Die Fondation Beyeler in Riehen wartet mit einer Sommerausstellung der besonderen Art auf. Es gibt Überraschungen ganz verschiedener Art – von Kunst im Garderobekästchen über Nebel ums Haus bis zu Wagen, auf denen Millionen-Bilder in den Sälen herumgekarrt werden.
Nebelschwaden hüllen die Hasen-Skulptur von Thomas Schütte (*1954 in Oldenburg) im Beyeler-Park ein. Die Wolken sind ein ephemeres Werk der Japanerin Fujiko Nakaya (*1933). Schmetterlinge schweben durchs feuchtwarme Treibhaus voller tropischer Blumen der nigerianisch-amerikanischen Künstlerin Precious Okoyomon (*1993). Diese Gegenwartskunst – und noch viel mehr – begrüsst die Besucherinnen und Besucher schon im Park der Fondation Beyeler zur Sommerausstellung. Kunst begrüsst uns auch bereits in der Garderobe: In einigen Kästchen präsentiert der in Portugal lebende Amerikaner Dozie Kanu (*1993) seine perfekt geformten Kleinskulpturen. In die Eingangshalle des Museums gelangen wir durch einen bunten Vorhang aus Glasperlen: Ein Werk von 2002 des Amerikaners Felix Conzales-Torres (1957–1996).
In einem der Säle hat sich eine Schar Kindergärtler zwanglos auf einer Bodeninstallation des Franzosen Philippe Parreno (*1964) niedergelassen; die Kids lachen vergnügt angesichts eines Sängerpaares, das zu zierlich-tänzelnden Bewegungen Beethoven-Melodien – aus der fünften und sechsten Sinfonie natürlich – singt. Sie performen auf Instruktion des deutschen Künstlers Tino Sehgal (*1976). Irgendwann begegnet man in den Heiligen Hallen des Museums einem Angestellten, der einen Wagen durch die Räume schiebt und einen Platz sucht für die Warhols oder Gaugins auf seinem Gefährt. Eine Wächterin sorgt dafür, dass der Weg frei bleibt für die millionenschwere Kunst. Sie pfeift auch einen Besucher zurück, der zu nahe an eine Figur Giacomettis tritt.
Bacon, Giacometti, Stingel
Einiges überrascht in der Sommerausstellung der Fondation Beyeler. Erstmals bespielt die eigene Sammlung – ergänzt durch Leihgaben und neue, ortsspezifische Installationen – alle Räume des Hauses. Die altbekannten Werke der hauseigenen Sammlung haben aber diesmal keine Stammplätze, sondern wechseln im Verlauf der Ausstellungsdauer immer wieder ihre Plätze. Der übliche Glanz der hart ins Scheinwerferlicht genommenen Meisterwerke fehlt. Die Atmosphäre ist teils locker und verspielt wie in Sehgals erwähnter Installation, teils magisch-dunkel wie im Raum mit einer schwarz-in-schwarz gehaltenen Chirico-Variation des 1974 geborenen Rumänen Victor Man oder wie bei der Grossprojektion des dunklen Videos des Amerikaners Arthur Jafa (*1960).
Überraschend sind auch viele Kombinationen der oft hochkarätigen Werke der Beyeler-Sammlung. Ein Musterbeispiel: Francis Bacons (1909–1992) Triptychon «In Memory of George Dyer» ist auseinandergerissen. Die Einzelteile sind auf drei Wänden verteilt. Dicht vor einem der Teile steht eine Figur Alberto Giacomettis – so nahe, als wolle sie dem Bacon-Freund scharf in die Augen blicken. Links schliesst sich nahtlos eine grosse Malerei mit wohl konzeptuellem Hintergrund des in den USA lebenden Südtirolers Rudolf Stingel (*1956) an. Bacons und Giacomettis Werke wurzeln in der existenzialistisch geprägten Atmosphäre der europäischen Nachkriegsjahre. Aber Rudolf Stingel?
Überraschend vor allem ein grosser Saal. Da stehen, meist auf Sockeln, über dreissig Skulpturen der klassischen Moderne oder der Gegenwart aus der Sammlung Beyeler. Fast durchwegs werden sie als Paare präsentiert – als kuriose Paare allerdings, so nahe, dass sich zum Beispiel die Nasen eines Giacometti- und eines Picasso-Kopfes zu berühren scheinen, dass sich Giacomettis Lothar-Büste im Glanz von Brancusis «Mademoiselle Pogany II» spiegelt oder dass sich Max Ernsts spielender «König» und Hans Arps «Torso» freundschaftlich zu begrüssen scheinen.
Ist alles mölglich?
Die Ausstellung ist ein Gemeinschaftsprojekt von Beyeler und der LUMA-Stiftung Maja Hoffmanns. Ihr Kuratorenteam (Beyeler-Direktor Sam Keller, Hans Ulrich Obrist, Precious Okoyomon, Philippe Parreno, Tino Sehgal und andere, genannt wird auch Maja Hoffmann) will Gewohntes sprengen und die Beyeler-Sammlung in unerwartetem Licht zeigen. Die Werke rotieren. Besucherinnen und Besucher geraten ebenso ins Rotieren. Nicht nur die Bilder wechseln und finden sonderbare Nachbarschaften: Van Gogh hängt neben Cézanne (das bereitet keine Schwierigkeiten), Van Gogh neben Hodler (warum nicht?), doch Van Gogh unmittelbar gefolgt von Max Ernst und Wolfgang Tilmans?
Auch der Ausstellungstitel wechselt. Zu Beginn lautete er «Dance With Daemons», später «Cloud Chronicals». Bis zum Ende mit «Summer is Over» werden es insgesamt 16 Titel sein. Das könnte zur Annahme verleiten, dass alle Titel und alle Kunstwerke möglich sind, dass es also keine strengen Auswahlkriterien gab – wohl ausser «Qualität», was immer das heissen mag –, dass gezeigt wird, was gefällt und was gerade verfügbar ist.
Vielleicht bedeuten Wechsel und Rotation auch, dass den Besuchern kein patentes Ausstellungskonzept auf dem Silbertablett serviert werden soll, sondern dass, wer das Museum betritt, sich in Freiheit sein eigenes Konzept zurechtlegen darf. Wer das Museum nur einmal besucht, bekommt Wechsel und Rotation allerdings nicht mit. Was sie oder er trotzdem mitbekommt: In den Museumsräumen herrscht eine grosse Vielfalt an künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten, Techniken, Inhalten, Herkunft der Künstlerinnen und Künstler und eine gepflegte und überraschungsreiche Präsentation.
Ausstellungs-«Experiment» für wen?
Die Kuratoren der Ausstellung, die morgen «All my Love Spelling Over» heissen wird, reden von einem «Experiment». Experimentell ist das Unternehmen vor allem für das Beyeler-Museum selber, denn Ähnliches gab’s da bisher kaum. Anderswo wurden und werden aber überraschende Gegenüberstellungen von Kunstwerken völlig verschiedener Herkunft längst geradezu zelebriert, und konventionelle Sammlungspräsentationen werden vielerorts lustvoll aufgebrochen.
Dazu nur drei Beispiele: Vor ein paar Jahren schon hing im Kunsthistorischen Museum in Wien unmittelbar neben Rubens‘ «Pelzchen» ein Selbstakt von Maria Lassnig, im Kunstmuseum Winterthur hielt Michael E. Smith Brancusis «Danaide» einen Stahlhelm vor die Nase, und das Kunstmuseum Luzern zeigt seine Sammlung längst nicht mehr als beziehungslose Aufreihung von Einzelwerken, sondern befragt sie unter unterschiedlichen kunsthistorischen, inhaltlichen oder politischen Aspekten; gegenwärtig steht die Herkunft der Werke im Vordergrund. Auch ein Kuratieren im Team, wie es Beyeler jetzt praktiziert, ist anderswo (nicht immer zum Nutzen der Sache) längst üblich.
Blicke verändern
Ob experimentell oder nicht: Das Verdienst der Sommer-Aktivität der Fondation Beyeler ist nicht, dass die Kunst «vom hohen Sockel» geholt wird, wie die NZZ festhielt, und auch kaum, dass da Entdeckungen präsentiert würden, denn fast alles, was man in Renzo Pianos schönen Räumen und im Park antrifft, gehört längst zum Kanon der Gegenwartskunst und des weltweiten Kunsthandels mit seinen teils exorbitanten Preisen.
Viel bedeutender scheint mir, dass Rotation und unerwartete Konfrontationen unseren Blick auf die gezeigte Kunst verändern, so dass man, wenn Geduld und Sensorium nicht fehlen, Bekanntes und Neues anders erleben kann. Man mag sich zum Beispiel fragen, was die Malerei Bacons mit jener Stingels zu tun haben könnte – und kommt dabei ins Grübeln über Vermögen oder Unvermögen des Mediums Malerei. Oder man fragt sich, was denn eine Landschaft Van Goghs von einem «Genfersee» Ferdinand Hodlers trennt. Die Qualität? Der Preis? Er macht bei einem Gemälde Van Goghs ein Mehrfaches dessen aus, was eine auf Auktionen auch nicht gerade tiefpreisig gehandelte Hodler-Landschaft auf die Waagschale bringt. Oder ist es die schwer erklärbare kultische Aura, die mit dem Namen Van Goghs verbunden ist?
Die Ausstellung bietet genügend Stoff zu eingehender Reflexion über den Gang der Dinge in Sachen Kunst, ebenso zum Nachdenken über Institutionen wie die Fondation Beyeler, über Kunstmuseen und Kunstsammlungen und auch über den internationalen Kunsthandel, in dem Emil Beyeler als grosser Player engagiert war. Ob und wie das Publikum des Museums in Riehen auf dieses Angebot eingeht? Ich habe die Ausstellung zweimal besucht. Ich war nicht allein. Gruppen von Jugendlichen, von Schülerinnen und Schülern haben sich eingefunden, ebenso ältere Leute. Aber es gab keinen Grossaufmarsch. Das Publikumsinteresse hielt sich in Grenzen. Da war nichts vom gewohnten Ansturm auf Gaugin, Richter, Goya, Picasso & Co.
Doch keine Angst: Das wird sich am 22. September, wenn Henri Matisse angesagt ist, zweifellos ändern. Der Shop bietet bereits heute «Fan-Artikel» an. Dieser Tage verschickte Beyeler eine Information des Inhalts, dass die Fondation seit ihrer Eröffnung im Jahr 1997 neun Millionen Besuchende verzeichnen kann.
Fondation Beyeler, Riehen. Bis 11. August
Alle Fotos: Niklaus Oberholzer