Die Grossoffensive gegen Tirkrit, die am 1. März begann, setzt 27'000
Mann gegen die von IS besetzte und seit dem vergangenen Juni gehaltene Heimatstadt Saddam Husseins am Tigris ein. Es ist die grösste Offensive, die bisher der irakische Staat gege IS unternommen hat.
Neue Mobilisierung schiitischer Milizen
Von den an ihr beteiligten 27'000 Mann sind 18'000 Mannschaften der
neuerdings so genannten "Volksmobilisationskräfte". Dies sind die
schiitischen Milizen, die im vergangenen Juni mobilisiert wurden, als
die irakische Armee unter den Schlägen von IS zusammenzubrechen
drohte. In Wirklichkeit war dies eine Re-Mobiliserung der schiitischen
irregulären Kräfte, die in den Jahren 2006 und 2007 den
Untergrundkrieg gegen die irakischen Sunniten geführt hatten.
Die berühmteste und berüchtigste dieser Kräfte war die Badr-Miliz. Sie
bestand schon seit dem irakisch-iranischen Krieg (1980-88). Ihre
Kämpfer waren ursprünglich irakische Schiiten, Feinde Saddams, die
nach Iran geflohen oder übergelaufen waren und dort zu den Badr-
Kräften zusammengefasst wurden. Ihre Leitung lag bei der Hakim
Familie, die mehrere irakische Ayatollahs hervorgebracht hat.
Diese Badr-Kräfte werden heute mit dem Namen Badr-Organisation bezeichnet, und sie stehen zur Zeit unter dem militärischen Kommando von Abu Mahdi al-Muhandes. Sie bilden wahrscheinlich die wichtigste der Milizen, die zu der "Volksmobilisation" gehören. Neben ihnen kennt man die Namen von 14 weiteren Gruppen.
Iranische Patenschaft
Iran hat sich dieser stets schiitischen Kräfte angenommen, deren
wichtigste schon seit 35 Jahren mit dem iranischen Regime verbunden
sind. Iran hat die Ausrüstung und Ausbildung dieser Kräfte übernommen. General Qassem Solaimani, der Chef der sogenannten Quds Kräfte Irans, welche die aussenpolitische Seite der Geheimdienste der iranischen Revolutionswächter bilden (gewissermassen die CIA Irans), befindet sich seit Monaten im Irak und beaufsichtigt die "Volksmobilisation" der irakischen Schiiten. Ausbilder und Berater von Seiten des libanesischen Hizbullah und auch des - kleineren und weniger bekannten irakischen Hizbullah unterstützen die iranischen Revolutionswächter bei dieser Aufgabe.
Als Sturmtruppe vorgesehen
Die "Volksmobilisation" - der Namen wurde offenbar gewählt, um die
schiitisch konfessionelle Natur dieser Kräfte zu überdecken - soll
anlässlich der gegenwärtigen Offensive zum ersten Mal auch schwere
Waffen von Iran erhalten haben. Neben den 18'000 dieser ausgesprochen schiitischen und deutlich pro-iranischen Kräfte stehen auch 2'000 Sunniten in der Offensive, die zu den sunnitischen Stämmen gehören, welche sich früh für die Regierung von Bagdad und gegen IS entschieden haben. So bleiben nur rund 7'000 Mann der irakischen regulären Sicherheitskräfte übrig, und von ihnen sind nicht alle reguläre Soldaten. Auch Sonderkräfte der bewaffneten Polizei und Spezialtruppen Bagdads stehen im Einsatz.
Der iranische General im Hintergrund
Die Gesamtleitung der Offensive scheint in den Händen von General
Solaimani zu liegen, der sich unmittelbar hinter der Front befinden
soll. Allerdings wird sein Namen nicht offiziell genannt, weil es sich
bei ihm um einen iranischen General handelt, der diesen irakischen
Krieg führt. Man hat zu erwarten, dass die Volksmobilisation (zwei
Drittel der Kämpfer) unter seinem Oberkommando die eigentlichen
Sturmtruppen bilden wird, wenn es zu Strassenkämpfen innerhalb von
Tikrit kommt.
Die irakische Armee dürfte mehr das Artilleriefeuer beitragen. Schon gegenwärtig steht die Stadt Tikrit unter Artilleriebeschuss. Doch die Kampfesfronten sind noch rund 20 Kilometer entfernt von der eigentlichen Stadt, und die Armeesprecher geben zu, dass der Vorstoss nur langsam vorankomme, weil die IS Verteidiger Minen und Sprengstoff-Fallen an allen Zugangsachsen gelegt haben und auch Heckenschützen einsetzen, so dass alle Strassen geräumt
und alle Dörfer der Umgebung einzeln erkämpft und abgesichert werden müssen. Auf acht Kilometer Strasse, so wurde gemeldet, hätten über hundert solcher Todesfallen entschärft werden müssen.
Ein Dreistufen Plan
Es soll zwei schwerbefestigte Hauptpositionen geben, die IS zu halten
sucht, eine im Flecken ad-Dour, etwa 19 km südlich von Tikrit und die
andere in Tikrit selbst. Beide Positionen hat die Offensive bisher
noch nicht erreicht. Doch der Fall mehrer Dörfer südlich und nördlich
der Stadt und die Besetzung der wichtigen Verbindungsstrasse nach
Osten, die in die Nachbarprovinz Diyala führt, wird gemeldet.
Das Tigris-Tal bildet nur einen schmalen Streifen bebauten Landes.
Westlich liegt reine Wüste und östlich öffnet sich die etwas dichter
besiedelte Diyala Provinz. Das Tigris-Tal selbst, südlich und
nördlich von Tikrit, befindet sich in Händen der Regierungstruppen.
Der Offensivplan sieht drei Phasen vor: weiträumige Umfassung der
Stadt, engere Umzingelung der eigentlichen Stadt und schliesslich
Sturm auf die Stadt und ihre Reinigung. Vorläufig befindet die
Offensive sich noch im Stadium eins.
Keine Mitwirkung der Amerikaner
Bemerkenswert ist, dass die gegenwärtige Offensive keine
Luftunterstützung durch die amerikanische Luftwaffe und ihre alliierten
Kräfte angefordert hat. Dies hat vermutlich mit der iranischen Färbung
der gegenwärtigen Offensive zu tun. Es ist ein "iranischer" Krieg gegen
IS, kein "amerikanischer". In Washington hat General Dempsey, der
den amerikanischen Krieg gegen IS koordiniert, bemerkt, die Tikrit-
Offensive "kann sich als nützlich erweisen. Es bestehen jedoch
Bedenken in Bezug auf die zivile Bevölkerung".
Was geschieht mit den Sunniten?
Die Bevölkerung von Tikrit sind Sunniten. Es scheint allerdings, dass
die Stadt weitgehend entvölkert ist. Dies ist nicht unwahrscheinlich,
weil schon viele Offensiven und Dauerbeschiessungen von Tirkit durch
die irakische Armee stattgefunden haben, was zweifellos zur Flucht all
jener Bewohner geführt hat, die zu fliehen vermochten. IS scheint im
Gegensatz zu seinem Verhalten in Mosul, in Tikrit nicht darauf
bestanden zu haben, dass die Bevölkerung bleibe.
Als die Offensive ausgelöst wurde, versammelte Ministerpräsident
Abadi die führenden Offiziere und schärfte ihnen ein, sie hätten für
"den Schutz der Zivlbevölkerung" zu sorgen. Dies geschah nicht ohne
Grund. Vor der Tirkit-Offensive wurden Armee und Volksmobilisation, in
ähnlichen Proportionen wie nun vor Tirkit, in Diyala eingesetzt. Dies
ist eine Provinz, in der Schiiten und Sunniten, gewöhlich in separaten
Siedlungen, leben. IS wurde aus den meisten Positionen
zurückgedrängt, die er in Diyala gehalten hatte.
Doch Klagen wurden laut, nach denen die Leute der "Volksmobilisation" gegen die Bewohner sunnitischer Ortschaften, die IS räumen musste, vorgingen, oft mit dem Vorwurf, sie hätten IS geholfen oder mit IS sympathisiert. Mindestens 70 Personen sollen ermordet worden sein, und ganze Dörfer flohen. Unter IS waren sie in ihren Häusern geblieben, und ihren Erklärungen nach, war ihnen nichts geschehen. Doch die (schiitische) "Volksmobilisation" wurde für sie Grund zur Flucht.
Rache für "Speicher"
Trotz den Mahnungen des Ministerpräsidenten erklärte der oben erwähnte Anführer der Badr-Milizen, Abu Mehdi al-Muhandis, der von den USA 2009 zum "globalen Terroristen" erklärt worden war, eher onimös, die Bewohner von Tikrit seien aufgefordert, die Stadt zu räumen, "damit unsere Rache für das Speicher Massaker stattfinden kann." Abu Mehdi al-Muhandes gilt als dem iranischen General Solaimani eng verbunden.
Mit dem Speicher-Massaker hat es die folgende Bewandtnis: westlich von Tikrit in der Wüste liegt eine Grossbasis, die schon unter Saddam
bestand und von den Amerikaner ausgebaut worden war. Sie besitzt zwei Landepisten für Flugzeuge. Die Amerikaner nannten sie "Speicher Camp" und der Namen blieb, obwohl der Ort nun offiziell als die
"Luftakademie von Tikrit" bezeichnet wird. Dort befanden sich 1'700
Rekruten, die für die noch zu bildende irakische Luftwaffe ausgewählt
worden waren und ihre erste Ausbildung begonnen hatten, als IS im
vergangenen Juni Tikrit überflutete.
Die weitaus meisten dieser Rekruten waren, wie damals für die irakische Armee normal, Schiiten. Von ihnen sollen "mindestens 1000", nach anderen Quellen "zwischen 550 und 700", von IS ermordet worden sein. Es gibt Videos von den Erschiessungen. Nur ein kleiner Teil vermochte zu fliehen. Die Überlebenden, die Bagdad erreichten, erklärten, ihre Offiziere seien als erste geflohen und hätten sie unbewaffnet im Stich gelassen.
Vorschnelle Rede von einer Mosul-Offensive
In den Tagen, in denen der nun begonnene "iranische" Krieg gegen
Tikrit vorbereitet wurde, kam es zu Spannungen zwischen den
Amerikanern in Bagdad und der irakischen Regierung sowie den
irakischen Parlamentariern. Hauptgrund scheint gewesen zu sein, dass
amerikanische Quellen der amerikanischen Presse erklärt hatten,
Washington plane eine Grossoffensive des Iraks gegen Mosul im
kommenden Frühling "noch bevor es zu heiss werde". Die Iraker warfen
den Amerikanern vor, sie hätten dadurch das Überraschungsmoment
zerstört, und natürlich waren sie ärgerlich, über die Formulierung,
nach der die Amerikaner den Krieg des Iraks zu planen gedächten, nicht etwa die irakische Regierung.Das Pentagon erklärte beschwichtigend, es habe sich bei der Bekanntmachung "um einen Fehler" gehandelt, und es versprach eine Untersuchung.
Die Behandlung der Sunniten ist die wichtigste Frage
Die gegenwärtige Offensive gegen Tikrit kann in der Tat als ein erster
und notwendiger Schritt gesehen werden, der vor einer Grossoffensive
gegen Mosul getan werden muss. Doch sogar wenn die Tikrit-Offensive
erfolgreich verläuft, bietet sie keine Garantie, dass auch Mosul
erfolgreich zurückerobert werden kann. Tikrit liegt etwa 150 km
nördlich von Bagdad, Mosul gegen 400 km immer durch sunnitisch
bevölkertes Land. In Mosul gibt es immer noch eine Bevölkerung von rund 750'000 Menschen, nachdem eine halbe Million geflohen sind. Die
städtische Oberfläche von Tikrit beträgt rund 15 km², jene von Mosul
400 km².
Wichtiger noch als alle Offensiven und in Aussicht gestellten
Grossoffensiven dürfte für die Zukunft des Iraks Frage sein, ob es der
Regierung von Bagdad gelingen wird, die sunnitischen Bevölkerungsteile des Iraks (nach Abzug der Kurden zwischen 20 und 25 Prozent der Gesamtbevölkerung) von IS zu entfernen, oder ob die arabischen Sunniten des Iraks ihre schiitischen Gegenspieler und bisherigen Feinde weiterhin mehr fürchten und hassen werden als die IS-Terroristen.
Dies hängt natürlich weitgehnd davon ab, wie sich die nun vor der Eroberung sunnitischer Gebiete stehenden Soldaten und
Volksmilizen gegenüber den Sunniten verhalten, die sie von IS
"befreien". Wenn mehr Massaker in der Art jener von Diyala vorkommen, werden die Sunniten den Weg zurück zur Zusammenarbeit mit Bagdad nicht finden. Ohne diese Zusammenarbeit jedoch ist ein vollständiger Sieg über IS schwer vollstellbar.