So verunsichert wie an diesem Samstag waren Frankreichs Geheimdienste und Sicherheitskräfte wohl selten. „Les gilets jaunes“, eine Bewegung die keinen Sprecher, keinen Vorsitzenden und keine Struktur hat, nirgendwo angemeldet ist und nur auf der Basis von Kontakten via der sozialen Netzwerke funktioniert und sich mehr oder weniger koordiniert und gleichzeitig die diffusesten Forderungen hat, das hat es bislang im Land in dieser Form einfach noch nicht gegeben.
Machtzentren zu Bollwerken
Und wenn diese Gelbwestenbewegung dann auch noch, wie gestern, zum Sturm auf die Hauptstadt aufruft, um dem Präsidenten klar zu machen, dass Frankreich nicht nur aus der Region Paris besteht und er in seinem Élysée-Palast vom Leben und Leiden der Menschen in Regionen fernab vom Schuss keine Ahnung hat, dann wird es vollends brenzlig.
Zumal die Parole lautete: Wir wollen auf die Place de la Concorde und zum Élysée-Palast, dorthin, wo die Macht sitzt. Die Regierung bot ihnen das Marsfeld hinter dem Eiffelturm an, erklärte die Place de la Concorde und die Champs-Élysées zum Sperrgebiet und verwandelte die vier Pariser Zentren der Macht und ihre Umgebung (Élysée, Assemblée Nationale, Matignon und den Senat) in wahre Trutzburgen, wie man es in der Hauptstadt seit Jahrzehnten nicht erlebt hat.
Chaos
Doch die Gelbwesten, deren Vorgehen schon seit einer Woche nicht den üblichen Kriterien von Protestbewegungen entspricht, scherten sich reichlich wenig um die Anweisungen der Regierung. Auf dem zugewiesenen Marsfeld herrschte den ganzen Tag über gähnende Leere, man sei schliesslich nicht zum Picknick nach Paris gekommen, liessen die Gelbwesten dem Innenministerium ausrichten. Dafür war bereits morgens um zehn vom Sperrgebiet Champs-Élysées nichts mehr zu sehen. Vom Triumphbogen her zogen schon bald drei- bis viertausend Demonstranten die berühmte Avenue hinunter Richtung Élysée.
Eine Hundertschaft professioneller Randalierer – Innenminister Castaner wollte wissen, dass es sich um Leute aus dem ultrarechten Milieu handelte, Beobachter und Kommentatoren blieben skeptisch – sorgten dann innerhalb von wenigen Minuten dafür, dass exakt die Bilder, die man angeblich vermeiden wollte, um die Welt gingen: Barrikaden aus zertrümmertem Stadtmobilar, Baustellenabgrenzungen sowie Tischen und Stühlen der Bistrots reihten sich hintereinander, ja selbst ein Bauwagen wurde auf die Avenue geschleppt, umgeworfen und angezündet.
Rund acht Stunden lang dauerte das Chaos. Wie und warum die Demonstranten relativ leicht auf die Champs-Élysées kommen konnten, bleibt ein Rätsel. Der frischgebackene Innenminister und Intimus von Präsident Macron wird sich einige unangenehme Fragen gefallen lassen müssen. Ja der Verdacht liegt in der Luft, es könnte Absicht gewesen sein. Chaos auf der Prachtstrasse als abschreckende Wirkung mit dem Ziel, dass die über 70-prozentige Zustimmung der französischen Bevölkerung zurückgehen möge.
Unbekannte Spezies
Gleichzeitig muss man der Regierung wohl zu Gute halten, dass niemand wirklich weiss, wer sie sind, diese Gelbwesten, wie man sie einzuschätzen hat, diese Abertausenden von Franzosen, die nun seit einer knappen Woche zum Aufstand blasen. Politologen und Soziologen ringen seit einer Woche um Erklärungen für diese Bewegung, die aus dem Nichts zu kommen scheint.
Nach wie vor, und auch an diesem Samstag und ganz überwiegend in der Provinz, blockierten erneut Abertausende hier einen Kreisverkehr, dort eine Mautstelle auf der Autobahn oder anderswo den Zugang zu den riesigen Einkaufszentren in den Bannmeilen der kleinen und mittleren Städte – was dem Handel, gerade an diesen zwei Samstagen in der Vorweihnachtszeit, bereits gigantische Einbussen beschert hat. Verzweifelte Ladenbesitzer legten sich hier und dort bereits mit den Demonstranten an.
Beispiele
Allein in den zwei ländlichen, normannischen Departements Manche und Calvados zählte man auch an diesem Samstag, an dem alle auf die Hauptstadt starrten, immer noch weit über 20 Strassensperren.
Fast 300’000 waren am Samstag den Protestaufrufen auf Facebook gegen die angekündigte zusätzliche Besteuerung von Benzin und vor allem Diesel ab dem 1. Januar 2019 gefolgt (es geht um 7 Cents bei Diesel und 3 Cents bei Benzin) und hatten unzählige Kreisverkehre oder Verkehrsachsen im Land gesperrt, und zwar an mehr als 2000 verschiedenen Stellen .
In Saint-Malo zum Beispiel, an den zwei Zufahrten, die von Osten her zur Küstenstadt führen, reichten 30 Leute, um Tausenden Bürgern den Samstagnachmittag zu verderben. Am frühen Abend standen per Zufahrt zum Kreisverkehr immer noch 6 oder 7 gelbe Westen auf der Strasse, drehten einem den Rücken zu und liessen, wenn es ihnen danach war, 5 Autos durch, bevor sie wieder dicht machten, der eine oder andere provozierend seinen Klappstuhl aufstellte, während etwas weiter am Rande der Rotwein in die Pappbecher floss.
Spannung in der Luft
Wie kommen sie dazu, zu was schwingen sie sich auf und wen repräsentieren sie? Sie sagen: das Volk, oder eben: das echte Volk, wie man das aus dem Sprachgebrauch aller rechtsextremen Parteien kennt. Aber diese merkwürdige Konfrontation zwischen den gelben Warnwesten und den Bürgern, die einfach weiter und oft nur zu ihrer Arbeit wollen, hat etwas gründlich Unangenehmes und Ungesundes. Und wenn dann an manchen Orten derjenige, der passieren will, auch noch gezwungen wird, eine gelbe Weste anzuziehen, um durchzukommen, bekommt das den Geruch von totalitären Methoden. Kein Wunder, dass es im Lauf der letzten Woche immer wieder zu gewaltsamen Zusammenstössen kam.
Die Bilanz mit 2 Toten, über 600 Verletzten, darunter 17 Schwerverletzte und 130 verletzte Polizisten, ist im Grunde erschreckend. Dieselben Zahlen bei einer Grossdemonstration in Paris, und es wäre die Hölle los.
Mehr als der Benzinpreis
„Macron tritt zurück“, „Macron hau ab“ – so lauten die Parolen, die seit einer Woche immer wieder erschallen. Gerufen von denen, die sagen, sie hätten nichts mehr zu verlieren, ihr Alltagsleben mit geringen Löhnen und schwindender Kaufkraft in den zurückgezogenen Landstrichen Frankreichs sei nicht mehr zu bewältigen und die Zukunft ihrer Kinder in Gefahr.
Die meisten machen heute Emmanuel Macron, in ihren Augen der Präsident der Reichen und der urbanen Bevölkerung, persönlich für ihre Lage verantwortlich. Wobei klar ist: Der Benzinpreis ist bei weitem nicht der einzige Grund für diesen Protest, von dem keiner weiss, wie er enden wird. Die angekündigte Ökosteuer und die Perspektive, dass alte Dieselautos, die gerade auf dem Land sehr verbreitet sind, abgerüstet werden sollen, waren wohl der berühmte Tropfen, der ein Fass zum Überlaufen bringt. Es ist, als würde die Verbitterung einer ganzen Generation der unteren Bevölkerungsschichten und des unteren Mittelstandes zum Ausdruck kommen, die seit Jahren feststellen muss, dass sie heute schlechter lebt und schwieriger über die Runden kommt als vor 20 Jahren.
Es sind Bürger, die sich vom Staat schlicht vernachlässigt fühlen, sich als Globalisierungsopfer sehen, über immer weniger Kaufkraft verfügen und zugleich immer weniger öffentliche Dienstleistungen in ihren Landstrichen vorfinden. Millionen Franzosen, die arbeiten und trotzdem fast arm sind und für die die Startup-Rhetorik des jungen und dynamischen Präsidenten Lichtjahre entfernt ist.
Brüche in der Gesellschaft
Die Bewegung der Gelbwesten, hinter der gewiss viele Wähler der extremen Rechten stehen, aber eben bei weitem nicht nur, vermittelt auch den Eindruck, als habe jemand den Deckel von einem Dampfkochtopf genommen und jahrelang angestauter Unmut würde zum Ausbruch kommen.
Präsident Macron muss sich heute auf jeden Fall sagen lassen, dass er diese Bewegung aus Frankreichs zurückgezogenen Gebieten, den periurbanen Zonen, den verlassen Kleinstädten und dem flachen Land offensichtlich gründlich unterschätzt hat.
Dabei hat er das Pech, dass er aktuelles Opfer einer Entwicklung wird, die bereits vor über zwei Jahrzehnten eingesetzt hat. Man erinnere sich: 1995 hat ein Jacques Chirac die Präsidentschaftswahlen gewonnen mit dem Versprechen, er werde die sozialen Brüche in der französischen Gesellschaft kitten. Passiert ist seitdem nichts, im Gegenteil, die Brüche sind grösser geworden.