Parag Khanna* mag keine Missverständnisse. So erklärt er uns schon mal, dass seinen Visionen eigentliche Szenarien zugrunde liegen. Visionen sind keine Vorhersagen, sondern Prozesse. Je variabler dabei die verschiedenen eingenommenen Perspektiven sind, desto besser die Szenarios („Perspektivenwechsel“).
Besonders eindrücklich seine Folgerung: Im 21. Jahrhundert der Konnektivität ist es obsolet, zwischen zwei Pol-Meinungen (links aussen gegen rechts aussen, resp. entweder/oder) meinen wählen zu müssen, sondern der Strauss, der Cocktail verschiedener Visionen (sowohl als auch) macht’s aus. Die Kombination unterschiedlicher Inputs ist matchentscheidend. Das nennt man dann: Postideologische Landschaft. Zukünftig werden nicht Ideologien, sondern der privilegierte Zugang zu Ressourcen und Infrastrukturen die geostrategischen Schachzüge bestimmen.
Die neue Welt der „Connectography“
Wenn einer seine Visionen der zukünftigen globalen Zivilisation auf 500 Seiten (*paperback) zusammenträgt, muss man wissen, dass ihm dazu rund 400 Menschen aus aller Welt Inputs gegeben haben. Damit ist schon gesagt, wovon die faszinierenden Gedankengänge des Autors Parag Khanna kundtun. „Connectography“ handelt von Konnektivität oder anders gesagt von der global vernetzten Welt, von der Netzwerkfähigkeit der Zivilisation, dem über alles entscheidenden Faktor der (Internet-) Vernetzung, die nationale Grenzen ignoriert.
Khanna selbst ist das lebende Beispiel des neugierigen Menschen des 21. Jahrhunderts mit Visionen. Nassim Nicholas Taleb bestätigt kurz und bündig: „Parag Khanna has vision.“
Parag Khanna (*1977) ist indisch-amerikanischer Politikwissenschaftler und Experte für Globalisierung und Geopolitik am „Center on Asia and Globalisation“ der Nationaluniversität Singapur und wohnt mit seiner Familie in Singapur.
Das Internet verstehen?
„Das Internet ist die erste von der Menschheit erbaute Sache, die die Menschheit nicht versteht. Es ist das grösste Experiment in Anarchie, das wir je hatten.“ (Eric Schmidt, Chairman, Google) Soviel als Einstieg. Khanna zeichnet andere Weltkarten. Sie zeigen die neuen Zusammenhänge der Internet-Weltordnung, die sich nicht nach nationalen Grenzen ausrichtet. Am Anfang steht jene des Internets. Das Internet ist überall, jedoch schwierig zu „sehen“. Es wurde geboren, um Distanzen zu überwinden. Wissenschaftler aus der ganzen Welt entwickelten effiziente Werkzeuge, um enorme Datenvolumen zu verarbeiten und zu teilen. Das Internet wurde in einer Welt ohne Grenzen entwickelt, erfährt jedoch die Hemmnisse staatlicher Eingriffe. Wer wird das Cyber-Seilziehen gewinnen?
Internet-Service-Anbieter sind inzwischen selbst Telecomfirmen geworden: Google verbindet mit seinem „Wi-Fi Zeppelin blimps“ ganze Völker ohne Netz mit seinem Angebot. Internet-basierte Telefonie wie Skype oder WhatsApp haben längst alle Gebühren eliminiert – die lästigen (und in der Schweiz viel zu hohen) Roaming-Gebühren sind passé. Heute sind weltweit über 30 Millionen Personen in der Software-Industrie tätig (die vor 40 Jahren überhaupt nicht existierte und die sich niemand vorstellen konnte).
Wer also schwarz malt bezüglich steigender Arbeitslosigkeit, sollte mal kurz innehalten: Weder sie noch wir alle wissen, welche „Industrien“ Menschen auf dieser Welt in 40 Jahren beschäftigen werden.
Die Welt neue zusammenschweissen?
Indem Khanna uns durch seine Visionen der am Horizont auftauchenden, globalen Netzwerkzivilisation führt, in denen Mega-Städte untereinander über Konnektivität konkurrieren, werden nationale Grenzen immer unbedeutender. Worüber sich die Konflikte des 21. Jahrhundert entzünden werden: Das gigantische Seilziehen um Pipelines, Internet-Kabel, fortgeschrittene Technologien und Marktzutritt.
Khanna beschreibt die riesigen Chancen dieser Entwicklung und fokussiert dabei wohl etwas wenig auf parallel dazu entstehende Risiken. Doch sieht er durchaus das momentan bestehende Chaos einer Welt, die auseinanderzufallen scheint (Trump, Brexit, Katalonien etc.). Für ihn gilt: das neue Fundament der Konnektivität wird die Welt wieder zusammenschweissen.
Nachstehend einige der herausragenden Aspekte des globalen Changes, jene wichtigen Linien, auf die es – immer gemäss Khanna – ankommen wird.
3-D-Druck und Sharing Economy
Erstens: Die grösste Herausforderung für den aktuellen Welthandel sieht Khanna in der Kombination des 3-D-Drucks und der Sharing Economy. Während ersterer wieder erlauben wird, viele in den letzten Jahren „ausgelagerte“ Produkte lokal, also zuhause, herzustellen (Billig-Lohn-Länder werden das zuerst zu spüren bekommen) wird der Trend zu teilen (statt zu besitzen) die Nachfrage nach neuen Produkten tangieren (Beispiel „Mobility“ für Car-Sharing) und damit bestehende, einst hochprofitable Konzernkonzepte in Frage stellen.
Zweitens: Noch boomen heutzutage die globalen Transportkonzerne. Containerschiffe, Eisenbahnwaggons, LKWs und Lagerhäuser werden den oben beschriebenen Wandel zu spüren bekommen. Das weltweite Kurierdienstbusiness könnte daran gar zugrunde gehen. Die gegenwärtigen Lieferketten (supply chains) werden nicht überflüssig, jedoch werden sie sich stark verändern.
Synthetische Rohstoffe, erneuerbare Energien, Software-Gemüse
Drittens: Die wissenschaftsbasierte Forschung mit dem Ziel, wertvolle Substanzen (precious rare earth minerals) durch synthetische Verbindungen zu ersetzen, wird gigantische Auswirkungen für die Rohstoffbranche haben. Viertens: Der rasch wachsende Markt der erneuerbaren Energien wird die Energiebranche vor grosse Herausforderungen stellen. Fünftens: Nicht zuletzt werden die Autobauer vom Trend „weg vom Diesel und Benzin“ der Elektro- und Hybridrevolution getroffen werden.
Sechstens: Auch die Landwirtschaft wird nicht verschont bleiben. Die entstehenden „Daten-Zentren für Lebensmittel“ (Hightech-Treibhäuser), die wenig Licht, keinen Boden und nur einen Bruchteil an Wasser benötigen, sind eben keine Treibhäuser mehr, sondern hier werden Gemüsesamen mithilfe von Softwareprogrammen, LED-Licht und einem Düngersprühnebel angesetzt und diese Pflanzen sind dann in Wochen statt Monaten erntereif.
Weniger Zentralismus, mehr Föderalismus
Siebtens: Im Trend der Übertragung politischer Kompetenzen von oben nach unten – also in der Dezentralisierung der politischen Machtebenen – sieht Khanna eine eigentliche politische Revolution heraufziehen. Indem Territorien fragmentiert werden und so kleinere Einheiten entstehen, ortet er einen enorm starken, politischen Impuls Richtung verbundener (vernetzter) Welt. Er plädiert unverhohlen für weniger Zentralismus und mehr Föderalismus. Damit meint er die USA und die EU, aber auch andere Nationen. Wir Schweizer hören das gerne.
Nur bruchstückweise sind hier einige wenige der vielen Beispiele globaler Trends aus der Sicht des „global citizen“ Khanna herausgepickt. Der Economist beschreibt Khannas Analysen als „refreshing, optimistic vision“. Die Lektüre des spannenden Taschenbuchs ist mehr als lohnenswerte Ferienlektüre.
*Parag Khanna: CONNECTOGRAPHY – mapping the Global Network Revolution. New York: Random House, 2016; paperback edition published in 2017.