Die Qualität der Berichterstattung über Israels Krieg in Gaza nach dem Massaker der Hamas ist nach wie vor höchst umstritten. Während die einen mangelnde Ausgewogenheit und Neutralität kritisieren, fordern die anderen von den Medien mehr Objektivität und Wahrheitsgehalt.
Mitte Mai fand in London unter dem Titel «Truth Tellers» das jährliche Treffen zum Gedenken an den legendären Journalisten Sir Harry Evens (1928–2020) statt. Evans hatte sich als Chefredaktor der «Sunday Times» und der «Times» wie kein zweiter für investigativen Journalismus eingesetzt. «Das Gipfeltreffen bringt die hartnäckigsten und vielfältigsten Wahrheitssucher der Welt zusammen, sowohl erfahrene als auch innovative», versprach das eintägige Programm. Und weiter hiess es: «Was sie eint, ist die moralische Verpflichtung zur Wahrheit – nicht die sanktionierte Geschichte, die akzeptable Version oder die kosmetische Verdrehung, sondern die ungeschminkte Darstellung dessen, was wirklich geschehen ist.»
Das erste Panel des Treffens ging der Frage nach, wie Medienschaffende wissen können, was wahr ist. Dabei trafen zum Thema Donald Trump die Journalistinnen Deborah Turness, die Chefin von BBC News and Current Affairs, und Christiane Amanpour, Chefmoderatorin von CNN International, aufeinander. Turness fragte, wie sich ein Medium mit Trumps Wählerschaft auseinandersetzen könne, ohne sich zu isolieren: «Wenn wir uns selbst in die Enge treiben, werden diese Zuschauer nicht zu uns kommen, sie werden unsere Unparteilichkeit oder unser Streben nach Wahrheit nicht annehmen.» Worauf Amanpour antwortete: «Ich habe ein Problem mit dem Wort unparteiisch, weil ich nicht wirklich weiss, was es bedeutet. Ist es neutral oder objektiv?»
Deborah Turness definierte Unparteilichkeit als «Fairness und Respekt gegenüber dem Publikum». Doch Christiane Amanpour wunderte sich, was gewesen wäre, wenn die Medien kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieg gesagt hätten, sie seien unparteiisch gegenüber dem Wunsch der Nazis, die Welt zu überrennen. «Nein, wir sind nicht unparteiisch, und das sollten wir auch nicht sein. Wir sollten objektiv und wahrheitsgemäss sein.» Sie habe sich, sagte die CNN-Moderatorin, nie der Vorstellung angeschlossen, dass Wahrheit subjektiv sei, «denn diese ist empirisch, beweiskräftig und faktisch.»
Die Diskussion zum Thema Wahrheit war Einstimmung zum Panel unter dem Titel «The Ghosts of Gaza». Drei direkt Betroffene aus dem Küstenstreifen, Fotograf Motaz Azaiza, Korrespondentin Youmna El Sayed und Produzent Safwat Kahlout, beide von Al Jazeera, berichteten aufwühlend über ihre Erfahrungen bei ihrer Berichterstattung, die sie als moralische Pflicht erachteten. Und über ihre Gefühle, die Menschen in Gaza im Stich gelassen zu haben, weil es ihnen gelungen war, ins sichere Exil zu fliehen. Und sie verwehrten sich dagegen, als Anhänger oder Sympathisanten der Hamas verunglimpft zu werden.
Youmna El Sayed kritisierte die internationalen Medienschaffenden, sie hätten sich nicht ausreichend dafür starkgemacht, in den Gaza-Streifen eingelassen zu werden: «Sie haben auf das Recht verzichtet; sie haben während vieler Jahre Redefreiheit gepredigt, auf die sie aber verzichteten, als es darum ging, über den Krieg in Gaza zu berichten.» Nach wie vor untersagen Israel und Ägypten ausländischen Journalistinnen und Journalisten den Zugang zum Gebiet, es sei denn, sie tun es vereinzelt unter strikter Aufsicht der israelischen Armee (IDF).
El Sayed tadelte auch die Wortwahl internationaler Medien: Die Menschen in Gaza würden nicht einfach sterben, sondern getötet, und ein sechsjähriges Mädchen, welches die Granate eines israelischen Panzers in einem Auto tötete, sei keine «junge Frau», sondern «ein Kind». Zwar hat es vereinzelt Protestschreiben internationaler Medien und NGOs an Regierungen gegeben, sich für ein Ende des Tötens palästinensischer Medienschaffender einzusetzen, doch diese Aufrufe sind weitgehend ohne Echo geblieben.
Das Weisse Haus und das US-Aussenministerium äusserten lediglich «Bedenken», nachdem der israelische Informationsminister Shlomo Karhi am 21. Mai eine Fernsehkamera sowie technische Ausrüstung der amerikanischen Nachrichtenagentur AP hatte beschlagnahmen lassen, weil die Aufnahmen der live auf Gaza gerichteten Kamera auch an Al-Jazeera weitergereicht worden seien – an jenen Fernsehsender aus Katar, den die Israelische Regierung am 5. Mai hat schliessen lassen, weil er gegen den jüdischen Staat aufwiegle und die Sicherheit Israels und seiner Armeeangehörigen gefährde.
Es war ein Vorgehen, das Al Jazeera umgehend als «kriminellen Akt» verurteilte, der die Menschenrechte und das Recht auf Zugang zu Informationen verletzte. Inzwischen hat das Informationsministerium in Tel Aviv der AP das konfiszierte Material zurückerstattet. Im Fall des Verbots von Al Jazeera laufen noch Rechtsverfahren.
«Israel ist die einzige Demokratie im Nahen Osten – und es sollte wie eine solche handeln», kommentierte das Poynter Institute for Media Studies, eine renommierte Journalistenschule und Forschungsstelle in St. Petersburg (Florida). «Das Land sollte stolz die Prinzipien und Ideale vertreten, die eine demokratische Gesellschaft ausmachen und als Leuchtturm dienen in einer Region, in der sonst fast ausschliesslich repressive Regime regieren.» Das Vorgehen der Israelischen Regierung, so Poynter, beginne dem Vorgehen repressiver Regierungen zu ähneln, die den Informationsfluss kontrollieren und Dissens unterdrücken wollten.
Währenddessen sind laut dem Committe to Protect Journalists (CPJ) bis zum 26. Mai 2024 mindestens 107 Journalistinnen und Journalisten sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Medienorganisationen in Gaza getötet worden: 102 Palästinenser, zwei Israeli und drei Libanesen. Die IDF haben dazu wiederholt verlauten lassen, sie würden grundsätzlich keine Medienschaffende ins Visier nehmen. Doch das CPJ zeigt sich «besonders besorgt» über ein offensichtliches Muster von Angriffen des israelischen Militärs auf Medienangehörige und ihre Familien.
In einem Interview aus Rafah, mit Hilfe von WhatsApp-Sprachnachrichten geführt, sprach die palästinensische Journalistin Shrouq Al Aila, deren Mann Roshdi Sarraj ein israelischer Luftangriff am 22. Oktober 2023 getötet hatte, über ihre Erfahrungen in Gaza: «Was die Kamera oder das Video nicht zeigen können, ist der Geruch der Trümmer. Seit dem Märtyrertod von Roshdi verbinde ich den Geruch des Schutts, des Schiesspulvers, des Betons und des Staubs mit dem Tod. (…) Das ist etwas, was wir in unserer Berichterstattung nie wiedergeben können. Die Zuschauer werden nie erfahren, wie es riecht oder wie die Leichen riechen.»
Manchmal, berichtete Shrouq Al Aila weiter, habe sie das Gefühl, dass das alles umsonst sei: «Ich mache ein Foto von etwas und schaue mir die reale Szene vor mir an, und ich habe das Gefühl, dass 70 Prozent der Unermesslichkeit, der Grösse und der Härte der Szene auf dem Foto oder im Video nicht wiedergegeben werden.»
Sie wünsche sich deshalb, sagte sie, dass niemand anderer durchmachen müsse, was Journalistinnen und Journalisten in Gaza durchgemacht hätten: «Meine Botschaft an die journalistische Gemeinschaft ist: Wir als Medienschaffende haben über alles gesprochen. Wir haben alles gefilmt. Es ist jetzt an der Zeit, dass ausländische Korrespondentinnen und Korrespondenten kommen und über den Krieg berichten. Wir haben keine Worte mehr. Es gibt nichts mehr zu sagen oder zu filmen. Man kann sich alles auf dem Bildschirm ansehen und trotzdem hat niemand gehandelt. Es ist, als ob wir in einem Brunnen sitzen und schreien und nur das Echo hören.»
Shrouq Al Ailas Botschaft wird nicht ankommen, solange die israelische Regierung weiter ihre Strategie verfolgt, der internationalen Presse den direkten Zugang zu Gaza und zur Realität des Krieges fern jeglicher Propaganda zu verwehren. Und solange sich ausländische Medien – mit lobenswerten Ausnahmen – damit begnügen, Informationen aus zweiter Hand zu verbreiten, statt das aktuelle Geschehen akribisch zu hinterfragen. Oder ausführlich und händeringend über Nebenschauplätze wie die weltweiten Studentenproteste an Universitäten zu berichten, statt sich auf das blutige Kriegsgeschehen zu konzentrieren.
Inzwischen haben die Reporter ohne Grenzen (RSF) am 24. Mai beim Internationalen Strafgerichtshof (ICC) eine dritte Klage wegen möglicher Kriegsverbrechen an Medienschaffenden in Gaza eingereicht. Die NGO fordert das Haager Tribunal auf, in mindestens neun Fällen allfällige Straftaten gegen palästinensische Reporter zwischen dem 15. Dezember 2023 und dem 20. Mai 2024 zu untersuchen.
Die RSF befürchten, dass einige dieser Journalisten in Ausübung ihres Metiers gezielt getötet wurden oder Opfer absichtlicher Angriffe der israelischen Armee auf Zivilisten geworden sind: «Straflosigkeit gefährdet Journalistinnen und Journalisten nicht nur in Palästina, sondern weltweit. Diejenigen, die Journalisten töten, greifen das Recht der Öffentlichkeit auf Information an, die in Zeiten des Konflikts noch wichtiger ist. Sie müssen zur Rechenschaft gezogen werden.»