Die Medien liefern ein verzerrtes Bild vom Islam. Dies ist nicht auf Unfähigkeit oder bösen Willen zurückzuführen. Es liegt vielmehr an der Art und Weise, wie wir seit dem 19. Jahrhundert Nachrichten – News - zu konsumieren gewöhnt sind. Die „News“ von der islamischen Welt sind heutzutage blutig. Die Bluttaten werden von Gruppen verübt, die sich islamische Namen geben. Die prominenteste ist zur Zeit der „Islamische Staat", IS, der sich auch als "das Kalifat" bezeichnet. So liest der Normaleuropäer in seiner Normalzeitung, oder sieht es auf seinem Fernsehschirm, der "Islamische Staat" habe einmal mehr Menschen geköpft. Er schliesst daraus: "So sind sie, die Muslime".
Sensation statt Information
Mit dieser Art Information wird der Normaleuropäer zur Zeit und seit einigen Jahren täglich berieselt. Der stete Tropfen höhlt den Stein, besonders dann, wenn dieser ohnehin eher weich ist. Das ist er in diesem Fall, weil alte und zähe Vorurteile bestehen: seit der Türkenzeit, als Europa im 16. Jahrhundert Grund hatte, eine türkische Invasion zu befürchten - und noch viel älter, seit Dante zum Beispiel, der Muhammed als einen Abtrünnigen vom wahren, christlichen Glauben in die unterste Hölle versetzt.
Wenn einer aufsteht und sagt, die weit überwiegende Mehrzahl der Muslime sei gegen diese Bluttaten und die muslimischen Gottesgelehrten verurteilten sie, kann er leicht auf Unglauben stossen. "Warum vernehmen wir nie etwas darüber, dass die Muslime diese Gewalttaten ablehnen?" wird man skeptisch gefragt. Weil nichts von Ablehnung in der Zeitung steht, während die Greueltaten dort ausführlich erscheinen, kann in der Tat der Eindruck entstehen, die Muslime stimmten den Terroristen zu, oder wagten es nicht, sich gegen sie auszusprechen. Dass dieser Eindruck durch die Art der Berichterstattung entstehen könnte, die sich unvermeidlich auf das Sensationelle konzentriert, kommt kaum jemandem in den Sinn. Es ist aber überwiegend der Fall.
Sensation gegen Normaltät
Die muslimische "Normalität" interessiert die nicht-Muslime und unter ihnen die europäischen Medien unvermeidlicherweise weniger als die sich als muslimisch ausgebende Sensation. Die Normalität gehört schliesslich einer fremden Welt, Kultur, Religion an, die den meisten von uns eher exotisch erscheint. Die sensationellen Bluttaten jedoch, bedrohen möglicherweise auch "uns".
Die muslimische Normalität mag europäische Orientalisten interessieren, für nicht Orientalisten scheint sie kaum relevant. Die vermutete Bedrohung jedoch, die seit der Untat von New York sehr viel unmittelbarer geworden ist, betrifft uns direkt. Die pseudo-islamischen Gewaltgruppierungen stehen seither unter dem Mikroskop von Tausenden von Sicherheitsspezialisten. Sie sprechen alle von einer "islamischen Bedrohung", obwohl sie eigentlich eine Bedrohung durch den extremen gewaltbereiten Islamismus meinen. Sie kommen alle zu Wort in den europäischen Medien - prominent und permament seit 2002.
Interesse an der Untat
Das Geräusch ihrer Dauerkonversation dominiert in den westlichen Medien. Dort erschient es nur zu leicht als "Information über den Islam". Die Konsumenten der Medien gewinnen den Eindruck, sie wüssten nun genau, was "der Islam" sei. Ihnen, so sagen sie sich, könne man nichts mehr vormachen.
Wenn ein muslimscher Gelehrter aufsteht und ausdrücklich erklärt, die Untaten der islamistischen Extremisten hätten nichts mit Islam zu tun, sie schadeten dem Islam. Ist das viel weniger aufregend, als wenn IS-Terroristen einer ihrer Geiseln den Kopf abschlagen, besonders wenn es sich dabei um Amerikaner oder Europäer handelt. Dabei vergisst man sofort, dass die Zahl der von Europäern und Amerikanern geköpften und anderweitig ermordeten Muslime unendlich viel höher ist. Die Medien interessiert daher eine Fatwa (Rechtsmeinung eines islamischen Gottesgelehrten) in geringerem Masse, als eine Untat vom IS.
Eine Meldung von Reuters
Am 18. August dieses Jahres legte die Agentur Reuters eine ausführliche Meldung vor, in der sie berichtete, dass der wichtigste Islam-Gelehrte Saudi Arabiens, der Mufti des Königreiches, Abdullah ibn Abdul Aziz Al Shaikh, nicht zum ersten Mal, aber erneut und energisch die gewalttätigen Extremisten verurteilt habe. Reuters zitierte ihn:
"Extemisten, kämpferische Ideen und Terrorismus, die Korruption auf Erden ausbreiten, indem sie humane Zivilisation zerstören, sind in keiner Hinsicht Teil des Islams. Sie sind vielmehr Feind Nummer eins des Islams, und Muslime sind ihre ersten Opfer."
Reuters fuhr fort, der Mufti habe die Extremisten mit den Kharidschiten verglichen, die zu ihrer Zeit (am 28. Januar 661) Ali ermordeten, weil sie ihm vorwarfen, dass er die Meinung anders denkender Muslime als der seiner Anhänger habe berücksichtigen wollen. Dies ist islamische Geschichte, die jedem einigermassen gebildeten Muslim gewärtig ist. Der Vergleichspunkt ist die Frage des "Takfir" (andere Muslime zu Ungläubigen zu erklären) und der Mufti erinnerte damit daran, dass Ali sich weigerte, die abweichenden Meinungen anderer Muslime als Unglauben aufzufassen, sondern dass er vielmehr versuchte, Kompromisse zu finden und daher von den Extremisten seiner Zeit ermordet wurde.
Verurteilung der Extremisten
Reuters lieferte auch den Hintergrund zu dieser Erklärung und stellte klar, dass der saudische Mufti zur puritanischen und strenggläubigen wahhabitischen Islamausrichtung gehört, die im Königreich Staatsreligion ist. Zudem erwähnte Reuters, dass saudische Geldgeber im syrischen Bürgerkrieg die Seite der Aufständischen begünstigt hatten, deren Bewegung IS entscheidend fördern sollte. Die Agentur fügte hinzu, dass das Königreich im vergangenen März Gesetze erlassen hat, um saudische Teilnehmer an den Kämpfen in Syrien, sowie auch Geldgeber und Verbeiter von Sympathie mit den islamistischen Kampfgruppen, streng zu bestrafen, und dass der König selbst kürzlich in einer Rede die Extremisten scharf verurteilte.
All dies ist für den Normaleuropäer schwierig zu verstehen und bedarf ausgiebiger Erklärungen, wie sie die Meldung von Reuters auch bietet. Doch dadurch wird eine Meldung sehr lang. Der Verfasser hat keine europäische Zeitung gesehen, die sie abgedruckt hätte. "Zu schwierig, zu lang, für unsere Leser nicht relevant," dürfte der normale Zeitungsredaktor geurteilt haben. Das Papier von Reuters landete im Papierkorb. Kopfabschlagen, wenn auch bestialisch, ist doch eine andere Sache; das interessiert, und das kommt ins Blatt! Für die Aufmerksamkeitsspanne, die das Fernsehen für seine Nachrichten ansetzt, kommt eine Meldung wie die erwähnte von Reuters ohnehin nicht in Frage. Sie würde für sich alleine fast das ganze Nachrichtenprogramm füllen!
Der Mufti des saudischen Königreiches
Was Reuters, gewiss aus Platzgründen, nicht erwähnte, was aber mit erwähnt werden müsste, ist: Um wen es sich bei dem Mufti handelt, der seine Meinung darlegte. Abdulllah ibn Abdul Aziz Al Sheikh ist, wie der letzte Teil seines Namens klar stellt, ein physischer Nachfahre des Gründers der wahhabitischen Lehre. Al Sheikh (Familie des Scheich schechthin) bezeichnet die Nachfahren dieses Gründers, des Muhammed Ibn Abul Wahhab, der 1792 verstarb. Seine Nachfahren sind vielfach mit der Königsfamilie ("Al Saud") verschwägert. Mufti (ein Titel der den meisten Europäern als eher komisch erscheint) bezeichnet den vom Staat ernannten Gelehrten, der darüber zu befinden hat, ob die Gesetzgebung dieses Staates dem muslimischen Gottesrecht, der Scharia, entspricht oder entgegenläuft. Der Staat pflegt in dieses Amt einen möglichst hoch angesehenen Gottesgelehrten - seines Vertrauens - einzusetzen.
Ein Konzert von Fatwas
Es gibt vergleichbare Erklärungen der Muftis vieler anderer Staaten und auch zahlloser Gottesgelehrter, die keine offiziellen Funktionen ausfüllen. Manche davon sind von den Presseagenturen des Westens gemeldet worden. Andere findet man nur in der Fachliteratur. Dass sie den Weg von den Agenturen in die westlichen Media finden, ist selten.
Für den Muslim besagt es etwas, wenn ein Gelehrter seines Landes eine derartige Erklärung abgibt. Er kennt seinen Namen, er weiss die Bedeutung einer derartigen Erklärung zu würdigen, ihm liegt auch daran, die Meinung "seiner" Gelehrten zu erfahren. Dem Leser eines europäischen Blattes oder einem Fernsehkonsumenten sind weder die Namen noch die Institution der Fatwa (Rechtsmeinung nach der Sharia durch einen dazu befugten Gelehrten) bekannt. Man müsste ihm das ganze komplexe Umfeld erklären. Wer hat dazu den Raum, die Geduld, die Mittel, um dies attraktiv und belangvoll zu machen?
Die "500 einflussreichsten Muslime"
Wer ein Hilfsmitttel sucht, um Einblick in die Welt des Islam in ihrer ganzen Vielfältigkeit zu gewinnen, dem sei die als PDF unentgeldlich herunterladbare Veröffentlichung empfohlen, die jedes Jahr neu zusammengestellt wird und sich "The 500 most influential Muslims" bezeichnet. Google findet sie unter diesem Titel. Eine Kommission in Amman, die dem Königshaus nahe steht, gibt sie heraus. Das beinahe 300-seitige Buch, illustriert und graphisch anziehend gestaltet, umfasst in den Anhängen alle Gliederungen der weit verzweigten und fein verästelten Weltreligionen sowie relevante Statistiken. Man findet auch eine ausführliche Chronologie aller wichtigen Ereignisse in der ganzen islamischen Welt in dem entsprechenden Jahr. Dazu kommen informative Essays.
Die 500 einflussreichsten Muslime
Die Publikation versucht, jedes Jahr neu zusammengestellt, die einflussreichsten Muslime zu fassen: Herrscher, Gelehrte, Politiker, Frauenrechtler, Wissenschafter, Geschäftsleute, sogar Sportler, immer mit einer kurzen Biographie. Die Rangfolge beruht auf Nennungen der Muslime im Internet. Bei dieser Messung des Einflusses wird auf eine weitere Bewertung verzichtet. Für den Islam ist der Begriff "einflussreich" wichtig, weil es im Islam keine Kirche und keine Kirchen gibt. Das heisst keine hierarchische Institution, die den Gläubigen sagt und erklärt,wie er seinen Glauben verstehen soll. Dies tut einzig die Fatwa, die Rechtsfindung durch einen anerkannten und ausgewiesenen Gottesgelehrten. Dabei gilt die Regel : "Die Toten haben keine Meinung!" Was sagen will, die Rechtsfindung eines Gottesgelehrten gilt, solange er lebt. Wenn er stirbt, haben seine Nachfolger die Interpretationshoheit.
Der oben erwähnte saudische Mufti war im vergangenen Jahr die Nummer 14 unter den 500. Der einfussreichste von allen war der Vorsitzende der ägyptischen Azhar Moschee und Universität, Prof. Dr. Sheikh Muhammed Ahmed at-Tayyeb. Dem Aussenstehenden fällt auf, dass sich unter den 50 einflussreichsten Muslimen Könige finden, wie jener von Saudi Arabien (Nummer 2), der jordanische, der Sultan von Oman und der von Marokko. Auch der ägyptische Präsident, General as-Sissi, ist unter den 50, neben Präsident Erdogan und dessen derzeitigem bitteren Feind Fethullah Gülen. Dies spiegelt die Tatsache, dass im traditionellen Islam, wie er bis heute in der muslimischen Welt verankert ist, die Trennung von Staat und Religion nicht angestrebt wird. Dies ist eine Errungenschaft der europäischen Aufklärung, die sich im Jahrhundert nach der französischen Revolution in Europa und Nordamerika schrittweise ausbreitete. Die Religionsgelehrten, Theologen, würden wir sagen, mischen sich daher im Islam mit den politischen Autoritäten und anderen Vorbildern.
Weit verzweigte Religionen
Was weiter sehr deutlich hervortitt ist die ethnische Vielfalt, die unter den 1,6 Milliarden Muslimen besteht. Sie bewirkt auch, dass diese sehr verschiedene einflussreiche Muslime in ihren zahlreichen Ländern kennen, ein jedes hat die seinen, von Marokko bis nach Indonesien und tief hinüber nach Afrika.
In diesem Buch, Ausgabe für 2013-4, findet man auch einen Essay über die islamistischen Extemisten, verfasst von einem amerikanischen Muslim, Joseph Lumbard, der an der Brandeis University, bei Boston, unterichtet. Hier ist eine deutsche Übersetzung des letzten Abschnittes seines Essays:
"Wie es Tausende von Fatwas zeigen, die von Juristen mit klassischer Ausbildung
erlassen worden sind, sind die Fundamentalisten ein Irrweg ("aberration") des Islams. Indem die Islamisten die wirtschaftlichen Ungleichgewichte und politischen Wirren in den Regionen der islamischen Welt ausnützen, ist es ihnen gelungen, ihr militant-takfiri Islamverständnis den weniger gebildeten Muslimen als eine Form des normativen Islams aufzudrängen. Nichts ist weiter von der Wahrheit entfernt. Ihr Versuch, ihre extremistische Ideologie auszubreiten, ist nur dort erfolgreich, wo politische Instabilität herrscht, wo die Vertreter des traditionellen Islams geschwächt und ausgeschaltet werden und wo die Institutionen des traditionellen Islams in Frage gestellt werden. Deshalb ist die Stärkung des traditionellen Islams der wichtigste Weg -vielleicht einzige Weg - um extremistischen islamistischen Ideologien und ihren verderblichen Folgen entgegenzutreten."
Anmerkungen: 1) Die Aussage "Tausende von Fatwas" ist wörtlich zu nehmen.
2) Etwas weiter oben in seinem Essay erklärt der Verfasser den Begriff Takfiri so: "Takfiris insistieren, dass die Angehörigen anderer Religionen Ungläubige seien." Man kann hinzufügen, extremistische Takfiris gehen so weit, dass sie auch andere Muslime, die nicht ihrem falschen Islamverständis folgen, als Ungläubige klassifizieren.
Abschliessend gebe ich zu bedenken: Europäer die überzeugt sind, dass sie genau wissen, was Islam sei, ohne die Sache wirklich studiert zu haben, begehen den gleichen Fehler wie die Islamisten. Beide machen sich ein sträflich vereinfachtes Islambild zurecht, so wie es ihnen gefällt und ihrer politisch-ideologischen Zielsetzung dient, ohne sich an die historisch gewachsenen und durchaus komplexen Gegebenheiten dieser Weltreligion zu halten. Wenn Muslime sich dies tun, schaffen sie die Grundlagen für islamistischen Terror. Wenn Europäer es tun, helfen sie mit, diese Grundlagen auszubauen. Sie arbeiten an der Vertiefung des Grabens zwischen muslimischen und westlichen Gesellschaften, und sie verleihen dadurch der pseudo-islamischen Ideologie der gewalttätigen Islamisten zusätzliche Glaubwürdigkeit.