Der saudische zweite Thronfolger, Prinz Muhammed Ben Salman, der als Lieblingssohn des Königs Salman gilt, befindet sich auf einer Reise durch die USA. Zu seinem grossen Gefolge gehören neben den Mitarbeitern zahlreiche Geschäftsleute. Er hat sich mit Präsident Obama und Verteidigungsminister Ashton getroffen, doch der Hauptakzent der Reise liegt auf geschäftlichen Interessen und Public Relations.
„Horizont 2030“
Dem Prinzen und zweiten Thronfolger geht es darum, seine ambitionierten Pläne für die wirtschaftliche und soziale Zukunft Saudi Arabiens zu schildern und für sie zu werben. Im Rahmen dieser Pläne sucht er unter anderem Kontakte zur Informatikbranche. Zu seinen vielen Plänen gehört, Saudi Arabien zu einem Zentrum digitaler Entwicklung nach dem Vorbild von Silicon Valley zu machen. Zu diesem Zweck hat er unter anderem einen Vertrag mit Microsoft abgeschlossen, um junge Saudis zu Informatik-Spezialisten ausbilden zu lassen.
Die Pläne des Prinzen firmieren unter „Horizont 2030“. Sie sehen vor, dass das Königreich bis 2030 wirtschaftlich und sozial umgemodelt wird. Es soll aus einem auf Erdöleinnahmen basierenden Rentnerstaat zu einem Staatswesen werden, dessen Wirtschaft den Staat zu tragen vermag. Dazu gehören unter anderem neben der Informatik auch der Religionstourismus in grossem Stil, Photovoltaik, Finanzdienstleistungen. Die Frauen sollen in diesen produktiven Prozess einbezogen werden. Die staatliche Erdölfirma Aramco soll teilweise in eine Aktiengesellschaft umgewandelt werden, was nach den Erwartungen des Prinzen und seiner Fachleute zusätzliche Milliarden einbringen wird.
Ganz neue Zeiten?
Das Königreich hat auch 3,5 Milliarden in die Firma "Uber" investiert, die bekanntlich auf privater Basis Taxifahrten organisiert. Wenn dieses System in Saudi Arabien eingeführt würde, könnte es den Frauen, die bekanntlich keine Autos lenken dürfen, grössere Beweglichkeit gewähren. – Doch wird das möglich sein, ohne den Zorn der Gottesgelehrten heraufzubeschwören? Sie sind der Ansicht, dass Frauen sich nicht in geschlossenen Räumen zusammen mit Männern, die nicht ihre nächsten Verwandten sind, aufhalten dürfen.
Manche Beobachter innerhalb und ausserhalb des Königreiches sehen diese Entwicklungen als einen vielversprechenden Neuanfang. Da zunächst sehr viel Geld fliessen soll, finden sich diese Optimisten überwiegend bei jenen Anbietern, die als erste von den Investitionen profitieren.
Mentalitätswandel im Eiltempo?
Skeptischere Beobachter glauben, dass der notwendige Mentalitätswandel im Königreich nicht derart rasch erfolgen kann, wie es der auf 14 Jahre angesetzte „Horizont“ erfordern würde. Sie weisen auf die tief konservativen Mächte hin, die zu den tragenden Pfeilern des Königreiches gehören, die wahhabitischen Religionsgelehrten an erster Stelle. Sie fragen auch, ob die angestrebte wirtschaftliche und soziale Modernisierung unter den gegenwärtigen humanitären Mängeln und Missständen überhaupt umsetzbar ist. Es gib keine Gedankenfreiheit; Gerichte, die intransparent funktionieren; Regierungsorgane und Machthaber, deren Entscheidungen willkürlich und nicht anfechtbar sind.
Man könnte auf China verweisen, wo ähnliche Zustände bestehen, aber der materielle Fortschritt dennoch zustande kam. Doch dies beruht weitgehend auf dem Fleiss der Chinesen, demgegenüber die Saudis als bequem und verwöhnt gelten müssen. Bisher waren sie nie gezwungen, hart anzupacken. Dafür gab es die Fremdarbeiter.
Nur Propaganda?
Manche Skeptiker sind der Ansicht, die grossen Pläne seien im Wesentlichen nur eine Fassade, die dazu dienen soll, die saudischen Untertanen von den bestehenden und noch bevorstehenden Krisen und Engpässen abzulenken: sehr hohe Arbeitslosenquote für die schnell wachsende junge Generation; ein Ölpreis, der nicht mehr erlaubt, die bisherigen grosszügigen Subventionen für das tägliche Leben der Mittel- und Unterschichten fortzuführen. Elektrizität wird teurer, Benzin ebenfalls, Grundlebensmittel desgleichen, und das Staatsbudget weist dennoch gewaltige Defizite auf, die aus den Reserven finanziert werden müssen. Eine Umsatzsteuer soll demnächst eingeführt werden – die erste Steuer im Königreich.
Es gibt einen Krieg in Jemen, dessen Ende nicht absehbar ist. Der IS versucht, das Königreich durch Bombenanschläge zu erschüttern, wie soeben durch einen Anschlag in Medina neu unterstrichen wurde. Die schiitische Provinz al-Hasa, wo das meiste Erdöl gefördert wird, ist unruhig. Saudi Arabien führt einen kalten Krieg gegen Iran in der Form eines kostspieligen Stellvertreterkriegs in Syrien und eines diplomatischen Ringens in allen Staaten der arabischen sowie in einigen weiteren der islamischen Welt, in dem auch viel Geld eingesetzt wird.
Zwei antagonistische Lager
Es gibt Gerüchte, dass Prinz Muhammed schon bald König werden wolle. „Noch dieses Jahr“, versichern manche seiner Parteigänger. Doch diese Gerüchte besagen auch, er müsste zu diesem Zweck den ersten Thronfolger, Prinz Muhammed ben Nayef, überspielen. Ausserdem müsste natürlich König Salman zu Gunsten seines Sohnes zurücktreten.
Muhammed Ben Nayef ist in manchem ein Gegenstück zu Muhammed Ben Salman. Er schweigt, aber er handelt. Sein Vater Nayef Ben Abdul Aziz war lange Zeit Innenminister und der Sohn, Muhammed, war sein Stellvertreter. Er rückte nach in den Ministersessel, als sein Vater starb. Gleichzeitig wurde er auch, vom vorausgegangenen König, Abdullah Ben Abdul Aziz, zum Thronfolger ernannt. Pinz Nayef und sein Sohn haben vom Innenministerium aus den Kampf gegen al-Qaida und den IS weitgehend erfolgreich geführt.
König Salmans Wahl
Er ist noch nicht beendet. Doch bisher ist er soweit erfolgreich verlaufen, dass das Königreich stabil bleiben konnte. Anlässlich des jüngsten Anschlags von Medina gab das Innenminsterium bekannt, in den letzten anderthalb Jahren, seit Beginn 2015, seien 40 tödliche Bombenanschläge in Saudi Arabien durchgeführt worden. Die meisten und blutigsten fanden in der schiitischen Provinz al-Hasa statt. Wahrscheinlich weil der IS versucht, dort einen schiitisch-sunnitischen Bürgerkrieg zu entfachen, wie es dem Vorgänger al-Bagdadis, al-Zarkawi, im Irak 2007 und 2008 gelang. Al-Nayef und sein Sohn Muhammed besitzen das Prestige, das aus ihrer weitgehend erfolgreichen Abwehr der jihadistischen Angreifer hervorgeht. Sie verfügen auch über eine bedeutende Gefolgschaft im Bereich der Sicherheitskräfte.
So ungewiss die Gerüchte bezüglich der ehrgeizigen Pläne des zweiten Thronfolgers sind, kann man dennoch aus ihnen schliessen, dass es offenbar zwei miteinander ringende Parteien gibt, jene des zweiten Thronfolgers, Mohammed Ben Salman, und die des ersten Thronfolgers, Mohammed Ben Nayef. Ben Salman hat auf die Karte der „Modernisierung“ und „Globalisierung“ gesetzt, Ben Nayef auf jene der Tradition und der Sicherheit unter Einsatz der konservativen Mächte und der diversen Geheimdienste. König Salman hat die Wahl: Er kann sich entweder an der Macht halten, indem er die beiden Kräfte und Klientelgruppen gegeneinander ausspielt und ausbalanciert. Oder er kann – falls er das wünschen sollte, oder seine Gesundheit ihn dazu zwingt – die Zukunft des Königreiches den hochfliegenden Plänen seines Lieblingssohns anvertrauen.