Doch in seinen frühen, gelegentlich auch noch in seinen späteren Werken gibt es immer wieder Momente, die uns an die klassische Arienform erinnern. Dannzumal, wenn die Bühnenfiguren nicht das Handlungsgeschehen kommentieren, sondern Innenschau halten, also in die eigene Seelenbefindlichkeit blicken.
Wagner gibt seinen Gestalten gerne „Auftrittsarien“. Berühmt sind jene des „Fliegenden Holländers“(1843), aber ebenso bühnenwirksam ist die sogenannte „Hallenarie“ der Elisabeth aus „Tannhäuser“ (1845). In jeder Oper Wagners lassen sich arienartige Reminiszenzen entdecken, bis zum 2. Akt von „Parsifal“ (1882), wo man in den beiden Auftritten von Klingsor und Kundry durchaus Arientypisches entdecken kann. Auch Wotans Abschied von seiner Lieblingstochter Brünnhilde im 3. Akt der „Walküre“ (1870) darf man mit gutem Recht einen „ariosen Abschiedsgesang“ nennen.
Es stimmt freilich, dass Wagners Konzeption des musikalischen Dramas die grundsätzliche klassische Trennung von Rezitativ und Arie in der Oper aufhebt und Wege öffnet zu neuen Gestaltungs- und Erfahrungsformen von Handlung und reflexiver Introspektion im Musiktheater. Insofern macht es Sinn, wenn man bei Wagner von „Arien“ spricht, diese in „Gänsefüsschen“, sprich Anführungszeichen zu setzen.
Der Ozean-Wanderer
1842 verfasste Wagner eine „Autobiographische Skizze“, in der er das Folgende notierte: „Der Fliegende Holländer, dessen innige Bekanntschaft ich auf der See gemacht hatte, fesselte fortwährend meine Phantasie; dazu machte ich die Bekanntschaft von H. Heines eigentümlicher Anwendung dieser Sage in einem Teil seines „Salons“. Besonders die von Heine erfundene, echt dramatische Behandlung der Erlösung dieses Ahasverus des Ozeans gab mir alles an die Hand, diese Sage zu einem Opernsüjet (sic!) zu benutzen.“
Wie wichtig immer Wagners eigene Seereise von Pillau nach London im Juli 1839 für die Beschäftigung mit Sturm- und Wellenmusik gewesen sein mag: beim „Fliegenden Holländer“ konnte Wagner aus dem überreichen Mythenschatz der literarischen Tradition schöpfen. Denn zahlreich sind die ruhelosen Abenteurer, die auf den Weltmeeren herumirren, bis sie ihren Heimathafen endlich finden. Für diese von Kriegslust, Ehrgeiz und Habsucht Getriebenen stehen Namen wie Odysseus, die Indienfahrer um das Kap der guten Hoffnung, darunter Ahasver, der legendäre ewige Jude, letztlich alle Kapitäne von Geisterschiffen, die unerlöst auf den Meeren herumsegeln.
Beim „Fliegenden Holländer“ handelt es sich zwar um Wagners 4. Oper, aber auch um sein erstes genuines „Erlösungsdrama“, bei dem Dichtung und Musik von ihm stammen. König Ludwig II. von Bayern soll am Abend der Münchner Aufführung von 1864 in seinem Tagebuch notiert haben: „Wer rettet ihn, den Verfluchten, der unstät auf den Meeren umherirrt? Den die Ruhe flieht? – Ein Engel entzieht dem Verderben den Sünder, den Gefallenen. Senta opfert sich für ihn, den alle Hoffnung flieht, die Liebe erlöset ihn, es endigt der Fluch!“ Kürzer kann man den Hauptinhalt dieser Oper nicht resümieren.
Und Charles Baudelaire hat 1861, den „Fliegenden Holländer“ betreffend, geschrieben: „Der Gedanke, einen Unglücklichen gerade um dieses seines Unglücks willen zu lieben, ist so gross, dass er nur in einem völlig reinen und unbefangenen Herzen Raum finden kann; und es ist wahrlich ein schöner Einfall, die Erlösung eines Verdammten für die leidenschaftliche Selbstaufopferung eines jungen Mädchens aufzusparen.“
Ein Getriebener
Vom „Fliegenden Holländer“ gibt es eigentlich keine definitive Fassung, keine „Ausgabe letzter Hand“. Meistens spielt man heute die Fassung von 1860. Wagner hat bereits kurz nach der Uraufführung im Januar 1843 mit ersten Revisionen begonnen. Vor allem hat er in späteren Jahren für Paris die Ouvertüre und den Schluss des 3. Aktes überarbeitet, man könnte auch sagen: motivisch koordiniert. Noch im Todesjahr (1883) soll er davon gesprochen haben, seinen „Fliegenden Holländer“ umarbeiten zu wollen. Heute ist man nicht unglücklich darüber, dass er das Werk ohne Veränderungen durch seinen späten Musikstil in effektvoll romantischer Klanggestalt belassen hat.
Wir beschäftigen uns hier nur mit der Auftrittsarie des Holländers im 1. Akt. In einem sicheren Hafen sucht Daland, ein norwegischer Seefahrer und Händler, mit Schiff und Mannschaft Schutz vor einem tobenden Meeressturm. Matrosen und Kapitän können sich nun zur Ruhe legen, der Steuermann soll die Wache übernehmen. Doch der Schlaf übermannt auch ihn, sodass das Geisterschiff des Fliegenden Holländers unbemerkt an der Seite des Norwegers ankern und anlegen kann.
Im folgenden Monolog erfahren wir, dass der Holländer alle sieben Jahre vom Meer ans Land geworfen wird, ohne aber dadurch sein Schicksal ändern zu können. Bis zum Ende der Zeiten wird er das Meer befahren müssen. Er hat versucht, seinem Leben ein Ende zu setzen, sein Schiff an den Klippen zerschellen zu lassen, es von Piraten kapern zu lassen: diese sind aber geflohen, als sie die Geistermannschaft entdeckten. „Nirgends ein Grab! Niemals der Tod!“
Ein „Engel Gottes“ hat ihm zwar Erlösung angesagt, sofern er auf Erden ein absolut treues Wesen finde. „Vergebne Hoffnung! Furchtbar eitler Wahn! / Um ew’ge Treu auf Erden – ist’s getan!“ So wünscht er sich nichts mehr als den „Vernichtungsschlag, mit dem die Welt zusammenkracht“. Erst am jüngsten Tag, wenn alle Toten auferstehen, wird er selbst „in Nichts vergehn!“. Nur noch eine Bitte hat er: „Ihr Welten, endet euren Lauf! / Ew’ge Vernichtung, nimm mich auf!“
Dunkles Schicksal, dunkle Musik
Man wird in der Operngeschichte schwerlich eine andere Figur finden, die es an Erlösungssehnsucht und Lebensverzweiflung mit dem Fliegenden Holländer aufnehmen kann. Die Musik, die Wagner für diesen nihilistischen Gepeinigten geschrieben hat, ist so bohrend wie unheimlich. Wenn es um Liebesschmerz geht, hat die Operngeschichte viel zu bieten. Hier geht es jedoch um das Gefühl, das aus nachtschwarzer Verzweiflung kommt. Erst Verdi wird für seinen Jago um 1880 herum eine vom Lebenshass und teuflischer Bosheit ebenso dunkel eingefärbte Musik schreiben.
Einen Vernichtungsrausch künstlerisch zu gestalten, ist keine Kleinigkeit! Mit dem Auftritt des Holländers ist dies Wagner jedoch in einzigartiger Weise gelungen. Er fand für ein von einem Fluch belegtes und verfolgtes Schicksal die richtigen, kaum mehr aus dem Hörgedächtnis verschwindenden Töne.
So dunkle Musik brauchte freilich einen Kontrast: Sentas Treue und Opferbereitschaft sind die Grundlage für die Erlösungsmusik, die Wagner motivisch raffiniert einsetzt und die gesamte Oper durchziehen lässt. Franz Liszt hat in einer Studie zu diesem Werk angemerkt, Wagner habe hier „höher als je irgend ein Poet oder Künstler die Frauen verherrlicht“.
Am Ende der Oper, nach Sentas Opfertod, verlangte Wagner in seinen Anweisungen etwas, das Regisseure und Bühnenbildner heute zur Verzweiflung treibt: „Der Holländer und Senta, beide in verklärter Gestalt, entsteigen dem Meere; er hält sie umschlungen.“
Gestalter des Holländers
Für jeden kräftigen Bass-Bariton ist die Rolle des Holländers ein Paradestück. In der Aufführungsgeschichte des „Fliegenden Holländers“ gibt es hochberühmte Sänger, die aus dieser Rolle so etwas wie die eigene Visitenkarte gemacht haben. Hans Hotter gehört zu ihnen, George London, Theo Adam, José Van Dam. Man hat eine reiche Auswahl, wenn man heute auf YouTube „Die Frist ist um“ sucht.
Hier ist eine Aufnahme aus jüngerer Zeit ausgewählt. Der walisische Bass-Bariton Bryn Terfel singt, begleitet von James Levine und dem Metropolitan Opera Orchestra. Diese Aufnahme steht hier, weil sie mir in besonderer Weise in der Stimme und im Orchester beides einzufangen scheint: die dunkle Schicksalsverlorenheit des Holländers einerseits, seine Verzweiflungs- und Untergangswut andererseits. Das Leben mildert mit Alltäglichkeit solche Spannungen, damit wir an ihnen nicht zerbrechen. Die Oper aber macht sie für uns hörbar.