Seit Aesops Fabeln gelten Ameisen als vorbildlich fleissige Tiere. Und aus dem Ameisenhaufen zieht auch ein Bibelspruch eine unmissverständliche Moral für Nichtstuer: „Gehe hin zur Ameise, du Fauler; siehe ihre Weise an und lerne!“ Dieser Lob-und-Tadel-Funktion dient die Ameise bis in die Gegenwart als Musterbeispiel. Erst vor ein paar Jahren, in der europäischen Schuldendebatte, hat Alexis Tsipras vom griechischen Bündnis Syriza der Aesopschen Fabel einen Schwenk ins Politische gegeben, als er in einer Rede vom „Märchen über die arbeitsamen und strebsamen Ameisen“ sprach, „die den ganzen Sommer über arbeiten, während die Grillen schlafen. So hat man uns gesagt, dass Europa im Norden von Ameisen und im Süden von Grillen bewohnt wird.“
Themnothorax rugatulus
Dass es sich um ein Märchen handelt, ist längst bekannt. Der berühmte Insektenforscher Jean-Henri Fabre ging hart ins wissenschaftliche Gericht mit La Fontaines Version der Fabel von der Ameise und der Grille. Sie sei „von gemeiner Bosheit“, verstosse gegen die Moral wie gegen die Naturgeschichte. Bestätigt wird Fabres Kritik neuerdings von Biologen der University of Arizona, die eine Ameisenart mit ungewöhnlicher Arbeitsteilung entdeckt haben: Themnothorax rugatulus. 40 Prozent dieser Ameisen verbringen die grösste Zeit des Tages damit, nichts zu tun. Wenn sie nicht einfach bewegungslos herumstehen, spielen sie vielleicht kurz mit Jungameisen oder wischen einem arbeitsamen Artgenossen halbherzig den Rücken. Aber dann kehren sie umgehend zu ihrer Hauptbeschäftigung, dem Nichtstun, zurück. Die faule Ameise – welch formidables Anti-Stereotyp! Anlass jedenfalls, sich mit Gründen des Nichtstuns einmal aus der Ameisen-Perspektive zu beschäftigen. Unnötig zu betonen, dass ich dabei drauflos anthropomorphisiere. Die Myrmekologen – die Ameisenforscher – mögen es mir nachsehen.
Die Ruhige-Kugel-Ameise
Zunächst liesse sich sagen, dass faule Ameisen eine Entdeckung gemacht haben: Die Mitameisen sind ja über die Massen fleissig. Warum da selbst noch fleissig werden. Die Ressourcen sind da, ungeachtet, ob man etwas tut oder nicht. Man könnte von Ruhige-Kugel-Ameisen sprechen. Sie finden sich vor allem in Netzwerken, in denen Anstrengung überflüssig erscheint. Das erinnert an den Leerlauf gewisser administrativer Bürokratien, in denen wenige viel und viele wenig tun, so dass vordergründig der Eindruck grosser Effizienz entsteht. Die französische Staatsangestellte Amélie Boullet sorgte 2010 mit ihrem Buch „Absolument debordée“ (unter dem Pseudonym Zoé Shepard) für einen Skandal, als sie die Langeweile des Büroalltags in der Verwaltung beschrieb: „In (meiner) Abteilung besteht das Geheimnis von Ruhm und Erfolg darin, den Eindruck grösstmöglichen Arbeitseifers zu erwecken. Also leere ich umgehend meine Tasche aus und bereite ihren Inhalt sorgfältig auf meinem Schreibtisch aus (...) Sobald jeder Quadratzentimeter bedeckt ist, bin ich offiziell bereit, mit meiner heutigen Scheinarbeit zu beginnen.“
Die Post-Klimax-Ameise
Eng verwandt mit der Ruhige-Kugel-Ameise ist ein Typus, den man als Post-Klimax-Ameise bezeichnen könnte. Dieser Typus arbeitet hart und selbstaufopfernd in einem System, bis er eine bestimmte Position erreicht hat, quasi den von ihm anvisierten Gipfel. Dann befällt ihn die Paralyse. Das Phänomen ist aus akademischen Kreisen bekannt. Der wissenschaftliche Jungspund publiziert erst auf Teufel komm raus, aber mit Festanstellung oder gesichertem Ruf fällt er in den Ruhige-Kugel-Modus. Auch Preise und andere Anerkennungen haben häufig diese Wirkung. Das Phänomen kursiert unter einem eigenen Namen: Depression nach fester Anstellung („post-tenure depression“) oder akademische Midlifekrise. Bei Schriftstellern ist Ähnliches zu beobachten. Kein Geringerer als Leo Tolstoj schreibt in seiner „Beichte“, dass er nach dem Höhepunkt seiner glanzvollen literarischen Karriere plötzlich von der Frage heimgesucht worden sei: Nun gut, was jetzt? – Man muss kein Tolstoj sein, um sich nach einer durchaus befriedigenden Anzahl erkletterter Stufen diese Frage zu stellen.
Die Auszeit-Ameise
In der unbarmherzigen, oft trostlosen Hektik heutiger Ameisenbauten, in der noch die letzte Tätigkeit eines Häkchens auf dem Kontrollblatt bedarf, fällt der Typus der Auszeit-Ameise immer mehr auf. Die Philosophen unterteilen menschliche Handlungen in „telische“ und „atelische“, in solche mit einem Ziel (altgriechisch „telos“) und solche ohne Ziel. Nach der sorglosen atelischen Kindheit stecken wir die meiste Zeit und Energie in telische Aktivitäten, wir „zielen“ auf einen erfüllenden Beruf, auf Partnerschaft, Kinder, gute Gesellschaft, auf das Gemeindepräsidium, eine Sportkarriere, die Expansion der Firma, einen Bestseller – kurz, wir haben Ziele im Leben. Aber es bleibt da stets ein zielloser Rest, der sich meist in der Lebensmitte immer unangenehmer vernehmbar macht in der Frage „War’s das?“ Wir verspüren dann das Bedürfnis, mehr Zeit in atelische Tätigkeiten zu investieren. Schon ein Spaziergang kann eine atelische Qualität aufweisen, dann auch gewisse, nicht explizit auf das Ziel Sieg ausgerichtete Sportarten, das Musizieren, Meditieren, Malen, Sammeln bestimmter Dinge. Diese Aktivitäten befriedigen in der Ausübung, nicht im Erreichen eines Ziels. Ihr Zauber liegt gerade darin, dass man nicht fragen muss: „Und was jetzt?“, ja, dass man auf die Frage ein tief befriedigtes „Nichts jetzt!“ antworten kann.
Die Taugenichts-Ameise
Aus diesen atelischen Tätigkeiten lässt sich ein Lebensentwurf gewinnen. Joseph von Eichendorff hat ihn im „Leben eines Taugenichts“ angerissen. Die Taugenichts-Ameise ist eine vagabundierende Ameise, sie wandert von Bau zu Bau, bleibt vorübergehend, zieht dann weiter. Nicht um der Bildung, sondern um des Gammelns willen. Sie entdeckt, dass die Welt grösser ist als alle Ameisenhaufen zusammen. Und vor allem macht sie die schönste Erfahrung, die einer Ameise überhaupt offensteht: „Schläft ein Lied in allen Dingen/ Die da weben fort und fort/ Und die Welt hebt an zu singen/ Triffst du nur das Zauberwort.“ Sie pfeift auf die Arbeitsethik, die in den Ameisenbauten dominiert, sie tut und taugt nichts aus einer existenziellen Schwerelosigkeit heraus.
Die arbeitsrenitente Ameise
Es gibt allerdings einen rebellischen Ameisentypus, welcher der Arbeitsethik des Ameisenhaufens bewusst abschwört. Müssiggang, rufen sie, ist nicht aller Laster Anfang, sondern das Ende einer unwürdigen, das heisst dem „Fleiss“ verpflichteten Ameisenexistenz. Wir tun nichts, weil uns das Tun versklavt, zu konformen Fleiss-Spiessern gemacht hat. Diese Ameisen weisen auf den germanischen Wortstamm von „Fleiss“ hin: „flita“ bedeutet der tüchtige Kämpfer in der Schlacht. Wer die meisten Gegner totschlägt, gilt als „fleissig“. In der industriellen Produktionsschlacht herrscht immer noch diese Totschlagmentalität. Der fleissige Kämpfer zeichnet sich aus durch die Mengen und Massen, die er „erledigt“.
Diesem Kampf widersetzt sich der Typus der arbeitsrenitenten Ameise. Sie definiert die Arbeit um. Wir leben jetzt, so argumentiert sie, in einem postindustriellen, einem „nach-fleissigen“ Ameisenbau. Die Optimierung und Automatisierung hat sich soweit entwickelt, dass immer weniger Arbeitskraft nötig ist. Was aber dann mit den arbeitslosen Ameisen? So wie der Philosoph Charles Fourier zu Beginn des Industriekapitalismus im 19. Jahrhundert ein Recht auf Arbeit reklamierte, so fordert die arbeitsrenitente Ameise jetzt ein Recht auf Musse. Musse kann die Basis zur Erfindung von neuen Beschäftigungen sein. Ohnehin, sagt die arbeitsrenitente Ameise, simulieren die meisten Ameisen heute Arbeit, also sind wir eigentlich ehrlicher, wenn wir uns dieser Beschäftigungstherapie verweigern und gleich ein Grundeinkommen fordern. Denn Vollbeschäftigung ist ein Märchen und der Ruf „Arbeitsplätze schaffen“ pure Ideologie. Im Übrigen verschlingt eine Politik der Transferzahlungen zwecks künstlicher Hochbeschäftigung in den Ameisenbauten Unsummen an Geld von den arbeitenden Ameisen. Die arbeitsrenitenten Ameisen zitieren gern den Soziologen Georg Vobruba: „Gegen ein Grundeinkommen gibt es immer das gleiche Argument: Man (kann) doch den Arbeitenden moralisch nicht zumuten, dass andere fürs Nichtstun bezahlt werden. Was man nicht sagt, ist, dass die Arbeitenden für diese Moral sehr viel mehr Geld ausgeben müssen als für einen offenen Transfer.“
Die künstliche Ameise
Nun erübrigt sich der Fleiss noch aus einem andern Grund. In den postindustriellen Ameisenbauten übernehmen immer mehr künstliche Ameisen die Arbeit. Das heisst, die natürlichen Ameisen werden nicht nur arbeitslos und hängen herum, sie sehen sich zu obsoleten Ameisen herabgewürdigt. Ihre Beziehung zu den Ameisen-Robotern ist prekär. Einerseits sind sie froh, die Fron dumpfer Maloche abzutreten, andererseits befürchten sie ein schleichendes Überhandnehmen von immer mehr ureigensten Ameisentätigkeiten, so dass sie ihre Natur zu verlieren drohen. Schon existieren vollautomatisierte künstliche Ameisenbauten. Manche meinen, dass um die Mitte des Jahrhunderts nur noch solche Bauten bestehen werden.
Die Celebrity-Ameise
Es handelt sich um den Paris-Hilton-Typus. Er ist Symptom gewisser Strömungen im Ameisenbau, welche dadurch aufgekommen sind, dass einige Ameisen einen Status erlangt haben, in dem sie ihre Untätigkeit von den andern Ameisen bewundern lassen. Da diesem Typus ohnehin schon genügend unverdiente Beachtung geschenkt wird, verlieren wir kein weiteres Wort über ihn.
Die Bartleby-Ameise
Schliesslich kommt man nicht um einen eher seltsamen Typus herum, jenen der entfremdeten Ameise. Sie tut nichts aus keinem erfindlichen Grund. Einfach so. Eine Aura des Unverständnisses umgibt sie. Sie hat ein literarisches Vorbild in Bartleby dem Schreiber, der traurig-mysteriösen Figur aus Herman Melvilles Kurzgeschichte. Bartleby, der eines Tages seine Arbeit im Anwaltsbüro mit einem höflichen, aber definitiven „Ich möchte lieber nicht ...“ niederlegt. Denkbar, dass er dadurch dem Hamsterrad des beginnenden Finanzkapitalismus im 19. Jahrhundert zu entfliehen suchte. Seine sanfte Renitenz griff aber weiter aus auf das ganze Leben, wurde zur Totalverweigerung, bis er Hungers starb. Ihm zu Ehren nennen wir den Typus Bartleby-Ameise.
Die existentialistische Ameise
Es gibt die philosophisch reflektierte Unterart der entfremdeten Ameise: die existenzialistische Ameise. Auch sie hat ein literarisches Vorbild, den Antihelden Meursault aus Albert Camus’ „Der Fremde“. Er ermordet einen Araber am Strand und hat keinen Grund. Er wird zum Tod verurteilt, weil man ihm justiziable Gründe unterschiebt. Es kann nicht sein, dass eine Tat grundlos geschieht. Die existenzialistische Ameise ist nicht mit der Taugenichts-Ameise gleichzusetzen, die einfach in den Tag hinein lebt. Sie zieht vielmehr das Fundamentalaxiom des Ameisenbaus, dass alles seine Gründe hat, in philosophischen Zweifel. Aus der existenzialistischen Ameise spricht eine abgrundtiefe Verweigerung: Wir sollten nichts tun, weil wir durch unser Tun den Ameisenbau nur verschlechtern. Das ist eine bedrohliche, faszinierende, unheimliche Sicht, fürwahr – sie zieht den Vorhang der krabbelnden Geschäftigkeit beiseite und zeigt den andern Ameisen, dass das, was sie tun, eigentlichen keinem Grund hat – ins Absurde hinein gebaut ist.
Eine kleine Moral
Tierfabeln sind, wie gesagt, immer anthropomorph. Die Moral, die wir aus ihnen ziehen, ist menschliche Moral, projiziert ins Tierreich. Wenn man aus dem Tierreich Lehren ziehen möchte, dreht man sich unweigerlich im Kreis. Ich hüte mich also, den Ameisenbau als natürlichen Rechtfertigungsgrund für menschlichen Müssiggang zu missbrauchen. Zumal jüngste Studien darauf hindeuten, dass das scheinbare Nichtstun der faulen Ameisen durchaus seine Funktion in der Kolonie hat. Wenn Arbeitsameisen ausfallen, treten nichtstuende Ameisen in die Lücke und übernehmen innerhalb kürzester Zeit deren Aufgaben. Es handelt sich also quasi um eine Art Reservearmee, die bei Störungen, Krankheiten oder Tod den Dienst übernimmt und den ganzen Betrieb aufrechterhält. Ein schlaues Arrangement der Natur, das für die Resilienz des Ganzen sorgt. Keine Spur von Renitenz. Wir haben sie in den Ameisenbau hineingedichtet.
Was mich nicht hindert, eine bescheidene Moral daraus zu ziehen. Erstens, hüte dich, der Natur (d)eine Moral unterzujubeln. Und zweitens: Stelle gelegentlich die Frage: War’s das? – Wenn man Glück hat, entdeckt man die Grille in sich.