In Indien nennt man es die grösste kollektive Kunstinstallation der Welt. Immer im Oktober wird Kolkata Schauplatz tausender «Altäre». Die Heimkehr der siegreichen Göttin Durga wird in riesigen Strasseninszenierungen mit allen möglichen gesellschaftlichen Themen gefeiert. Eine Woche lang lebt die Stadt buchstäblich 24x7.
Bereits um drei Uhr waren wir unterwegs. Es war ein Leichtes gewesen, so früh aufzustehen. Wir waren ohnehin wach. Die ganze Nacht war der Luftraum über Kolkata ein gewaltiges Getöse von pochenden Rhythmen und Jahrmarkt-Musik gewesen, aus der manchmal die quälenden Tempeltöne der Shenai-Flöte piepsten. Wir waren längst unterwegs, als sich aus einer Vielzahl von Lautsprechern der erste Gebetsruf des Muezzin der Kakophonie anschloss.
Auch der Verkehrslärm tat kräftig mit. Wir waren überrascht von der Dichte der Blechlawine und der Tageshelle, in die Strassen und Flyovers getaucht waren. Um jeden Mast und jedes Geländer zogen sich wie Lianen oszillierende Lichtschlangen in die Höhe. Nur unter einer kilometerlangen Autobahnbrücke in Richtung Flughafen lag eine Dunkelzone: die verlassenen Gerbereischuppen der Chinatown. Dahinter machte der gewaltige Klotz eines Siebensternhotels deutlich, dass dort nun eine neue Boomtown hochgezogen wird.
Dabei waren, wie wir, die meisten Autofahrer eigentlich als Pilger unterwegs. Sie bewegten sich auf eines der vielen hundert Pandals zu. Es sind die öffentlichen Altäre an Plätzen und Strassen zu Ehren der Muttergöttin Durga – Durga Mata –, in denen acht Tage lang die Heimkehr der Mutter nach Kolkata gefeiert wird.
Wir wunderten uns nicht, als das GPS die Route rot markierte, lange bevor wir das Manipur-Pandal erreichten. Wir suchten einen anderen Zugang durch die engen Gassen der Vorstadt Arjunpur. Plötzlich war keine einzige Seele mehr zu sehen, kein Auto hupte. Hatten wir uns verfahren? Oder gehörten die schlafenden Bewohner vielleicht zur anderen Hälfte der Bevölkerung, die sich bei Tageslicht zu ihrer automobilen Pilgerschaft aufmachte?
Die Durga als Reisbäuerin
Das Manipur-Pandal war öffentlich. Im Gegensatz zu den privaten zuhause begnügen sich diese nicht mit einer grossen Terracotta-Statue der zehnarmigen Göttin, die den Löwen reitet und den blutigen Kopf des Büffeldämonen Mahish-Asura trägt, den sie soeben getötet hat. In Arjunpur glich Durga einer Reisbäuerin, die, den Sari hochgeschürzt, durch den Schlamm watet. Sie schien geradezu aus diesem Schlamm geformt, die amphibische Verbindung von Wasser und Erde. Eine Gruppe von Flüchtlingen schaute flehend zu ihr hoch, während aus dem Off eine sonore Männerstimme ihren Bittrufen mit Versen eines bengalischen Dichters aus dem 19. Jahrhundert eine Stimme gab.
Die Szenerie füllte einen ganzen Quartierplatz aus, der vermutlich gewählt wurde, weil sich auf der anderen Strassenseite ein Bauloch und ein Neubau befinden. So konnte der Kontext zur Not der flüchtenden Menschen gestaltet werden. Von der Neubaufassade herab wälzte sich eine Kaskade von Blechhütten, die sich über- und ineinander verkeilten. Das Erdbeben, auf das angespielt wird, war nicht ein physisches, sondern ein politisches.
Es nahm Bezug auf den Bürgerkrieg im Bundesstaat Manipur östlich von Bengalen, in dem sich seit einem halben Jahr lokale Stammesgesellschaften förmlich zerfleischen. Der ethnische Säuberungskrieg hat eine Fluchtbewegung bis nach Kolkata ausgelöst. Hier, so die Botschaft, soll die Göttin eingreifen, denn sie allein kann das Böse auf der Welt bezwingen.
Auch in Kidderpur im Zentrum der Stadt ist es eine Kaskade, die von einer Häuserfront herunterstürzt. Nur sind es hier Balkone. Das Thema dieses Pandals ist die Feier eines Materials, das den Terrakotta-Künstlern nahesteht: die Herkunft und Herstellung der Ziegel und ihre bauliche Apotheose in den Balkonen. Die Botschaft: Ziegel schaffen nicht nur Wände und setzen Grenzen, sie stehen auch für Offenheit, Kommunikation, Nachbarschaft.
Und auch hier thront die Göttin nicht auf einem Thron. Sie führt die Fischer und Handwerker im dünnen Bauern-Sari durch den Schlamm. Auch hier verweist die Form aus gebranntem und gestaltetem Schlamm, dieser Mischung von Wasser und Erde, auf das ökologische und ökonomische Fundament der bengalischen Deltaregion.
Geborgenheit inmitten bedrohlicher Urbanität
Wenn die Göttin wirklich einmal angebetet wird, dann ist es zum Beispiel tief im Innern eines Pandals im Norden der Stadt. Das flackernde Feuer, das ein Priester unterhält, gibt der Gestalt etwas Lebendiges, aber auch Bedrohliches. Denn man gelangt nur zu ihr, wenn man sich auf das Ungeheuer einlässt, das den Besucher auf der Strasse empfängt. Wiederum eine Baulücke in einer Wohnstrasse nutzend, krachen im Leerraum dazwischen ein riesiger Kopf und meterdicke Arme auf die Strasse.
Wer sich wundert, was damit gemeint ist, wird rasch aufgeklärt: Der menschliche Dämon trägt ein Gewirr von Wohnklötzen im Rücken. Er verweist damit auf die ungehemmte Urbanisierung, die die Menschen unter sich erdrückt. Aber das verzweifelte Gesicht des Unholds zeigt, dass er sowohl Täter wie Opfer ist. Kaum begibt man sich in den dunklen Gang zum Heiligtum, ist jede Bedrohlichkeit geschwunden.
Ein dichtes Gewebe zusammengeschnürter Jute staffiert wie ein warmes Polster Wände und Decke aus, schluckt die Verkehrsgeräusche und bringt in der Tiefe die Opferflamme zum Leuchten. Im Herzen der wilden Kreatur herrscht die Schutzgöttin, eine Waffe in jeder ihrer zehn Hände. Doch auch hier bringt sie den Besuchern – einige mit gefalteten Händen – eine tröstliche Botschaft: Selbst in einer brutalen Grossstadt müssen ihre Schutzbefohlenen nichts fürchten.
Die Vermischung von religiöser Ergriffenheit und Sozialkritik ist nichts Neues in der Puja-Tradition. Bereits im 19. Jahrhundert wurde das Fest zu einer politischen Plattform. Durga wurde als Bharat Mata inszeniert, die «Mutter Indien», die den kolonialen Dämon überwinden wird. Die Durga-Hymne eines bengalischen Dichters, beginnend mit «Vande Mataram» (Heil der Mutter) war zur Zeit des Unabhängigkeitskampfes so etwas wie die indische Nationalhymne. Der bengalische Dichter Rabindranath Tagore schuf dann eine neue, weil für ihn die hinduistische Symbolik schlecht zu einem neuen säkularen Staat passte.
Surreales Theater
Über 3000 öffentliche Pandals halten während acht Tagen im Oktober die Stadt fest in den Griffen der zehnarmigen Göttin. Die schiere Zahl und der Drang, möglichst viele Altäre zu besuchen, wird zu einer kollektiven Sucht. Auch unbeteiligte Besucher ergreift das Gefühl eines surrealen Theaters, in dem sie Zuschauer und Akteure sind. Sie waten mitten in der Nacht durch die Menschenmenge, mehr geschoben als zielstrebig, stehen kilometerlang Schlange, gefangen in einem Chaos flirrender Lichter und Töne, ihr Körper ein Gemisch von Erschöpfung, Ergriffenheit und magischer Leichtigkeit.
Am achten Tag wird endlich dem Hunger und Durst Tribut gezollt. Neben den Pandals bilden sich nun auch vor den Restaurants Menschentrauben. Die Durga Puja war ursprünglich wohl ein Erntedankfest, was sich in einem weiteren Brauch zeigt: In den ersten vier Tagen wird eigentlich nicht die Göttin verehrt, sondern eine rätselhafte halb zugedeckte Figur am Rand des Pandals, aus deren Öffnungen Pflanzen spriessen. Durga hatte zwar von den männlichen Göttern deren Attribute, die Waffen, auf den Weg zur Dämonenschlacht erhalten. Doch von den Göttinnen wurde sie mit deren Attributen ausgestattet, für die Zeit nach dem Kampf. Es sind neun Lebensmittelpflanzen und -kräuter, die den Grundstock jeder bengalischen Mahlzeit bilden.
Die Themen der Puja-Inszenierungen – Erde, Wasser, gesellschaftliche und ökonomische Prozesse, historische Ereignisse – haben sich schon im 19. Jahrhundert herausgebildet. Mit dem Wiedererwachen eines kulturellen Selbstbewusstseins suchten die Pandals den Weg in die Öffentlichkeit und gingen auf die Strasse. Damit wurden auch die Themen, deren bauliche Umsetzung und szenografische Gestaltung zum gemeinschaftlichen Besitz, sei es eines Quartiers oder einer Wohnsiedlung.
Jedes Pandal ist das Werk hunderter von Freiwilligen. Doch kaum ist das Fest zu Ende, wird die Göttin in ihr Element Wasser gelassen, wo sie sich wieder zu fruchtbarem Löss verwandelt. Die Kulissen werden abgetakelt, tausende Einzelstücke finden ihre Käufer. Und bereits organisiert die lokale Puja Association erste informelle Treffen, in denen das Thema des kommenden Jahres diskutiert und ein Arbeitsplan erstellt wird. Für viele Bewohner Kolkatas ist es das einzige Hobby, für das es sich zu leben lohnt.