(Das Gespräch führte Christian Buckard, Berlin)
Herr Wolfram, hätten Sie es angesichts der aktuellen Situation in Ägypten und Tunesien lieber gehabt, wenn Ihr Buch zu einem anderen Zeitpunkt erschienen wäre?
In der Tat wäre es mir lieber gewesen, mein Buch „Das Wüstenhaus“ wäre nicht mitten in die arabischen Revolutionsereignisse sprichwörtlich hereingefallen. In den letzten Wochen wurde ich häufig gefragt, ob der Roman eine Art Vorausahnung der nun aufbrechenden Gärungsprozesse sei, da ja einige Male im Buch darauf angespielt wird, dass da etwas im Untergrund brodelt. Die Antwort ist jedoch klar: nein. Ich beschreibe in dem Buch die Geschichte von zwei Deutschen, einem jungen Mädchen und einem jungen Journalisten, die sich per Zufall 2002 auf einer nordafrikanischen Insel begegnen. Ohne es zu ahnen, bestimmt diese Begegnung ihr Leben auf schicksalhafte Weise. Die Tage, die sie gemeinsam auf der Insel verbringen, sind dabei nicht nur Tage des Schreckens, sondern auch das Erleben einer überwältigenden Schönheit der Landschaft.
Die Eltern des Mädchens kommen bei dem 2002 verübten Anschlag auf die Al-Ghriba Synagoge ums Leben. 22 Menschen wurden bei diesem Anschlag ermordet, 14 davon deutsche Touristen. Und obwohl der Anschlag das Leben der beiden Protagonisten für immer verändert, ist das Verbrechen selbst nicht das eigentliche Thema des Romans….
Ja, eher das Verstricktsein der beiden Deutschen in diese Katastrophe und die oftmals so fatale deutsche Sehnsucht nach dem Süden und seinen „Zauberkräften“, die stehen eigentlich im Mittelpunkt des Romans. Es ist kein Buch über Terror in der arabischen Welt, sondern im Grunde über den deutschen Blick und seine abgründigen Seiten. Zugleich ist es paradoxerweise ein Buch, das sich mit der Schönheit der mediterranen Landschaften beschäftigt – und die Geschichte einer schwierigen Anziehung zwischen zwei vollkommen unterschiedlichen Menschen erzählt.
Kann der deutsche, der westliche Blick auf die arabische Welt, überhaupt anders als verzerrt sein? Sagt er nicht immer mehr über die Deutschen und weniger über die fremde Welt selbst aus?
Ja, da stimme ich vollkommen zu. Aber die Frage nach den Ängsten, die unser Erscheinen in dieser Welt auslöst, berührt ja eine Grundfrage der Literatur: Wer sind wir, wie verändern wir uns, sobald wir topographische und innere Grenzen überschreiten? Der Journalist im Buch ist ein erfahrener Reisender, er kennt sich in diesen Ländern aus, ist belesen, wortgewandt. Das Mädchen hingegen ist ihrem Alter entsprechend noch unsicher, zweifelnd, manchmal sogar schroff. Beide spüren jedoch während des Aufenthalts auf der Insel, dass etwas Bedrohliches in der Luft liegt, ohne dass sie die Zeichen richtig lesen können. Hier versagt plötzlich das Wissen über andere Kulturen bzw. das aufmerksame Erleben der Ereignisse. Beiden fehlt im Grunde der Zugang zu der Wirklichkeit, die im Laufe des Buches tödliche Folgen zeitigt…
Lassen Sie mich noch einmal auf die Ängste der Einheimischen zurückkommen? Welche Ängste lösen die Touristen bei denen aus? Eine Angst um Verlust der eigenen kulturellen Identität?
Vielleicht geht es hier gar nicht um die Touristen, sondern einfach um eine bestimmte Lebenshaltung. Im Buch gibt es zum Beispiel eine Szene, in der die beiden Hauptfiguren in der Mittagshitze am Strand joggen gehen. Einige Leute aus einem Dorf kommen ihnen entgegen. Aus ihren Blicken wird deutlich, dass sie diesen Strandlauf als absurd empfinden. Was soll diese Laufen in der Mittagshitze für einen Sinn machen, zumal das Mädchen sehr kurze Hosen trägt und sich in den Augen der Einheimischen sprichwörtlich zur Schau stellt?! Ein Gefühl von Staunen aber auch Verachtung taucht auf den Gesichtern dieser Dorfleute auf. Hier wird vielleicht deutlich, dass es manchmal kleine Verhaltensweisen sind, die einen großen Konflikt anrühren.
Eine Handlungsanleitung für Tunesienbesucher ist Ihr Buch nicht. Vielleicht aber ein Vorschlag zum Überdenken eigener Sichtweisen?
Zuallererst ist das Buch für mich ein Roman, der versucht, den Blick der westlichen Kultur zu reflektieren, ohne eine Bewertung der anderen Kultur vorzunehmen. Hermann Broch hat einmal gesagt, dass ein neuer Roman nur dann eine Existenzberechtigung hat, wenn er eine neue Seite menschlicher Erfahrung erforscht. Ich habe versucht, schreibend konsequent an den Menschen dran zu bleiben, die ich kenne: An ihren Wünsche, ihrer Sprache, ihrem schnellen Unterwegssein in einer Welt des unentwegten Reisens. Das Neue daran ist für mich, dass heute das Reisen und die damit verbundene Neugierde auf andere Kulturen eine vollkommen veränderte Dimension von Gefahr erhalten hat. Jedenfalls, keine moralische Wertungen vorzunehmen und zu erzählen, was ist – das war der „Laborversuch“ für mich beim Schreiben.
Auch Ihr vorheriger Roman, „Samuels Reise“, der vor sechs Jahren erschien, fragt danach, was das Überschreiten von Grenzen mit dem Reisenden macht. Da Sie selbst ein unstetes Leben führen: Sind Ihre Romane und Erzählungen über Reisende letztlich immer auch autobiographisch?
Ich gehöre jedenfalls zu den Autoren, die glauben, dass man in jedem Buch im Grunde immer wieder ein paar Grundfragen bearbeitet, die einen umtreiben und beschäftigen. Im „Wüstenhaus“ wird ja auch an einer Stelle die alte jüdische Geschichte von dem Jungen erzählt, der die ganze Zeit durch den Wald läuft bis ihn ein Mann anhält und fragt: „Warum rennst du denn die ganze Zeit durch den Wald?“ Der Junge antwortet „Ich suche Gott.“ – „Ist denn aber Gott nicht überall derselbe?“ – Darauf sagt der Junge „Ja, aber ich bin nicht überall derselbe.“ Das beschreibt recht gut, was meine Figuren - und häufig auch mich selbst - antreibt.
Gernot Wolfram: Das Wüstenhaus, Deutsche Verlagsanstalt (DVA),München 2011, Preis: 19,90 Euro