Noch ist offen, ob Amerikas Justiz neben einzelnen Randalierern auch Ex-Präsident Donald Trump wegen seiner Beteiligung am Sturm seiner Anhänger aufs Capitol vom 6. Januar 2021 zur Rechenschaft ziehen kann.
Am 6. Januar 2022 jährt sich erstmals der Sturm auf das Capitol in Washington DC. Die teils bewaffneten Aufständischen waren einem kaum verklausulierten Aufruf Donald Trumps gefolgt, zum Parlament zu marschieren und Vizepräsident Mike Pence daran zu hindern, das Ergebnis der amerikanischen Präsidentenwahl vom 3. November 2020 im Kongress zu beglaubigen.
Was genau an jenem Mittwochnachmittag wie und weshalb geschah, dürfte trotz einer Flut von Zeugnissen und Dokumenten noch einige Zeit offenbleiben. Dies, obwohl sich Kongress und Justiz intensiv mit den Vorfällen beschäftigen, bei denen fünf Menschen starben und an die 140 Polizisten verletzt wurden. Sicher nur, dass es nicht eine friedliche Demonstration war, wie Republikaner glauben machen wollten.
Richard Reich, Arbeitsminister unter Präsident Bill Clinton, hat im Londoner «Guardian» gefordert, Amerika müsse Donald Trumps «Neofaschismus mit Hoffnung begegnen». Für den Politologie-Professor der Universität Kalifornien sind vier Dinge sonnenklar: Donald Trump hat erstens zur Attacke auf das Capitol angestiftet; die Ereignisse des 6. Januar sind zweitens auf zwei Monate gefolgt, während derer der Ex-Präsident das Ergebnis der Wahl 2020 rückgängig machen wollte; Donald Trumps Putschversuch geht drittens weiter und all das ist viertens Ausdruck eines gravierenderen Problems, mit dem sich Amerika befassen muss.
Ein Sonderausschuss des Abgeordnetenhauses ist nach wie vor dabei, den Sturm auf das Capitol zu untersuchen und aufzuarbeiten. Keine Überraschung aber, dass Anhänger Donald Trumps im Kongress und ausserhalb des Parlaments die Arbeit des Gremiums mit allen Mitteln zu sabotieren versuchen. Auch sind die wenigen Abweichler der republikanischen Partei im Haus, angeführt von Liz Cheney, Tochter des Vizepräsidenten unter George W. Bush, unverhüllten Drohungen und Repressionen ausgesetzt. Sie sollen bei den Zwischenwahlen im Herbst 2022 durch Abwahl bestraft werden.
Immerhin ist Amerikas lokale Justiz nicht untätig geblieben, was die Verfolgung jener selbsternannten Patrioten betrifft, die sich am 6. Januar 2021 mutmasslich strafbar gemacht haben. Bisher haben Richterinnen und Richter landesweit 727 Individuen wegen Teilnahme an der Attacke auf das Capitol angeklagt und mit zum Teil harschen Strafen belegt. Mitte Dezember verurteilte Tanya Chutkan Robert Palmer aus Florida zu 63 Monaten Gefängnis, weil er Polizisten mit einem Feuerlöscher und einer Holzplanke angegriffen hatte. Die Richterin argumentierte, Individuen, die versucht hätten, «die Regierung zu stürzen» und «den friedlichen Machttransfer zu stoppen», würden mit absoluter Sicherheit bestraft.
Währenddessen verurteilte ein Washingtoner Gericht Devlyn Thompson aus Washington State zu 46 Monaten Haft, weil er Polizisten mit einer Metallstange und einem Megafon attackiert hatte. «Die Gewalt, die sich an jenem Tag zeigte, war Ausdruck einer kaltblütigen Missachtung von Regierungsinstitutionen», begründete Richter Royce Lamberth sein Urteil. Mehr als 140 Aufständischen droht dieselbe Anklage wegen Angriffs auf einen Polizisten mit einer gefährlichen Waffe.
Ebenfalls verurteilt worden ist Gary Edwards aus Pennsylvania. Er ist für ein Jahr auf Bewährung, muss 200 Stunden Dienst an der Gesellschaft leisten und eine Busse von 2’500 Dollar sowie 500 Dollar wegen Sachbeschädigung zahlen. Auf Facebook schrieb seine Frau, die ihn im sozialen Netzwerk ungewollt als gewalttätigen Demonstranten geoutet habe, ihr Mann sei im Capitol gewesen, da er zu jenen Leuten gehöre, «die zusehen müssen, wie ihnen ihre Rechte weggenommen, ihre Stimmen gestohlen werden, ihre Staatsbeamten die Verfassung ihres Landes verletzen».
Ein Bundesgericht in New York verurteilte zudem kurz vor Weihnachten Robert Lemke aus Kalifornien zu drei Jahren Gefängnis, weil er wiederholt Politiker und Journalisten sowie deren Familien bedroht hatte. Sein Fall hatte zwar nichts mit dem 6. Januar, sehr wohl aber mit Donald Trumps «grosser Lüge», der Leugnung des Ausgangs der Präsidentenwahl, zu tun.
Lemkes Verteidigerin argumentiere, ihr Mandant sei nach Trumps Abwahl «in ein tiefes Loch gefallen» und «in Falschmeldungen ertrunken», welche von Leuten inklusive des Präsidenten verbreitet würden, denen er vertraut habe. Er habe voll geglaubt, er beschütze die Wahl 2020 vor Lug und Trug, sagte der Angeklagte selbst. Leute wie Lemke glaubten, meinte ein von ihm bedrohter CNN-Journalist, sie seien «nie selber schuld».
Während die Mühlen der Justiz auf tieferer Ebene mahlen, müssen sich der Sonderausschuss im Abgeordnetenhaus und dessen 40 Mitarbeitende überlegen, ob sie nach Durchsicht von 30’000 Dokumenten und Interviews mit mehr als 300 Zeugen zur Einsicht gelangen werden, Donald Trump und andere hochrangige Beteiligte hätten sich vor und am 6. Januar eines Verbrechens schuldig gemacht. Unbeantwortet ist laut Juristen vor allem die Frage, ob Trumps «inaction», seine anfängliche Weigerung, zur Beendigung der Attacke aufzurufen, strafbar ist.
Bejaht der Sonderausschuss in Washington DC die Frage, so könnte er den Fall ans US-Justizministerium weiterleiten, was zwar direkt keine juristischen Folgen hätte, indirekt aber den Druck auf Justizminister Merrick Garland erhöhen würde, selbst tätig zu werden. Garland hat es bisher vermieden, sich in dieser Sache zu äussern. Viel länger wird aber nicht mehr schweigen können.