In den letzten Tagen seiner Amtszeit zündet der iranische Aussenminister Mohammed Javad Zarif eine politische Bombe: Er liefert geheime Details darüber, wie die Revolutionsgarden in der Region agieren. Seine Feinde sprechen von politischem Selbstmord. Auf manchen Webseiten wird spekuliert, er wolle sich ins Ausland absetzen, andere vermuten, er wolle Präsident werden. Und wiederum andere sehen Benjamin Netanjahu am Werk.
Seit seinem 18. Lebensjahr präsentiert sich der Mann felsenfest überzeugt, sendungs- und machtbewusst. Selbst in jener Zeit, als er unter der kalifornischen Sonne in den Studentenbewegungen der 1970er-Jahre für den politischen Islam missionierte. Das ist bald 42 Jahre her, doch Mohammed Javad Zarif hat alle Machtturbulenzen des vergangenen Jahrhunderts überstanden und auch die lebensgefährlichen Intrigen der islamischen Republik überstanden. Heute ist er 61 Jahre alt und fast am Ende seines Marsches durch die Institutionen. Seine Amtszeit als Aussenminister geht in wenigen Wochen zu Ende.
Und wo der Mann, den manche „das lächelnde Schaufenster eines erbarmungslosen Gottesstaates“ nennen, dann landen wird, wissen wir nicht. In leichtgläubigen Kreisen wird er als künftiger Präsident des Iran gehandelt, andere sehen ihn eher im Gefängnis als im Präsidentenpalast. Denn ein toter, aber immer noch omnipräsenter Gegenspieler könnte Zarif nun zum Verhängnis werden.
„شکارچی شکارچیان“- „ Jäger der Jäger“
„Jäger der Jäger“ – diese drei Worte standen unter dem Bild von Qassem Soleymani, das die T-Shirts jener Millionen schiitischer Pilger zierte, die im heissen Sommer 2016 in der iranischen Wüste die Grenze zum Irak überqueren wollten. Ihr Ziel war die 280 Kilometer entfernte Stadt Kerbala. Die heldenhafte Bezeichnung für den Kommandanten der Quds-Brigaden, des Aussenarms der iranischen Revolutionsgarden, stamme von Putin-Anhängern, behaupteten jedenfalls die iranischen Medien. Der Massenpilgerfahrt hat inzwischen die Coronapandemie ein Ende gesetzt, Soleymani wurde im Januar 2020 auf Trumps Befehl getötet. Und das wahre Bild des Generals samt seines Verhältnisses zu Putin rückte am vergangenen Sonntag der iranische Aussenminister Zarif zurecht.
Der Held war ein Vasall Putins
Sechs Jahre lang hatten die radikalen Medien in Teheran propagiert, dass es General Soleymani gewesen sei, der bei einem Besuch in Moskau Putin überredete, in den Syrienkrieg einzugreifen. Nun spricht der Chefdiplomat in Teheran seine eigene Wahrheit aus: Putin sei es gewesen, der den Kommandanten der iranischen Quds- Brigaden nach Moskau bestellt habe, sagt jetzt Zarif.
Riskiert Javad Zarif alles? Warum gibt er wertvolle geheime und justiziable Informationen preis, die nur von den ärgsten Feinden seines Staates stammen können? Will er „politischen Selbstmord“ begehen, wie manche Internetportale schreiben? Was bezweckt er? Oft sind Gewissheiten ebenso vergänglich wie die Zeit selbst. Kann aber die Wahrheit wie eine Bombe sein, wie ein Erdbeben mit dramatischen Nachbeben? Ohne Zweifel.
Vor fünf Tagen zündete Javad Zarif eine mediale Bombe, deren weitreichendes Ausmass erst nach und nach sichtbar wird. Sie wird sein persönliches Schicksal ebenso bestimmen wie den Ausgang der bevorstehenden Präsidentenwahl im Iran, für die die Garden sich gewappnet haben.
Es ist eine mehr als dreistündige Audiodatei, die am vergangenen Sonntag alle persischsprachigen TV-Sender im Ausland ausstrahlten. Seitdem hören die Nachbeben nicht auf.
In diesem streckenweise langweiligen Gespräch sagt Zarif nichts anders als die längst bekannte Wahrheit: Die Revolutionsgarden bestimmten im Iran alles, innen- wie aussenpolitisch. Und Zarif liefert dafür Beispiele, die wie Scheinwerfer die gesamte Machtpyramide beleuchten. Es sind diese vielsagenden Einzelheiten, die die künftigen Debatten und Konflikte der gesamten Region beeinflussen werden.
Nur für die Geschichtsbücher?
Das Wort „Garden“ benutzt Zarif selten. Dafür spricht er oft von – میدان – Meydan. Dieses persische Wort kann man mit Platz, Szene, Feld, aber auch mit Schlachtfeld übersetzen, je nachdem, worüber man gerade redet. Zarif geht es aber hauptsächlich um den „Kommandanten des Meydans“, um den toten, aber immer noch verehrten Qassem Soleymani.
Im Lauf des Gesprächs betont Zarif mehrmals, was er sage, dürfe nicht publik werden, er erzähle nur für die Zukunft, nur für die Geschichte und für die Geschichtsschreiber, deshalb rede er auch so offen. Eine Veröffentlichung beabsichtigte auch der Interviewer nicht, jedenfalls behauptet er das. Der Wirtschaftsjournalist Said Leylaz, ein Vertrauter von Präsident Hassan Rouhani, hat ein grosses Projekt, das er „mündliche Geschichte“ nennt. Deshalb führt er in diesen Tagen, in denen Rouhanis Präsidentschaft zu Ende geht, Gespräche mit dem Präsidenten und seinen Ministern.
Sieht man von den obligatorischen Huldigungen ab, liefert Zarif von Soleymani das Bild eines Mannes mit zerstörerischer Dominanz, eines machtbewussten Tausendsassas, der alles und jeden beherrschen will, ein Mann mit universalem Anspruch, der niemandem Rechenschaft zu geben braucht.
„In der Islamischen Republik herrscht der Meydan (das Schlachtfeld). Ihm opferte ich die Diplomatie, aber der Meydan half nie der Diplomatie“, sagt Zarif und bietet dafür vielsagende Beispiele und zum Teil erschreckende Details, mit denen sich tatsächlich die Geschichtsschreiber und in einigen Fällen auch die Gerichte werden befassen müssen.
Putin will Dauerspannung
Zarif konzentriert sich bei der Beschreibung von Soleymanis Rolle auf vier Themen: das Atomabkommen, Russland, den Syrienkrieg und die Spannung mit Saudi-Arabien. Einige seiner Feststellungen lauten: Russland wünsche keine echte Entspannung zwischen dem Iran und dem Westen, im Gegenteil. Moskau wolle, dass stets eine andauernde, aber kontrollierbare Spannung zwischen Teheran und Washington herrsche.
Vor dem Atomabkommen habe General Soleymani mehrmals versucht, nach Moskau zu reisen, Putin habe das aber immer abgelehnt. Erst nach der Unterzeichnung des Abkommens hätte Putin im September 2015 Soleymani zu sich bestellt. Ab da verwandelten sich die Revolutionsgarden zu Bodentruppen der russischen Luftwaffe in Syrien. Es sei nicht allein um Assad und den IS, sondern auch darum gegangen, die Früchte des Atomabkommens zu vernichten. Was auch geschah. Die Revolutionsgarden exekutierten im Iran die russische Politik. Und Ali Khamenei stehe mitten im Meydan.
Weniger wert als ein Lastenträger
Als der Interviewer mit hämischem Lachen fragt: „Wo stehen Sie denn in dieser Ordnung?“, ist Zarifs Antwort ein persischer Ausspruch, der für tiefe Erniedrigung und Demütigung steht:
„نظام باقلی هم بار من نمیکند“- „Für das System bin ich nicht mal ein Träger von Bohnen“. Und er fügt hinzu: „Vielleicht ende ich irgendwann, irgendwo im gestreiften Hemd.“
Unrecht hat er nicht. Vier Tage nach diesem Gespräch werden Stimmen laut, Zarif solle vor Gericht gestellt werden. Am Mittwoch sagte der Generalstaatsanwalt, wegen dieser Audiodatei seien bereits Ermittlungen im Gang.
„Jedes Mal, wenn ich mich auf den Weg zu den Atomgesprächen machen wollte, zählte mir Soleymani Punkt für Punkt auf, was ich zur Sprache bringen und welche Ergebnisse ich erzielen solle. Aber niemals brachte ich fertig, Soleymani zu überzeugen, der Diplomatie zu helfen.“
Zivile Fluggesellschaft im Dienste der Quds-Brigaden
Als das Atomabkommen unterzeichnet wird und im Dezember 2015 die Sanktionen gegen die iranische Fluggesellschaft Iran-Air aufgehoben werden, fängt der Iran an, Gespräche für den Kauf von Boeing und Airbus zu führen. „Einige Wochen später sagte mir US-Aussenminister John Kerry, seit der Aufhebung der Sanktionen gegen Iran Air hätten sich deren Flüge nach Syrien versechsfacht. Davon wussten weder Präsident Rouhani noch der Verkehrsminister etwas. Als ich den Chef von Iran Air fragte, ob es stimme, was John Kerry erzähle, antwortet er: Ja, das sei der Befehl von General Soleymani. Und als ich dann Soleymani fragte, warum er für seine Zwecke nicht wie bisher Mahan Air benutze, antwortete er mir: Iran Air sei sicherer.“
Geheimdiplomatie über einen Bürgerkrieg in einem fremden Land, der seither Hunderttausende Tote und Millionen Flüchtlinge produzierte. Solche erschreckenden und historisch interessanten Einzelheiten enthält die Audiodatei zuhauf. „Es war Kerry, der mir damals berichtete, die Israelis hätten 200 Mal die iranischen Truppen in Syrien bombardiert“, hört man den zornigen Aussenmister sagen. So gesehen ist diese Datei zweifellos ein historisch wertvolles Dokument. „Wir durften nicht einmal erfahren, wie viele Iraner in Syrien gefallen sind.“
Geständnis über ein Verbrechen
Es geht um den Abschuss des Fluges Nr. 752 der Ukraine International Airlines am 8. Januar 2020. Zwei Raketen der Revolutionsgarden töteten 167 Passagiere und neun Besatzungsmitglieder. Die Katastrophe – die Hinterbliebenen sprechen von einem Verbrechen – ereignete sich an einem Mittwoch kurz nach Sonnenaufgang.
Zwei Tage lang herrschen Schweigen, Lüge und Widersprüche. Längst spricht die Aussenwelt von Abschuss und Absicht der Garden. „Am Freitag Vormittag bin ich zum Nationalen Sicherheitsrat gegangen. Fünf Leute von Militär und Geheimdienst sassen da. Ich sagte ihnen, seit zwei Tagen spreche die Welt von Raketen und Abschuss: Wenn Ihr das getan habt, sagt es mir, damit ich es der Welt irgendwie zu erklären versuche. Sie wiesen mir wie einem Gotteslästerer die Tür und sagten: Geh raus und schreib einen Tweet und dementiere alles.“ Sollte es jemals wegen dieses Verbrechens zu einem Gerichtsprozess kommen, wird diese Aussage Zarifs zu einem gerichtsfesten Beweis. Dies beabsichtigen Hinterbliebene im Ausland, die in verschiedenen Ländern zu klagen versuchen.
War es Netanjahu?
Seiten liessen sich füllen mit ähnlichen Informationen, Hintertreppengeflüster und dessen Hintergründen. In einer vom Fernsehen übertragenen Sitzung rief Präsident Rouhani dem anwesenden Geheimdienstminister zornig zu, er solle jene finden und unbarmherzig verfolgen, die diese geheime Datei gestohlen und an die ausländischen Sender weitergeleitet hätten. Wer das war, darüber reden sich die Experten die Köpfe heiss. Wird bald ein „Schuldiger“ im Fernsehen vorgeführt? Der ehemalige Vizepräsident Mohammed Ali Abtahi jedenfalls vergleicht das Durchsickern dieses dreistündigen Files mit dem Diebstahl der geheimen Atomakte, die Israels Präsident Benjamin Netanjahu 2018 genüsslich der Welt präsentierte.
Mit freundlicher Genehmigung von Iranjournal.org