Die Bilder jener Nacht sind unvergessen: junge Männer, die rittlings auf der Berliner Mauer sitzen, Trabis, die laut hupend über den Kudamm fahren, Deutsche aus Ost und West, die sich lachend und weinend in den Armen liegen … Für meine Generation, die ihr gesamtes Erwachsenenleben im Schatten des Kalten Krieges zugebracht hatte, grenzten die Ereignisse im Herbst 1989 an ein Wunder. Keine feindlichen Blöcke, keine Grenzen mehr, Schluss mit dem Gleichgewicht des Schreckens, Schluss mit der dauernden Angst vor dem nächsten Krieg, so dachten wir und sollten uns grausam irren. Heute, am Vorabend des Jubeljahres, wissen wir, dass alles eine einzige grosse Illusion gewesen war. Die Welt ist nicht sicherer geworden, nur anders: unübersichtlicher, brüchiger und auf eine Weise bedroht, die unser Vorstellungsvermögen übersteigt. Die Amerikaner und die Israeli errichten neue Mauern, die Russen bringen Raketen gegen Nato-Länder in Stellung, auf Weihnachtsmärkten gehen Terroristen um, und im Mittelmeer ertrinken die Menschen.
Nein, so hatten wir uns das 1989 nicht vorgestellt. Auch wenn wir nicht unbedingt vom Ende der Geschichte ausgingen, so hofften wir doch auf das Ende der weltweiten Feindseligkeiten und den Beginn einer friedlicheren Welt. Mit Terror, Cyber-Kriminaliät und neu aufflammendem Nationalismus hatten wir nicht gerechnet: nicht mit einem Orban in Ungarn, nicht mit einem Putin in Russland und schon gar nicht mit einer AfD oder einer FPÖ in jenen Ländern, die den Zivilisationsbruch des 20. Jahrhunderts verschuldet hatten.
Wie jede Desillusionierung hat auch diese Katzenjammer und Ratlosigkeit zur Folge. Wie soll es weitergehen mit dieser unserer Welt? Noch mehr Populismus, noch mehr Terror, neue Kriege, neue Grenzen, die EU am Ende und der Kontinent eine einzige Festung? Ich weiss es nicht und kann mich eigentlich nur noch an Hölderlin halten, von dem der Satz stammt: „Wo aber Gefahr ist, da wächst das Rettende auch.“ Nur, wo soll es herkommen? Von den Mutigen, die auf der Strasse der staatlichen Repression trotzen? Von den Solidarischen, die Vertriebene bei sich aufnehmen? Von den Unentwegten, die lieber ins Gefängnis gehen, als sich korrumpieren zu lassen? Vielleicht. Unsere einzige Hoffnung: eines Tages sagen zu können, wir hätten auch zu ihnen gehört.