Mit rund 41 Prozent bestätigen die Frauen auf den Wahllisten für die Nationalratswahlen 2023 das Rekordergebnis von 2019; ihre Vertretung ist gar um 0,4 Prozentpunkte angestiegen. Das erneute Überschreiten der 40-Prozent-Schwelle ist insofern bemerkenswert, als der Frauenanteil auf den Wahllisten mehr als zwanzig Jahre lang nicht vom Fleck gekommen war: von 1991 bis 2015 lag er zwischen 33 und 35 Prozent.
Auch wenn der aktuelle Kandidatinnenanteil von 41 Prozent den bisher höchsten Wert darstellt, gibt es keinen einzigen Kanton, in dem die Kandidatinnen in der Mehrheit sind – ein Zustand, der seit der Einführung des Frauenstimmrechts (1971) besteht, von nur gerade einer Ausnahme abgesehen: Bei den Nationalratswahlen 1995 waren die Kandidatinnen und Kandidaten in Basel-Stadt paritätisch auf den Wahllisten vertreten.
Regionale Angleichung
Im Vergleich zu den Nationalratswahlen 2019 ist der Frauenanteil auf den Wahllisten in elf Kantonen gestiegen, in sieben Kantonen war er rückläufig. Dies bewirkte jedoch insgesamt keine Polarisierung der Werte der Frauenanteile, sondern eine Angleichung, sodass die Frauenanteile auf den Wahllisten zwischen den Kantonen weniger stark variieren als bei früheren Wahlen: Am stärksten vertreten sind die Kandidatinnen mit 49 Prozent im Kanton Neuenburg, gefolgt von Genf und Basel-Stadt (47% bzw. 46%). Am niedrigsten sind ihre Werte in Schaffhausen, Luzern und Graubünden (34–35%). Noch deutlicher zeigt sich die Angleichung der Frauenanteile, wenn diese nach Sprachregionen berechnet werden: In den deutschsprachigen Kantonen betragen sie 41 Prozent, in den französischsprachigen Kantonen 40 Prozent und im Tessin 39 Prozent.
Frauenmehrheit bei Rotgrün
Mit Blick auf die Parteien haben sich die Frauenanteile im Vergleich zu 2019 nur wenig verändert. Es zeigt sich so ein gleichstellungspolitisches Muster, welches seit bald vierzig Jahren die Wahlen prägt: Die Frauen sind bei den Grünen und der SP stark vertreten; je weiter rechts sich eine Partei positioniert, desto niedriger ist der Frauenanteil.
Bei den Nationalratswahlen 2023 sind die Kandidatinnen auf den Wahllisten der SP und der Grünen in der Mehrheit; die Frauenanteile liegen je bei 53,5 Prozent. Im Vergleich zu 2019 ist der Frauenanteil bei der SP um 2,5 Prozentpunkte angestiegen, bei den Grünen ist er um knapp zwei Punkte gesunken. Dem schweizerischen Durchschnitt entspricht der Frauenanteil auf den Wahllisten der Grünliberalen (42%; +1,2 Punkte). Etwas kleiner ist die Frauenvertretung auf den Wahllisten der «Mitte» sowie der FDP: Bei der «Mitte» macht der Frauenanteil rund 38 Prozent aus, was ziemlich genau dem Wert entspricht, den CVP und BDP – damals noch eigene Parteien – zusammen 2019 erreicht hatten. Die FDP hat einen Frauenanteil von 36 Prozent (-1,5 Punkte). Wie seit Jahrzehnten finden sich die wenigsten Kandidatinnen auf den Wahllisten der SVP. Ihr Anteil beträgt rund 22,5 Prozent.
Schwindende Attraktivität der Frauenlisten
Unter den vielen Teillisten der Parteien (über 250) sind die meisten altersspezifische oder Regionallisten. Nur wenige Teillisten (15) sind geschlechtsspezifisch. Diese wurden ab den Neunzigerjahren als sogenanntes Frauenförderungsinstrument eingesetzt, vor allem von der SP. Heute steht nur noch die Frauen- und Männerliste der SP Bern in dieser Tradition (diesmal erweitert um «queer»): Die SP-Frauenliste kam in Bern erstmals 1987 zum Einsatz und verhalf den SP-Frauen zu Mandaten. Seit 1999 holten die Frauen gleich viele Sitze wie die Männer, 2019 liess die Frauenliste mit drei Mandaten die SP-Männerliste mit nur einem Mandat hinter sich.
Indikator für Stellenwert der Gleichstellung
Die Frauenanteile auf den Wahllisten der Parteien sagen nur beschränkt etwas über die Wahlchancen der Kandidatinnen aus. Sie sind aber ein Indikator für die Gewichtung der Gleichstellungsfrage einer Partei. Tritt eine Partei in einem Kanton mit Wahllisten an, auf denen Geschlechterparität hergestellt ist oder die Frauen in der Mehrheit sind, kann dies als Signal dafür interpretiert werden, dass der Partei Gleichstellung wichtig ist, dass sie die Frauen im Wahlkampf sichtbar machen und ihnen zur Wahl verhelfen will.
Es haben aber nur wenige der Kandidierenden eine Chance, gewählt zu werden. Angesichts der Tatsache, dass sich diesmal in den zwanzig Proporzkantonen eine rekordhohe Zahl von 5’909 Kandidierenden um die 194 Sitze bewerben, werden 29 von 30 Kandidierenden die Wahl nicht schaffen. Diejenigen aber, die leer ausgehen, erhalten immerhin die Möglichkeit, die Mechanismen eines Wahlkampfes kennenzulernen und sich dabei – im Hinblick auf kommende Wahlen – bekannt zu machen.
Nötiger Druck von aussen
Als Gründe für den massiven Vormarsch der Frauen bei den Nationalratswahlen 2019 – von 32 auf 42 Prozent gewählte Frauen – gelten der zweite nationale Frauenstreik und die Aktivitäten von «Helvetia ruft». Diese schafften es, die Untervertretung der Frauen in der Politik ins öffentliche Bewusstsein zu rufen und zu einem Thema zu machen. Die Aktivitäten hielten weiter an: Ab 2020 ermunterte «Helvetia ruft» bei mehreren kantonalen Parlamentswahlen Frauen zur Kandidatur. Am 14. Juni 2023 fand ein grosser nationaler feministischer Streik statt, organisiert vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund, und «Helvetia ruft» forderte für die Nationalratswahlen 2023 die Parteien medienwirksam auf, Frauen auf den Hauptlisten auf aussichtsreichen Plätzen kandidieren zu lassen.
Es ist daher interessant, einen Blick auf die Frauenanteile auf den Hauptlisten der Parteien zu werfen. Gemäss einer Zusammenstellung von «Helvetia ruft» ist auf diesen der Kandidatinnenanteil von 41 auf 45 Prozent gestiegen (Majorzkantone miteingeschlossen). Differenziert nach Parteien betragen die Frauenanteile auf den Hauptlisten 55 Prozent für die SP, 53 Prozent für die Grünen und 49 Prozent für die Grünliberalen. Bei der «Mitte» machen die Frauen 43 Prozent aus, bei der FDP 41 Prozent und bei der SVP 25 Prozent. Die Werte sind also meistens etwas grösser als die oben erwähnten Gesamtwerte der Parteien, besonders bei den Grünliberalen (+7 Prozentpunkte), bei der «Mitte» und der FDP (je +5 Punkte).
Was kann diese relativ starke Präsenz der Frauen auf den Wahllisten für das Abschneiden der Frauen bei den kommenden Nationalratswahlen bedeuten? Sicher besteht kein Automatismus, wonach viele Kandidatinnen ohne weiteres zu vielen gewählten Frauen führen. Dazu ist das Wahlsystem mit den differenzierten Rechten der Wählenden (streichen, kumulieren, panaschieren) zu komplex – und der Wahlausgang, der auch eine gewisse Rolle spielt, ist ja auch noch nicht bekannt. Mit Blick auf die vergangenen fünfzig Jahre kann aber festgehalten werden, dass es eine gewisse Entsprechung zwischen den Anteilen der Kandidatinnen auf den Wahllisten und den Frauenanteilen unter den Gewählten gibt. Dabei sind die Kandidatinnenanteile meistens grösser. Eine Ausnahme bilden die Nationalratswahlen 2019, welche auch eine «Frauenwahl» waren (die Frauen knackten die 40-Prozent-Marke). Damals war der Frauenanteil unter den Gewählten erstmals grösser als der Frauenanteil auf den Wahllisten. Dieser Schwung der Frauen hielt auch bei den meisten kantonalen Wahlen bis 2023 an.