Seit 2019 häufen sich die Proteste gegen das Regime der islamischen Republik in Iran. Die Tötung von Zhina Mahsa Amini im Polizeigewahrsam in Teheran am 13. September 2022 war kein Einzelfall.
Doch der Tod von Mahsa Amini war deshalb in besonderer Weise bedeutsam, als er Folge eines alltäglichen, nicht explizit politisch gemeinten Nichteinverständnisses mit der politischen und gesellschaftlichen Ordnung in Iran war und ihre Tötung die Willkür der Polizeigewalt für alle sichtbar machte.
Vorgeschichte
Die 22-jährige Kurdin Mahsa Amini war am Abend des 13. September in der Nähe einer U-Bahnstation und in Begleitung ihres Bruders und zweier Cousins unterwegs, als sie unvermittelt von einer Patrouille der Sittenpolizei angehalten und festgenommen wurde, weil sie ihren Kopfschleier angeblich nicht korrekt trüge. Sie sollte eine «Erziehungs- und Orientierungslektion» erhalten. Auf der Polizeistation wurde sie mit Schlagstöcken auf dem Kopf malträtiert, an deren Folgen sie zwei Tage später verstarb.
Leben als Ort des Protests
Bald ist es ein halbes Jahr her, dass sich in Iran eine neue Welle des regimekritischen Protests aufbaute. Diesmal aber war alles etwas anders. Die Nachhaltigkeit der Proteste, die am 16. September ihren Anfang genommen hatten, ergab sich aufgrund der Tatsache, dass hier eine sehr lebensweltliche Protestsituation entstanden war, in der die Bevölkerung dem Regime alltäglich die Anerkennung und Zustimmung verweigerte. Die Kernforderung, die unmittelbar mit der Tötung von Frau Amini verbunden war, beinhaltete die Aufforderung an den iranischen Staat, sich aus dem Leben der Menschen zurückzuziehen und insbesondere seine Kontrolle über die Frau aufzugeben. Dies wurde in der Triade Frau-Leben-Freiheit klar zum Ausdruck gebracht. Daraus wurde dann sehr bald die allgemeine Forderung, die Ordnung der Islamischen Republik gänzlich abzuschaffen.
Die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern wurde in den Protesten mit grossem Nachdruck eingeklagt und durch eine lebensweltliche Protestpraxis ausgedrückt. So wurden in Wohnheimen die Regeln der getrenntgeschlechtlichen Menschen durchbrochen, in Restaurants setzten sich Männer und Frauen an gleiche Tische, die Geschlechtertrennung wurde einfach durch stillen Protest aufgehoben. Der Gedanke der Gleichberechtigung hat sich so in der breiten Bevölkerung stark verankert.
Das Scheitern einer Zustimmungsdiktatur
Die Protestbewegung beruht auf einer Protesthaltung, und diese Protesthaltung gründet auf der Auffassung, dass dem Staat jede Anerkennung und jeder Gehorsam zu verweigern sei. Man muss wissen: Auch die politische Ordnung der Islamischen Republik ist eine «Zustimmungsdiktatur». Sicherlich sind und waren Frauen bei den Protesten massgeblich, da es erstmals nicht um eine politische Forderung ging wie zum Beispiel 2009, sondern um eine soziale und kulturelle Forderung, die auf die Veränderung einer gesellschaftlichen Praxis zielte. Man weiss, dass etwa 80% der Bevölkerung in Iran die Anliegen der Proteste teilen. Insofern sind die Proteste sicherlich nicht auf eine weibliche Minderheit beschränkt. Und genauso wenig lässt sich eine ethnische Präferenz bestimmen. Teilhabe an den Protesten findet sich in allen der vielen ethnischen Gemeinschaften Irans.
Iranische «Fräuleinwunder» nehmen sich ihre Rechte
In den 1950er und 1960er Jahren gab es in Deutschland die Bezeichnung «Fräuleinwunder» für Frauen, die sich aus der alten patriarchalischen Ordnung befreit hatten und zu selbstbewussten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Akteurinnen der Gesellschaft geworden waren. Bezogen auf die Situation in Iran könnte man die Haltung der Frauen mit diesem Begriff bezeichnen, da sie auf einem starken Selbstbewusstsein beruht und dieses Selbstbewusstsein auch politisch zum Ausdruck bringt. Die Inhaftierung vieler Frauen hat die Verweigerung der Anerkennung nur noch weiter verstärkt.
Die Protesthaltung der iranischen Opposition wird immer wieder mit dem Spruch: «Recht nimmt man sich, es wird einem nicht gewährt», ausgedrückt. Eine solche Haltung ist im Kontext von Diktaturen verständlich. Auch in der absolutistischen Tradition der europäischen Kontinentalstaaten mussten politische Rechte erkämpft, der fürstlichen Gewalt abgetrotzt werden (Joachim Raschke). Daher wurde es auch von Kritikern des Schah-Regimes und selbst von damaligen Anhängern eines «kämpfenden Klerus» wie Mortaza Motahhari genutzt. In freiheitlichen Gesellschaften beruht das Recht auf einem gesellschaftlichen Konsens, der im politischen Prozess zum Ausdruck kommt. Genau dieses Element aber fehlt in der sogenannten Islamischen Republik: Zwar wird hier Recht auch über die Legislative gesetzt, es untersteht aber immer der abschliessenden Normenkontrolle und Souveränität durch das Regime der Islamischen Revolution.
Die Frau als Symbol einer «nationalistischen Ordnung»
Eine allgemeine Aussage über das Verhältnis von Gleichberechtigung und religiöser Überzeugung lässt sich nicht machen. Für Iran ist wichtig, dass schon der Schah versucht hatte, den Frauen eine besondere Rolle im iranischen Nationalismus zuzuweisen. Genau dies praktizierte auch das Regime der Islamischen Republik, diesmal aber erweitert um die Ausstattung dieser nationalistischen Rolle mit schiitisch gedeuteten islamischen Symbolen. Daher gibt es in Iran auf der einen Seite eine für nahöstliche Gesellschaften eher ungewöhnlich breite Partizipation von Frauen an wirtschaftlichen und kulturellen, weniger an politischen Prozessen und auf der anderen Seite eine Geschlechterapartheid, die den Frauen eine grosse Rechtsungleichheit beschert und im Grunde jener Rechte beraubt, die (theoretisch) Männer für sich beanspruchen können.
Das Schweigen des Westens
Der Westen trägt insofern eine Mitverantwortung, als er in den 1960er und 70er Jahren keinen Hehl aus seiner Unterstützung für das Regime des Schahs gemacht hatte, wodurch die kulturelle und soziale Emanzipation in Iran selbst mit einer Unterstützung des Willkürregimes des Schahs gleichgesetzt wurde. Hätte der Westen die Geschlechtergleichheit und die Emanzipation zu einem Leitprinzip auch seiner Iranpolitik gemacht, wäre die anfängliche Zustimmung zu einer islamisch-ideologisch ausgerichteten Regimekritik in Iran zur Revolutionszeit möglicherweise geringer ausgefallen. Für Deutschland gilt, dass es in besonderer Weise die Nähe zum Schahregime gesucht hatte. Die gelbe Presse liess das Schahregime gar so populär erscheinen, dass Proteste gegen den Schah in Deutschland als systemfeindlich gedeutet wurden. Man erinnere sich, wie die Antischahproteste in Deutschland von den Boulevardmedien als «linksradikal» denunziert wurden.
Die neue Freiheit
Die Proteste haben den Begriff der Freiheit für Iran klar neu gedeutet: Freiheit ist nicht mehr an eine Geschlechterrolle oder eine bestimmte politische Situation gebunden, sondern wurde zum Begriff der persönlichen, sozialen und kulturellen Freiheit jedes Einzelnen. Als gelebter Begriff wurde Freiheit in den iranischen Revolten stark individualisiert und aus seiner politischen und ideologischen Abstraktheit befreit. Freiheit wurde der praktische Gegenbegriff zum politisch erzwungenen Gehorsam. Der Gedanke, dass Freiheit damit auch unmittelbar mit der Emanzipation der Frau verbunden ist, ist auch für Iran nicht mehr rückgängig zu machen.