Brian Whitaker ist ein Kenner und Freund der arabischen Welt. Er hat viele Jahre lang als der Nahost-Redaktor des britischen Guardian gewirkt. Der von ihm betriebene Blog im Internet: "al-Bab", ein Eingangstor zu der arabischen Welt, ist eine der reichsten und ausgewogensten Dokumentationen der Gegenwart und der jüngsten Vergangenheit, die man finden kann. Gerade weil er ein Freund und ein Kenner dieser Welt ist, war er in der Lage, ein kritisches Buch über sie zu schreiben, das nicht einfach verurteilt, sondern dokumentiert und begründet. Er hat ihm den Titel gegeben: "What's really wrong with the Middle East". Das really ist auf dem Buchdeckel durch rote Farbe hervorgehoben.
"What's really wrong with the Middle East"
Das Buch wurde kurz vor den Ereignissen der arabischen Revolution geschrieben.Das Vorwort der zweiten Auflage datiert auf den Februar 2011, also kurz nach dem Sturz von Ben Ali und Mubarak. Wer dieses Buch liest, erhält nicht den Schlüssel sondern den Schlüsselbund - viele Schlüssel - zum Verständnis der Schwierigkeiten des Unterfangens der Demokratisierung im arabischen Raum. Man beginnt zu begreifen, wie schwierig in Wirklichkeit das Bestreben war, das sich oberflächlich gesehen so selbstverständlich ausnahm: "Wir machen eine Verfassung und Wahlen und beginnen die Demokratie".
Whitaker zeigt die gesellschaftlichen Hindernisse auf, die vorliegen. Er braucht dazu ein Buch von 384 Seiten. So viele, weil er konkret werden will und konkret wird. Er belegt, was er schildert mit vielen Beispielen, in denen er die Betroffenen selbst zu Wort kommen lässt.
Jedes Kapitel des Buches umreisst einen Komplex der Problematik. Doch Hinweise darauf fehlen nicht, dass alle die Einzelphänomene zusammenhängen und eines jedes das andere bedingt sowie oftmals verschärft.
„Wiederum ein Mädchen!“
"Denken innerhalb der Schachtel", das heisst in vorgeschriebenen,unantastbaren Grenzen, macht den Anfang. Hier ist die Rede von der autoritären patriarchalischen Familie, vom Erziehungssystem, das auf Nachplappern und Auswendiglernen beruht, von den Grenzen in den Köpfen, früh fixiert, im gesellschaftlichen Leben bestätigt und gefestigt. Wer die Grenzen auch nur berührt, wird bestraft.
Hier abgekürzt, was dem Verfasser ein Marokkaner erzählt: Ein Mann hier hatte eine Frau mit drei Töchtern. Sie war erneut schwanger. Er zwang sie, sich einem zu unterziehen. Wiederum ein Mädchen! Er sagte: "Du bist eine Frau, die nur Mädchen zur Welt bringt. Ich will einen Jungen!" Und er zwang sie, zuzustimmen, dass er eine zweite Frau nehme. Am gleichen Tag, etwas später, nahm die Frau ihre drei Töchter und alle vier warfen sich vor einen Zug. Alle vier wurden getötet.." Der Gewährsmann fährt fort: "Als ich dies vernahm, war ich schockiert. Wenn so etwas in England oder Frankreich passierte, würde es eine grosse Debatte auslösen. Alle wären betroffen. Doch nicht in Marokko. Hier war die Reaktion: 'OK, sie fährt zur Hölle, nicht unser Problem! Bei uns zuhause reden wir nicht gerne über den Tod. Das bringt Unglück.' "
Selbstkritik? - "gibt es nicht", sagt ein anderer Gesprächspartner. Man weist der Führung den Tadel zu. Man exteriorisiert das Problem, Man fragt nie: "Wie habe ich dazu beigetragen?" Die Idee, dass man sich selbst so sehen könnte, sowie andere einen sehen, ist revolutionär für viele Leute, und es ist ein äusserst schwieriger und schmerzlicher Prozess.
Die Macht der Familie
Die Familie ist Gegenstand des zweiten Kapitels. Sie ist "der vergoldete Käfig - Schutz und Gefängnis, Sicherheit und Knechtschaft". Sie steht unter den absoluten Autorität des Vaters. "Kinder sind Gegenstand der Anordnungen des Vaters und der Zärtlichkeiten der Mutter". "Herrscher und politische Führer erscheinen als Vaterfiguren, die Bürger als Kinder." - "Alle Wahlen, die du triffst, sind bedingt durch den Gedanken: Ich muss in einer vernünftigen Nähe zu meiner Familie bleiben."
Dies wirkt sich in der weiteren sozialen und politischen Umwelt aus. Auch dort halten Familien zusammen. Der Zusammenhalt ist so stark, dass Regeln gebogen werden.
Ursprünglich war die Familie eingebaut in den Stamm. Wenn die Macht der Staaten abnimmt, treten die Stämme an ihre Stelle. Ihre Bedeutung nimmt wieder zu. Wie die Familie bieten sie Schutz und Sicherheit, doch sie fordern unkritische Konformität und Einordnung.
Die Regierung als Feind
"Staaten ohne Bürger" ist das nächste Kapitel. Arabische Regime, sagt der Verfasser, gleichen eher jenen der kolonialen Herrscher als einer Regierung, die Wurzeln im eigenen Volk aufweist. Dies bringt er mit der Geschichte zusammen. Herrscher kamen von aussen und errichteten ihre Macht. Ägypten wurde immer von fremden Herrschern regiert, seit Alexander dem Grossen bis 1952. Danach kamen die Offiziere. Die Untertanen überlebten, nicht mit Hilfe der Regierung sondern trotz der Regierung. So ist es weitgehend geblieben. Die heutigen Herrscher ergänzten ihre Macht - angeregt durch die europäischen Vorbilder - durch "ihre" Bureaukratie. Diese geht darauf aus, das Leben der Untertanen so eng wie möglich zu kontrollieren, lähmend genau. Schutz gegen sie bieten in erster Linie die Familie und der Klan. Oder man muss seinen Weg durch die Behörden bezahlen. Die kleinen Trinkgelder dienen dazu, so gut wie die grossen Bestechungssummen.
Demokratische Fassaden werden von den Regierungen als notwendig erachtet. Nicht so sehr gegenüber der eigenen Bevölkerung. Sie weiss ohnehin Bescheid. Eher wegen des internationalen Prestiges. Die Aussenstaaten ihrerseits tun gerne so, als hätten sie es mit Demokratien zu tun, weil ihnen daran liegt, ihre eigenen wirtschaftlichen und politischen Interessen ungestört zu verfolgen. Was bekanntlich soweit gehen kann, dass man eigene vermeintliche Staatsfeinde dorthin verschleppt, um sie in den befreundeten "Anfangsdemokratien" foltern zu lassen.
Staatsparteien sind ein bewährtes Mittel der Fassadendemokratie. Sie dienen der Aufrechterhaltung des Machtmonopols des "väterlichen" Herrschers. Ihre Mitglieder hoffen auf Gegenleistungen des von ihnen mitgetragenen Staates. Die Staatsparteien haben es fertig gebracht, alle anderen Parteien und Gruppierungen im Staat zu beseitigen oder beiseite zu schieben, weil sie über das Monopol der Gewalt verfügen, das die Sicherheitskräfte bieten. Nur die religionsgetragenen Gruppen verblieben als Gegenmacht. Weil der Freiraum "Moschee" nicht voll kontrolliert werden konnte, und weil ihre Zielsetzungen nicht die einer Staatspartei waren: Nicht Dienst am Machthaber in Hoffnung auf Belohnung, sondern vielmehr: Ablösung des Machthabers und seiner gesamten Macht- und Regierungsmaschinerie durch den "islamischen Staat" unter Führung der politischen Islam Unternehmer.
Religion als Mittel der Politik und Stütze der Identität
Die "Politik Gottes" bildet denn auch das nächste Kapitel. "Wenn die Leute harte Zeiten durchmachen, gehen sie zur Religion. Sie gibt Antworten und Sicherheit." So ein Gewährsmann. "Sogar die offiziellen Media", sagt ein Psychologe, "unterstreichen die Botschaft, dass die Welt nicht verändert werde durch Änderung der Systeme, oder einen Staatssstreich oder dergleichen. Die Welt werde verändert dadurch, dass eine jede Person an sich selbst arbeite. Wenn wir schlussendlich alle gut sind und uns zum besten verändert haben, dann wird die Korruption verschwinden, die Armut verschwinden, weil keiner mehr ertragen wird, dass sein Nachbar hungrig schlafen geht, während er selbst genügend hat."
In der arabischen Ländern, so der Verfasser, ist Religion nicht nur eine Quelle persönlichen Wohlbefindens. Sie gewährt auch ein Gefühl von Identität, Dazugehörigkeit und Solidarität gegenüber Bedrohungen von aussen. Es gibt Umfragen darüber, ob man sich selbst als in erster Linie als Bürger des eigenen Landes sieht, oder primär als Araber, oder zugehörig zum Islam, oder als Weltbürger. Die Ägypter sehen sich selbst zu 59 Prozent primär als Ägypter, zu 20 Prozent primär als Araber und zu 17 Prozent zuerst als Muslime. In Saudiarabien liegt die muslimische Identität an erster Stelle (56 %), gefolgt von der saudisch-nationalen (34%), dann der arabischen (10 %). Ähnlich in Marokko mit 48 Prozent, die sich primär als Muslime sehen, gegen 38 Prozent primär als Marokkaner. Auch in Jordanien übertreffen die muslimischen Primäridentitäten (33%) die national jordanischen (von 26%). Diese werden sogar von den arabischen (29%) übertroffen.
Wenn Religion als ein Merkmal für Identität gehandhabt wird, führt dies zur Betonung der äusserlich sichtbaren Merkmale: Kleidung, Verschleierung, Bart. Zugleich wächst der Zwang zu geistiger Gleichförmigkeit. Dieser Zwang kann zu Gewalttaten führen.
Der Verfasser erklärt, dass ein fundamentalistisches Islamsverständnis zu unterscheiden sei von einem islamistischen. Das erste fordert Rückgriff auf die Fundamente, wörtliches Verständnis der Heiligen Schriften, nicht Auslegung. Das zweite verlangt eine führende Rolle für den Islam in Gesellschaft und Politik.
Ein Gottesstaat?
In der Theorie ist dies verwirklicht in Saudiarabien. Das dortige Grundgesetz von 1992 legt fest: Artikel 1) Das Königreich Saudiarabien ist ein souveräner arabischer Staat mit Islam als seiner Religion; Gottes Buch und die Lebensweise (Sunna) Seines Propheten (Gott segne ihn und gebe Ihm Frieden) sind seine Verfassung...
Artikel 23) Der Staat beschützt den Islam; er setzt die Scharia durch; er befiehlt seinem Volk, das Rechte zu tun und das Böse zu scheuen; er erfüllt seine Pflicht in bezug auf Gottes Begehren.
Diese und alle derartigen Allgemeinvorschriften sagen wenig darüber aus, wie genau der "islamische Staat" organisiert werden soll. In der Opposition können die Islamisten sich mit der Aussage begnügen: "so wie es der Staat des Propheten in Medina gewesen ist." Doch wenn es ans Regieren geht, ist das kein brauchbares Rezept. Zu verschieden sind die heutigen Gegebenheiten von den damaligen Umständen und Lebensformen. Auslegung wird unvermeidlich und mit ihr die Frage, wer verbindlich auslegen soll.
Islamismus beruht auf Diskussionslosigkeit
Eine offene und öffentliche Diskussion hierüber findet jedoch nicht statt. Sie würde den Anspruch der Regierung, dass sie "islamisch" regiere ebenso untergraben wie die Behauptung der oppositionellen politischen Religionsunternehmer, sie wüssten, was "der Islam" sei, dessen Verwirklichung sie fordern.
Der Streit zwischen "Islam" und "Säkularismus", der die politische Gegenwart stark prägt, würde in fruchtbare Bahnen gelenkt, wenn die Diskussion sich der Frage annähme: Was genau ist dieser "islamische Staat", der von den einen gefürchtet und von den anderen angestrebt wird. Wie genau soll er heute verwirklicht werden? Und was genau wäre dagegen ein säkularistischer Staat?
Korruption als Notwendigkeit
Korruption, so sagt der Verfasser, sei wahrscheinlich das Problem in der Gesellschaft, über das sich die Araber am meisten beklagen. Korruption beginnt oben, sagt ein ägptischer Gewährsmann. "Wenn ich korrupt bin, ist der einzige Weg sicher zu stellen, dass mir nichts geschieht, dass ich meine Untergebenen auch korrumpiere. Wenn man höher hinaufsteigt nennt man das "Kommissionen" - das ist ein schöneres Wort."
Ölgeld steigert die Sache, weil es um grosse Beträge und Verträge geht, und je grösser sie sind, desto mehr Raum besteht für Bestechung. Whitaker nennt Beispiele von märchenhaften Beträgen. Die Untersuchungen über die Vorgänge über das britisch-saudische 43 Milliarden Pfund Waffengeschäft, das unter dem Namen al-Yamamah lief, wurden eingestellt, weil der Oberste Staatsanwalt, Lord Goldsmith, befand, sie einzustellen sei im nationalen Interesse Grossbritanniens und es bestehe ohnehin wenig Aussicht, dass es zu Verurteilungen komme.
Wo es kein Öl gibt, muss man sich sonst behelfen: 2008 wurden 14 Ägypter, einschliesslich des Vorsitzenden des Examens-Ausschusses der Provinz Miniya zu Gefängnisstrafen verurteilt, weil Kinder von höheren Beamten Kopien der Examenspapiere für Englisch und Mathematik zum Preis von 800 ägyptischen Pfund (rund 115 Dollar) gekauft hatten. Öffentlich wurde erklärt, dies seien isolierte Fälle. Doch ein Beamter des Erziehungsministeriums, der anonym blieb, erklärte der Zeitung "al-Ahram Weekely", dies sei häufig im ganzen Land und in allen Provinzen. "Der Unterschied ist, dass die Behörden in Minya rasch reagierten, nicht den Kopf in den Sand steckten und die Augen schlossen, wie dies andere Beamte in anderen Provinzen tun".
Hoch oben komme es vor, "dass die Politik der Regierenden von vorneherein dermassen eingerichtet werde, dass ein Maximum an Korruptionsgeldern fliesse", erklärt ein Fachmann. Das Kapitel ist lang. Neben den Geldtransaktionen gibt es "Wasta", "Vermittlung", den Einfluss, die Empfehlungen eines Hochgestellten oder einfach Familien- oder Stammesmitglieds in der richtigen Position, die dafür sorgen, dass Dinge geschehen, die sonst nicht geschähen. Berechtigt oder unberechtigt, ohne "Wasta" geschähen sie einfach nicht. Wer "Wasta" geniesst, von dem wird auch eine Gegenleistung erwartet, die früher oder später fällig wird.
Al-Jazeera und Mobiltelephone
Noch länger ist das Kapitel über die "Kontrollbedürfnisse" des Staates, wenn es darum geht, Lizenzen auszugeben, wie man sie braucht, um eine Zeitung oder Zeitschrift zu gründen, oder eine NGO zu betreiben, von politischen Parteien gar nicht zu reden. Die Vorbedingungen sind so kompliziert, und die bürokratischen Vorgänge brauchen Jahre, so dass der Interessierte entweder "illegale" Abkürzungswege sucht und sich dadurch, einer Bestrafung aussetzt, sobald er auffällt, oder dass er überhaupt aufgibt. Dies zweite ist erwünscht, weil es der staatlichen Meinungslenkung und Sozialkontrolle alle nicht staatliche Konkurrenz erspart.
Allerdings hat sich in den letzten Jahren die Kluft zwischen dem, was die Staaten kontrollieren möchten und dem, was sie kontrollieren können, deutlich erweitert. Das Internet trägt dazu bei. Wer keinen Computer besitzt, kann ein Internet-Kaffee besuchen. Wichtiger noch für die grosse Masse war al-Jazeera, das Fernsehen, das von Qatar finanziert und überall über Satelliten empfangen wird. Ohne Zensur, mit Themen die auf die brennenden Fragen eingehen. Etwas bisher noch nie dagewesenes. Als Drittes sind die Mobiltelephone dazu gekommen mit den Botschaften, die jedermann in die Welt senden kann, um Gesinnungsgenossen zu finden.
Die Debatten allerdings, die über al-Jazeera laufen und von der Station angeregt werden, sind stark konzentriert auf internationale und inter-arabische Politik. Für die vielen brennenden inneren Probleme, sozialer und wirtschaftlicher Natur, wie politische Reformen, wirtschaftliche und soziale Entwicklung, Armut und Arbeitslosigkeit, Gesundheit einschliesslich AIDS, Drogen, die steigende Rate der Scheidungen, bleibt wenig Raum. Ein übernationaler Sender hat da nicht den richtigen Zugriff, weil die Dinge in ihren spezifischen Gegebenheiten in einem jeden Land, manchmal einer jeden Region, unterschiedlich gelagert sind. Sie müssten in jedem Land in ihrer dortigen lokalen Natur und Variante angesprochen werden.
Natürlich versuchen die Regierungen, unliebsame Meinungen aus dem Internet zu entfernen. Strafen für Bloggers nehmen zu. Journalisten von al-Jazeera werden eingekerkert, wie derzeit in Ägypten. Begründet wird dies mit "Beleidigung des Staates, oder des Islams" sowie der "Verbreitung falscher oder schädlicher Nachrichten" usw. Doch bisher sind die Machthaber der neuen Medien nicht Herr geworden.
Gleichheit einzig für Artgenossen
"Ein Meer von Opfern" überschreibt der Verfasser das Kapitel der Diskrimination. Er hält einleitend fest, dass dieser Begriff zwar bekannt ist und scharf kritisiert wird, solange es um Diskriminationen im Ausland geht, im Westen vor allem. Im Inland wird Diskrimination meist ignoriert. Nicht weil es keine Diskrimination gibt, sondern weil sie als dermassen selbstverständlich, oft gottgegeben, erscheint, dass man sie nicht wahrnimmt. Dies hängt ohne Zweifel mit dem Jahrhunderte alten Millet-System des Osmanischen Reiches zusammen, das seinerseits aus dem islamischen Dhimmi Wesen erwachsen ist. Eine jede Gemeinschaft, Religionsgemeinschaft besonders, besteht für sich, und es gibt eine staatlich festgelegte Rangordnung unter ihnen. Dies bewirkt, dass die Gemeinschaften - geheiratet wird innerhalb einer jeden von ihnen - eine starke Innenorientierung aufweisen, so wie die Familie und der Klan. Die Aussenseiter, auch wenn sie in der staatlichen Rangordnung höher stehen, werden primär als Aussenseiter, mehr oder minder gefährliche Fremde, gesehen. Sie gehören "zu den Anderen", denen man weniger traut, wenn man sie nicht gar als Bedrohung ansieht, andersartig und letzlich "schlechter" als die eigenen Leute. Sie diskriminierend zu behandeln ist "richtig". Vom Ausland erwartet man eine andere Haltung, wie sie ja dort auch gepredigt wird. Bei uns ist es "so".
Die Folgen zeigt Whitaker im Detail. Es gibt positive und negative Diskrimination, weil man "unseren" Leuten hilft, die "Fremden" fern hält. Die oben erwähnte "Wasta" erhält dadurch einen weiteren Dreh. Fremdarbeiter stehen zu unterst in der Rangordnung. Leute mit weisser Hautfarbe und dicken Geldbeuteln fast zu oberst, nur Fürstlichkeiten noch darüber.
Minoritäten werden ignoriert
Klassenunterschiede können so ausgeprägt sein, dass die Unteren kaum als Menschen wahrgenommen werden. Sie interessieren auch nicht. Der Staat erweist sich als besonders unfähig, mit Minoritäten umzugehen. Er ignoriert sie normalerweise und ignoriert auch, wenn seine Agenten sie unter Druck setzen. Wenn sie aufbegehren, schlägt er gegen sie mit besonders harter Hand zu.
Es kommt vor, dass frühere Minoritäten die Macht an sich reissen. die Schiiten heute im Irak, die Alawiten gestern und heute in Syrien. Dies wird dann von den Mehrheitsgemeinschaften als eine Verkehrte Welt angesehen. Die richtige Rangordnung muss wieder hergestellt werden. Für eine die Macht ausübende Minderheit heisst das, wenn sie zu Fall kommen sollte, muss sie rächende Vernichtung gewärtigen. Deshalb hält sie zusammen durch dick und dünn.
Instrumentalisierung der Gruppen
Die tiefen Gräben zwischen den Gruppierungen ethnischer oder religiöser Natur bewirken, dass Politiker, Demagogen und Religionsunternehmer oft in der Lage sind, die eine gegen die andere auszuspielen. Angst vor der Anderen bewirkt, dass die eigene Gemeinschaft sich zusammenschliesst, kampfbereit unter Umständen. Wer Gemeinschaften gegeneinander aufgehetzt hat, kann dann als Beschützer und Anführer seiner Seite auftreten und dadurch eine Führungsposition erlangen. Dies bringt oft tödliche Unruhen bis in den Bürgerkrieg. Der Bürgerkrieg wird verschärft und kann Jahre lang dauern, wenn äussere Mächte auf beiden Seiten eingreifen.
Wenn es zu Konversionen aus der eigenen in eine fremde Religionsgemeinschaft kommt, werden tief sitzende Instinkte und Konventionen berührt. Die Weltordnung, so wie sie nun einmal besteht, scheint verletzt und in Frage gestellt. Der häufigste Grund für Konversionen sind Liebesbeziehungen über Konfessionsgrenzen hinweg. Sie gelten als illegitim und werden bestraft durch Ausschluss aus der Famiie und manchmal durch Mord. Sie oder auch nur Gerüchte über sie können zu Unruhen und zu Massenmord führen.
Die Globalisierung kommt auf jeden Fall
"Fremde Tomaten" ist Whitaker's Kapitel über die Globalisierung. Weil die Tomaten, als sie Ende des 18. Jahrhunderts in Aleppo bekannt wurden, ihrer roten Farbe wegen als "Teufelshinterteile" verurteilt wurden. Die Gotttesgelehrten verboten ihren Gebrauch. Inzwischen sind sie Bestandteil der traditionellen Küche geworden.
Globalisierung im Sinne der Wanderung und Übernahme von Dingen und Techniken hat es immer gegeben. Doch die Geschwindigkeiten und die Massen haben gewaltig zugenommen. Die Barrieren dagegen sind in der letzten Zeit abgebaut worden. Es besteht auch ein Machtfaktor. Die Einflüsse bewegen sich überwiegend von den Mächtigeren zu den ohnmächtigeren Völkern. Das hilft mit, die Bewegung als Bedrohung wahrzunehmen.
In der arabischen Welt wird die Globalisierung in erster Linie stets als eine Bedrohung der eigenen Lebenssphäre gesehen, "ein Akt der kulturellen Vergewaltigung und der symbolischen Aggression anderer Kulturen", sagt einer. "Eine beschönigende Beschreibung der Aggression der grossen Kapitalisten gegen alle Länder," ein anderer. "Kolonialismus heute ist nicht mehr militärisch, er ist finanziell". Dabei gerät in Vergessenheit, dass das arabische Erdöl einen unbestreitbaren Teil der Globalisierung bildet, mahnt Whitaker. Dazu gehören auch die grossen Geldanlagen aus arabischen Erdölländern im Westen.
Ablehnung des Unvermeidlichen
Die alten Grenzen werden aufgeweicht im Zuge der Globalisierung. Doch die arabischen Regierungen bestehen auf ihrer Souverainität, weil sie ihnen erlaubt, so zu regieren, wie sie es für gut befinden. Ihre Haltung bewirkt jedoch, dass ihre Länder. ihre Wirtschaft und ihre Institutionen, zunehmend an Wettbewerbsfähigkeit verlieren, was letztlich durch den absinkenden Lebensstandart der Bevölkerung ausgeglichen werden muss. Wer schlechter arbeitet, muss billiger arbeiten, um Arbeit zu erhalten. Wo es Erdöl gibt, begleicht dieses die Rechnung.
Die Menschenrechte gehören in den gleichen Zusammenhang. Ihrem grenzüberschreitenden Wirkungsanspruch wird gern von den Staaten eine nationale Souverainität entgegengestellt, die das Recht beansprucht, nach eigenem Gutdünken zu handeln - zum Nachteil der betroffenen Opfer natürlich.
Immer in der Opferrolle
Sich selbst als Opfer ihrer Geschichte zu sehen, ist unter Arabern weit verbreitet. Wobei die kolonialen Aussenmächte als die einzig Schuldigen gelten. Das lenkt ab von der Erkenntnis eigener Fehler. Die Region ist in der Tat Spielball von fremden Interessen gewesen und weitgehend geblieben. Manche Regierungen haben gelernt, dies auszunützen, um sich selbst an der Macht zu halten. Zum Beispiel, indem sie gegenüber den fremden Interessen als Gewährleister der Stabilität auftreten. Doch die Globalisierung greift um sich, auch im arabischen Raum. Ihre Wirkung lässt sich ablesen, zum Beispiel daran, dass die Frauen in einer Generation sehr viel mehr Freiheits- und Mitsprache Rechte erlangten. Nur Erdölstaaten können es sich noch erlauben, auf ihre Arbeitskraft zu verzichten. Staaten, die versuchen, die Globalisierung auszusperren, verurteilen sich selbst zur Isolation und Stagnation. Das gilt auch für die arabischen Staaten.
In Europa gab es mehr Zeit für Mentalitätswandel
Alle die Schwierigkeiten und Missstände, die Whitaker dokumentiert und analysiert, hat es auch in der europäischen Welt gegeben. Doch diese hatte ein paar Jahrhunderte Zeit, um die meisten davon wenn nicht ganz zu tilgen, so mindestens soweit zu reduzieren, dass sie funktionierende Regime mit Mitspracherecht für ihre Bevölkerung einrichten konnte. Katastrophale Zusammenbrüche gab es dabei allerdings ebenfalls.
In der arabischen Welt besteht eine gegenwärtige Häufung der Missstände. Sie müssten alle zusammen auf einmal angepackt werden. Reformen wären die notwendige Grundlage für die erhoffte Demokratie. Ohne Reformen kann diese nur schwer zustande kommen und unmöglich fortdauern. Kommt dabei das Ei zuerst, in der Form einer neuen legalen Ordnung, oder das Huhn der neuen Mentalität aus der diese neue Ordnung hervorgehen müsste? Die Antwort kannn nur lauten: beides muss zustande kommen, verschränkt in gegenseitiger Stützung. Was die bisherige Erfahrung seit 2011 sehr deutlich lehrt, dürfte dass die alte Mentalität, wenn keine Reformen zum Durchbruch gelangen, keine neuen Regime hervorbringen wird.