Man hat die Szene geradezu filmisch-dramatisch vor Augen, wenn Fredi Murer sie erzählt: wie dem Pfarrer der Kopf vor Wut rot anschwillt, wie er auf den kleinen Buben losgeht und wie er ihm mit der Faust mitten ins Gesicht schlägt – und das drei Tage vor der Erstkommunion, die da mit den Kindern vorbereitet wird.
Triumph für den kleinen Fredi
Was ist geschehen? Wie der bald Achtzigjährige sagt, dem noch jedes Detail präsent ist, hatte er eine unziemliche Frage gestellt, als er wissen wollte, wie das denn möglich sei, dass Kain und Abel «ganz allein» hätten Kinder haben können. Anstatt nun dem vorwitzigen Bürschchen eine Bibellektüre zu erteilen, die die offenen Fragen geklärt hätte, sah der unbedarfte Geistliche wohl den Teufel am Werk, den es unverzüglich auszutreiben galt. Entsprechend konnte auch keine Rede davon sein, dass sich der Pfarrer entschuldigt hätte.
Immerhin, ein gewisses Schuldbewusstsein schien doch vorhanden zu sein. Und so geschah es denn an diesem Sonntag zu Altdorf im Jahre des Herrn 1948, dass zum erstenmal die Buben, unter denen sich einer mit einem der ganzen Gemeinde ersichtlichen riesigen blauen Auge befand, die Kommunion nicht vom Pfarrer empfingen, sondern vom Pfarrhelfer (der Pfarrer hatte die Mädchen übernommen). Ein Triumph für den geprügelten kleinen Fredi.
Das Motiv des Jähzorns
Wäre Fredi Murer Actionfilmregisseur geworden – wir hätten die Szene zweifellos in einem seiner Filme wiedergefunden. Weil er aber ein Künstler ist, erscheint das Material nun eben transformiert, in ganz neuer Gestalt. Wie der Filmemacher sagt, eignet der biblischen Geschichte der ersten Menschen ja ein Inzestkern. Aus diesem Stoff ist dann die Geschichte von «Höhenfeuer» herausgewachsen, die Geschichte der Liebe zwischen Belli und dem «Bueb», wie er gerufen wird, zwischen der älteren Schwester und dem gehörlosen Bruder, die eben die «Inzestschranke» ignoriert. Und vielleicht darf man sogar im Jähzorn des Vaters (nicht in dessen Person mit ihrem gütigen Charakter), der aus der Sippe der «Jähzorniger» auf ihn heruntergekommen ist und nun in ihm aufwallt, als er von Bellis Schwangerschaft vernimmt, ein fernes Echo auf den irrwitzigen Jähzorn des Geistlichen damals heraushören. (Ein anderes ist die fast schon mythisch überhöhte Bedeutung der Kinder, die insbesondere «Vollmond» [1998], aber auch noch «Vitus» [2006] prägt.)
Ist es dieser «kirchliche» Hintergrund, der Fredi Murer ablehnend reagieren liess, als «Höhenfeuer» am Filmfestival Locarno 1985 nebst dem Hauptpreis, dem Goldenen Leoparden, auch den Preis der Ökumenischen Jury erhielt? Im einzigen repräsentativen Poll, der die Schweizer Filme nach ihrer Beliebtheit beim Fachpublikum auflistet (und wohl bei allen andern Umfragen auch), nimmt «Höhenfeuer» seit Jahrzehnten zuverlässig den Spitzenplatz ein. Auch wer nicht allzu viel hält von solchen Ranglisten – «Höhenfeuer» schlägt «Les petites fugues» um fünf Hundertstelsekunden! –, wird gern konzedieren, dass sich hier ein filmischer Glücksfall ereignet hat, bei dem schlicht alles stimmig ist. Dabei ist es nicht einfach eine bäuerliche Welt, deren klare Handgriffe, Arbeitsabläufe und Lebenszusammenhänge gleichsam von selbst auch die künstlerische Geschlossenheit garantieren. Wie unbefriedigend dergleichen ausfallen kann, führen leider – trotz immer wieder gelingenden Einzelmomenten – die Gotthelf-Verfilmungen Franz Schnyders vor (die zudem kaum eine Ahnung vermitteln von der ungeheuren Wucht der Vorlagen). «Höhenfeuer» hingegen berührt sich in der künstlerischen Vollendung mit Ermanno Olmis überragender Evokation bäuerlichen Lebens in der Lombardei des 19. Jahrhunderts, «L’albero degli zoccoli» (1978), der, um ein volles Drittel länger, über mehr als drei Stunden hinweg freilich ein weites gesellschaftliches Panorama eröffnet.
Entspannte Konzentration
Murer ist es um Verdichtung zu tun, um Konzentration nach innen. Das war nur um den Preis intensivster Vorbereitung zu haben. So hat der Regisseur nicht nur die beiden jugendlichen Hauptdarsteller, Johanna Lier und Thomas Nock, eine Woche in den Landdienst ins Schächental geschickt, so hat er nicht nur selber im Jahr vor den Dreharbeiten mit dem Kameramann, Pio Corradi, und dem Regieassistenten, Matthias von Gunten, das Drehbuch Einstellung um Einstellung durchgenommen und den künftigen Schauplatz bei einer Begehung im Gelände genauestens vermessen, er hat seinen Schauspielern auch die Augen verbunden und sie zwei Stunden lang blind im Haus herumtasten lassen, um sie mit der Örtlichkeit eben blind vertraut werden zu lassen. (In Klammern lässt sich anmerken, dass damit natürlich auch ein grosses Murersches Thema verbunden ist: die Welt mit andern Augen sehen. Das haben die frühen Arbeiten noch durchaus experimentell vorgeführt, am radikalsten «Vision of a Blind Man» [1969], in dem sich der Filmemacher, die Kamera geschultert, eine lichtundurchlässige Schweisserbrille über den Augen, geführt von zwei Begleitern aufmacht, während eines Tages zu filmen, was er nicht sieht.
Das Thema hat seinen Widerhall in «Vollmond» gefunden, aber auch im stimmigen Auftragsfilm «Sehen mit anderen Augen» [1987] über Blinde und ihre Hunde.) Murer bezeichnet denn auch das Haus, dessen Entdeckung ein weiterer der Glücksfälle dieser Produktion gewesen sei, als «fünften Hauptdarsteller». Von welch heiter-entspannter Stimmung die Dreharbeiten erfüllt waren, zeigt in der Erinnerung Matthias von Guntens die geradezu bukolische Szenerie, in der Fredi Murer jeweils während der Mittagspause inmitten der ganzen Equipe ein Schläfchen abzuhalten pflegte.
Die Arbeit am Ton, an der Sprache
Auf den Dreh folgte die wochenlange Feinarbeit am Ton, auf dessen «enorme Authentizität» Murer stolz ist. Ein schönes Beispiel ist die Nachsynchronisation der erwachsenen Hauptdarsteller. Die Wahl der beiden deutschen Schauspieler mit ihren hierzulande völlig unbekannten Gesichtern konnte dadurch grossartig funktionieren, dass er insbesondere mit dem bekannten Radiomann Tino Arnold für den Vater einen Sprecher von fabelhafter Prägnanz gefunden hatte. Mit Vergnügen erzählt Murer, wie nach der Vorpremiere in Altdorf (noch vor der Uraufführung in Locarno) ein Bauer auf ihn zugekommen sei und gesagt habe: «De Vatter? Irgendwoher känn ich de Chaib, aber gseh hanen no nie.» Und der bedeutende Volkskundler Arnold Niederer von der Universität Zürich, mit dem er seit «Wir Bergler in den Bergen sind eigentlich nicht schuld, dass wir da sind» (1974) in Kontakt war, schrieb ihm, er habe «den Film nun dreimal gesehen und immer noch keinen Fehler gefunden».
Auch Fredi Murer findet «Höhenfeuer» seinen «besten» Film, noch aus andern Gründen als das Publikum. Von seinen abendfüllenden Filmen sei dies der einzige, den er wirklich autonom, als Drehbuchautor, Regisseur und Produzent (Bernard Lang sei nur zum Schluss, aus formellen, koproduktionsbedingten Gründen, hinzugekommen), ganz nach seinen Vorstellungen habe verwirklichen können. Er sagt, dass er durchaus «eine gewisse Bitternis» über sich selber empfinde, «dass ich das alles habe mit mir machen lassen» bei den andern Filmen: die Produzenten, die dafür besorgt waren, dass sich die Budgets aufblähten, all diese Inkompetenz in den Gremien und Fernsehanstalten, die meinte, ihm dreinreden zu müssen.
Perplex erinnert er sich an eine vielleicht zweiundzwanzigjährige «Drehbuchautorin»: «Null Lebenserfahrung.» Dänemark, Österreich, die hätten nicht nur tolle Leute, sondern auch ein besseres Förderungssystem als die Schweiz, der er zugute hält, dass die Mehrsprachigkeit die Situation verkompliziere. Aber hierzulande heisse es jeweils: Der Murer, der habe ja schon Filme gemacht, «jetzt kommen auch einmal andere zum Zug». Zugleich seien die Kommissionen völlig überfordert von der Masse des Eingereichten. Auf das vielbeschworene Cinéma copain der sechziger und siebziger Jahre blickt der langjährige Präsident sowohl des Verbands der Filmgestalter wie der Schweizer Filmakademie mit gemischten Gefühlen zurück: etwa auf den Dreh von «Grauzone» (1979), seinem ersten Spielfilm, wo ihm die Equipe ständig dreingeredet habe und der Kameramann (der keineswegs über viel Erfahrung verfügte) meinte, ihm sagen zu müssen, wie das mit der Regie gehe …
Therese Giehse zu Füssen
Aber natürlich, das Regieführen sei «Learning by doing» gewesen. «Als Filmer», sagt Fredi Murer, «stehe ich auf den Schultern Hunderter genialer Filmemacher», und diese Kenntnis des Früheren ist zugleich ästhetische Inspiration. Umso fassungsloser musste er beim gelegentlichen Unterricht an Filmschulen die totale Ahnungslosigkeit der Absolventen konstatieren, was die Filmgeschichte betraf. Bei der Anleitung der Schauspieler half Filmgeschichte freilich nicht weiter. Auch nicht, dass er einmal Therese Giehse vor die Füsse gefallen war: Die Giehse spielte da das Dienstmädchen in einer Fernsehinszenierung von Ionescos «Die Unterrichtsstunde», bei der Murer als Beleuchter engagiert worden war, dies dank seiner Erfahrung als Beleuchter im Schauspielhaus. Und da hatte er plötzlich einen Stromschlag abbekommen, dass es ihn zu Boden warf. Am Schauspielhaus hatte er aber nicht nur die Grössen des damaligen deutschsprachigen Theaters aus nächster Nähe erlebt, er hatte auch den etwas jüngeren Kollegen kennengelernt, der auf der andern Seite des Zuschauerraums wie er als «Verfolger» die Protagonisten im Lichtkegel des Scheinwerfers zu halten hatte: Bruno Ganz. Diese Bekanntschaft half ihm dann wohl auch, Jahrzehnte später bei «Vitus», die exorbitanten Honorarforderungen des seit «Der Untergang» weltberühmten Mimen – der durchaus auch bei Belanglosigkeiten einen Tobsuchtsanfall bekommen konnte – etwas herunterzuschrauben. Da wusste er längst, wie mit diesen empfindlichen Wesen umzugehen war. Nicht zuletzt konnte er sich dabei auf Pio Corradi verlassen: Sein langjähriger Kameramann hatte nämlich, wenn eine Szene nicht gut war, das Codewort erfunden, er habe da gerade einen «Rüttler» gehabt …
Der obenstehende Text wurde für das Kinok St. Gallen geschrieben, das dem Filmemacher im Oktober eine Retrospektive ausrichtet. Am 6. Oktober wird Fredi M. Murer um 19 Uhr zu Gast in der stimmungsvollen ehemaligen Lokremise am Bahnhof sein. Anschliessend werden um 20 Uhr 30 seine Kurzfilme «Chicorée» (1966), «Bernhard Luginbühl» (1966) und «Centre Le Corbusier» (1967) gezeigt.