schmerz
Im 17. Jahrhundert spielt sich ein folgenschwerer Einstellungswandel ab. Die aufkommende neue Naturphilosophie beruht auf einem Verständnis von Körper und Seele, das sich einschneidend vom mittelalterlichen und antiken unterscheidet. In den Augen der Neuerer, etwa von René Descartes, kann man am Menschen - zumindest gedanklich - eine radikale Trennung vornehmen. Man kann ihn halbieren in eine rein körperliche und in eine rein seelische Komponente. Als Körper ist der Mensch ein verfüg- und handhabbarer Apparat, der gemäss Naturgesetzen funktioniert. Die Seele sitzt darin wie ein körperloser Navigator in der Kontrollzentrale des Gehirns. Dieses Bild hat eine ungeheure heuristische Potenz entfaltet. Die Halbierung in seelenlosen Körper und körperlose Seele ermöglicht eine technologische Einstellung zum menschlichen Leib, insbesondere zu Schmerz und Krankheit. Das heisst, auf der Basis dieser Halbierung kann man nun Krankheit als Reparaturfall des menschlichen Körperapparates betrachten und behandeln, wie dies der Ingenieur mit seiner Konstruktion ja auch tut. Sieht man also im Körper primär einen Apparat, dann fasst man plausiblerweise das Heilen als eine Art von Mechanik auf. Die Idee der Heilungstechnologie, der Machbarkeit des Heils, ist geboren. "Heilmechaniker", "Iatromechaniker", nennen sich die medizinischen Modernisten des 17. Jahrhunderts.
Ein solches Weltbild tilgt den Schmerz als Zeichen einer „gefallenen" Natur. Vielmehr erhält er nun die Bedeutung einer nützlichen Alarmanlage der Vorgänge im Körperapparat. Weil körperliche Vorgänge und seelische Erlebnisse entkoppelt sind, kann der Schmerz auf der gleichen Ebene wie andere körperliche Funktionen verstanden und behandelt werden, bleibe sein innerer, persönlicher Aspekt, wo er will. Je besser man seine Physiologie versteht, desto mehr bringt man ihn unter Kontrolle. Das Problem seiner Bewältigung wird zum Problem seiner Beseitigung, seiner Tötung. Painkiller hiess eines der ersten Schmerzmittel, das Mitte des 19. Jahrhunderts in den USA auf den Markt kam.
Die andere Hälfte des Schmerzes
Der reflexartige Griff zur Tablette gehört heute zur Alltagsroutine wie der Kaffee am Morgen, das Bier am Abend und die unzähligen Zigaretten zwischendurch. Diese unscheinbare Bewegung verrät gerade vor dem kurz skizzierten historischen Hintergrund einen beunruhigenden Zivilisationsschaden. Man könnte ihn - Ironie der neuzeitlichen Entwicklung - nun nicht als Indiz der „Gefallenheit" unserer Natur betrachten, sondern als Indiz der Verfallenheit an eine rein äusserliche Einstellung zu unserer Natur, insbesondere zu Leib und Schmerz. „Äusserlich" heisst, dass der Schmerz als lästige Betriebsstörung des Körperapparats behoben wird. „Äusserlich" meint aber auch, dass man nicht selbst mit dem Schmerz fertig werden will, sich ihm nicht persönlich stellt, sondern lieber gleich Hilfe von „aussen", vom Arzt, vom Medikament, von der Droge erwartet. Eine solche Einstellung dürfte in nicht geringem Masse an der Pharmakologisierung unserer Lebensform, an der Kostenexplosion im Gesundheitswesen und nicht zuletzt auch an der Rechtssprechung mitbeteiligt sein. In der modernen Gesellschaft kommt dem äusseren Druck einer Dauerbelastung an den Grenzen menschlicher Leistungsfähigkeit natürlich eine Haltung entgegen, die Schmerz und Krankheit primär als Maschinenschaden sieht und diesen mittels medikamentöser Schmierung zu beseitigen trachtet. Die 100 Milliarden Aspirintabletten, die laut Schätzung jährlich auf der ganzen Welt geschluckt werden sollen, sprechen auf jeden Fall für sich.
Der beseelte Körper
Seit dem 19.Jahrhundert erweist sich ein Denken als äusserst erfolgreich, welches in der Medizin primär eine Reparaturwerkstatt für schadhafte Körper ohne Seelen sieht. Heute, wo wir zunehmend Schäden und Verletzungen an uns feststellen müssen, die nicht mehr eindeutig in den Bereich des rein Körperlichen oder rein Seelischen fallen - z.B. Stress, Neurosen, Ängste, Depressionen - , erscheint ein solches Denken zunehmend ergänzungsbedürftiger. Dass ausgerechnet ein Phänomen wie Schmerz leitsymptomatisch auf diese Bedürftigkeit hinweist, kann deshalb kaum überraschen. Denn so wie der Schmerz stets jemandes Schmerz ist, so erweist sich allgemein der lebende Körper immer als jemandes Körper, als Körper einer Person, oder sagen wir ruhig: als beseelter Körper. Macht uns also der Schmerz im Zeitalter des klinischen High Tech wieder aufmerksam auf das Humane der Humanmedizin, die unteilbare, lies: in-dividuelle - Wirklichkeit der Person? Könnte der Schmerz, der sich der analgetischen Grossoffensive widersetzt, am Ende als eine Art sprachloser Aufschrei des Patienten interpretiert werden: „Nehmt mich doch endlich als ganze Person wahr und ernst“?
Unheilbar gesund
Die Fähigkeit, Schmerz in seiner persönlichen Dimension wahrzunehmen, ersetzt selbstverständlich nicht das Pharmakon, sondern weist auf einen Aspekt des Heilens hin, der heute leicht in Vergessenheit zu geraten droht. Heilen heisst auch: ganz machen, mit seinem Körper selber fertig werden können. Im Ideal des painkilling drückt sich dagegen die Apotheose eines Zeitalters aus, welches mit dem menschlichen Körper nun gleich noch das menschliche Leiden endgültig dem Zugriff der Lifestyle-Industrie erschliessen möchte: das Zukunftszenario des schönen, neuen, beliebig anästhetisierbaren Lebens. Eine vom diesem Ideal geleitete Heilkunde und Heilpraxis mag noch so triumphierend ihre Erfolge feiern, insgeheim könnte sich die Entsorgungsmentalität menschlichen Leidens in dem rächen, was in einer renommierten amerikanischen Fachzeitschrift bereits als „Paradoxie der Gesundheit" bezeichnet worden ist. Offiziell und objektiv gilt der Patient als „fit" und geheilt, er fühlt sich aber subjektiv keineswegs heiler, will sagen: ganzer. Auf seinen Zustand könnte eine neue Diagnose zutreffen: unheilbar gesund.