Für Aussenstehende kommt überraschend: Libyen steht vor seinen ersten Wahlen. Die Berichterstattung der vergangenen Monate sprach fast nur von Milizkämpfen und von Chaos in Libyen. Doch in den Hauptsiedlungsgebieten gibt es Stabilität dank Zusammenarbeit der Milizen mit der Übergangsregierung. Die Wahlen sollen sie festigen.
Zügig voran zur Demokratie ?
Am kommenden Samstag, dem 7. Juli, werden die Libyer zum ersten Mal seit dem Jahr 1964 an die Wahlurnen gehen. 2,7 Millionen eingeschriebene Wähler werden 200 Abgeordnete wählen. Diese sollen innerhalb von 30 Tagen einen Präsidenten und einen Regierungschef bestimmen sowie die Mitglieder einer Verfassungversammlung.
Diese soll nach 120 Tagen den Entwurf einer Verfassung dem Volk vorlegen. Der Wahlmodus ist eher komplex, die Wähler haben aus rund 3000 Kandidaten 120 für individuelle Sitze und 80 für solche, die auf Parteilisten kandidieren, auszuwählen.
Milizen als Erbe des Freiheitskrieges
Dass es überhaupt zu Wahlen kommt, überrascht viele Beobachter aus dem Ausland, weil man aus Libyen seit dem vergangenen Oktober in erster Linie von Kämpfen der verschiedenen Milizen gegeneinander erfuhr. Manche verliefen sehr blutig. Die Milizen haben in der Tat immer noch die Macht aus den Gewehrläufen inne. Der provisorischen Regierung des Landes, dem National Transitory Council NTC, ist es bisher nicht gelungen, diese Milizen zu einer nationalen Armee und staatlichen Polizeikräften zu umzuformen.
Dennoch kommt es zu Wahlen, weil offenbar viele der Milizen selbst Wahlen durchführen wollen und weil es der provisorischen Regierung gelungen ist, die Sorge für Ruhe und Ordnung an zwei Hauptbündnisse von Milizen zu deputieren, die zwar nicht bereit sind, sich aufzulösen, aber mit der Regierung "zusammenarbeiten".
Diese beiden Milizkoalitionen nennen sich "Hohes Sicherheitskommitee", das die Hauptstütze des libyschen Innenministeriums bildet, und "Nationales Schutzschild", das aus einem Zusammenschluss der Milizen von Zintan und Misrata besteht und als eine Art von Feuerwehr überall dort im Lande eingesetzt werden kann, wo es zu allzu blutigem Streit zwischen bewaffneten Gruppen kommt. Dies muss in dem riesigen Wüstengebiet der südlichen Teile Libyens praktisch immer per Flugzeug geschehen.
Hoffnung auf Stabilisierung durch Wahlen
Die Wahlen beruhen auf der Hoffnung, dass eine künftige gewählte Regierung mehr Autorität geniessen wird als der bisherige Nationale Übergangsrat. Dieser hat zwar den Befreiungskampf gegen Ghaddafi politisch geleitet. Die eigentliche Kampfarbeit aber leisteten - neben den Flugzeugen von Nato - die verschiedenen lokalen Milizen. Doch es verblieben Fragen und Ungewissheiten bezüglich der Zusammensetzung und der Mitglieder des Übergangsrates. Bis heute sind nicht all seine Mitglieder bekannt. Manche von ihnen waren Mitarbeiter von Ghaddafi. Sie sind abgesprungen, doch wer wann absprang, ist ungewiss.
Ausserdem kam der Rat ursprünglich aus Benghazi und der restlichen Cyrenaika. Als schliesslich "die Revolution" nach sieben Monaten der Kämpfe im Oktober 2011 Tripolis eroberte und Gaddafi zu Fall brachte, wurde der Übergangsrat durch Tripolitanier erweitert. Doch wie und von wem diese neuen Mitglieder bestimmt wurden und wer sie sind, blieb in manchen Fällen ebenfalls unklar. Die Wahlen sollen nun eine legitime Volksvertretung und Regierung schaffen, und die Hoffnung ist, dass es diesen leichter fallen werde, die Verhandlungen mit den Milizen zu einem fruchtbaren Ende zu führen und eine einheitliche staatliche Sicherheitsorganisation, Polizei und Armee, mit erhofftem Waffenmonopol aufzustellen.
Ein Erbe des Ghaddafi Regimes
Die Kämpfe, die gegenwärtig, weit im Süden des Landes durch gewaltige Wüstenstrecken von den Hauptsiedlungsgebieten an der Küste entfernt, fortdauern, gehen alle auf vergleichbare Grundmuster zurück. In seinen späteren Jahren spielte Ghaddafi gewisse Stämme und Gruppen gegen ihre Rivalen und Erbfeinde aus, indem er den einen der Feinde auf Kosten seines Rivalen begünstigte.
Wo es ethnische Gegensätze gab, Berber gegen Araber, Toubou gegen Araber, Touareg (auch Berber aber eine besondere Gruppe) gegen arabische oder berberische Stämme, begünstigte der Diktator meist die Arabophonen, die er als "echte Libyer" ansah. Die Gunsterweisungen konnten daraus bestehen, dass er seinen Freunden Ländereien und Ortschaften zuwies, die umstritten waren oder der Rivalen Gruppe gehört hatten.
Frühe Rebellen gegen zähe Gefolgsleute
Natürlich gehörten die von Ghaddafi diskrimierten Gruppierungen zu den ersten, die sich gegen ihn erhoben und die von ihm begünstigten oftmals zu jenen, die lange auf seiner Seite verblieben. Die siegreichen Anti-Ghaddafi-Gruppen, nun voll bewaffnet und mobilisiert, sehen es als ihr wohlerkämpftes Recht an, das alte Unrecht, das ihnen unter Ghaddafi geschah, zu kompensieren. Doch die damals sogenannt Begünstigten wollen in ihren Häusern, Siedlungen, Feldern, Weidegebieten usw. verbleiben, die sie nun schon geraume Zeit in Besitz haben. Wenn sie nicht schon aus Ghaddafis Zeiten über Waffen verfügten, bedienten sie sich aus den das Land überflutenden irregulären Waffenbeständen und leisten jetzt Widerstand.
Dies ist der Fall der Berber von Zintan und ihrer Widersacher der arabischen Mashashiya; der Toubou von Sabha und Kufra gegen die arabophonen Stämme beider Oasenstädte; der Arabophonen und Berber von Ghadames gegen die Touareg ihrer Region.
Nicht-arabische Minderheiten
Der erwähnte " Nationala Schutzschild" aus Tripolis musste mehrmals in solche Kämpfe eingreifen und sie dämpfen. Doch im Falle von Kufra klagen die Toubou die Milizen des "Schutzschildes" an, sie hielten sich auf der Seite ihrer arabophonen Widersacher "genau gleich wie zu Zeiten Ghaddafis".
Weil die Toubou in ihrer grossen Mehrheit südlich der libyschen Grenzen, in Chad, und in Niger zuhause sind, werden sie von vielen Libyern als nicht libysche "Afrikaner" angesehen. Den dunkelhäutigen Touareg geht es ähnlich.
Randgruppen von Jihad Kämpfern
Anders geartete Widerstände kommen von zahlenmässig recht kleinen Jihad Gruppen, die besonders im Jebel Akhdar, den Bergen südlich von Benghazi heimisch sind. Der "Heilige Krieg" geht dort bis auf die Zeit des italienischen Kolonialismus zurück. Er bildete eine Quelle des Widerstandes gegen Ghaddafi, und die inneren Gebiete der Cyrenaika waren auch als Rekrutierungsgrund für Jihadisten bekannt, die im Irak gegen die Amerikaner kämpften.
Diese Leute wollen keine Demokratie sondern einen Gottesstaat, den sie selbst unter Berufung auf die Scharia kommandieren möchten. Einzelne Bewaffnete aus derartigen Formationen sind in Truppentransportfahrzeugen nach Benghazi eingefahren und haben dort ein Wahlbüro zerstört, ohne dass die lokale Polizei Widerstand wagte. Es gab auch Angriffe auf das britische und das amerikanische Konsulat sowie auf den lokalen Sitz des Internationalen Roten Kreuzes. Doch die Eindringlinge fanden wenig Beifall in Benghazi und zogen wieder davon.
Eigendynamik in Misrata und Benghazi
Die Städte von Benghazi und Misrata haben bereits Lokalwahlen durchgeführt. Beide Städte, stolz auf ihren Widerstand gegen Ghaddafi und fordern entweder einen gewichtigen Platz im neuen Libyen oder Autonomie. Die Autonomiefrage wird eine der wichtigsten und der schwierigsten sein, über welche die Verfassungsversammlung entscheiden muss.
In den Lokalwahlen von Benghazi siegte die Gruppierung der Muslim Brüder, und ihre Partei ist auch einer der Favoriten in den bevorstehenden nationalen Wahlen.
Die Partei der Muslimbrüder
Die Partei hat sich den Namen "Gerechtigkeits- und Aufbaupartei" gegeben. Parteien, die sich auf eine ethnische, religiöse oder lokale Basis berufen, sind offiziell verboten. Der Vorsitzende der Muslim Brüder Partei, Muhammed Sawan, kommt aus Misrata und war ein politischer Gefangener unter Ghaddafi. Er ruft dazu auf, die Wahlresultate friedlich aufzunehmen, wie immer sie ausfallen.
Neben der Partei der Brüder kann man weitere drei Parteien islamischer Ausrichtung von Bedeutung aufzählen. Eine der drei, die Islamische Vaterländische Partei, untersteht Abdel Hakim Belhaj, dem einstigen Chef der LIFG (Libyen Islamic Fighting Groups), der eine wilde Karriere des blutigen Widerstandes und der Gefangenschaft unter Ghaddafi hinter sich hat, aber heute für friedliche Demokratie und die "Grundprinzipien des Islams ohne besondere Interpretation" eintritt. Er wirkt zur Zeit als der Vorsitzende des Militärrates von Tripolis und verhandelt als solcher mit den Milizen, die den Staat unterstützen.
Sein Rivale ist Mustafa al-Saadi, der ebenfalls aus der LIFG stammt und eine Partei anführt, die er Partei der Gemeinschaft der Mitte nennt (Hizb Umma al-Wasat, ein koranischer Begriff).
Ein weiterer Islam Politiker von Bedeutung ist Dr. Ali Sallabi mit seiner Vaterländischen Union für Freiheit, Gerechtigkeit und Wachstum. Er soll Qatar und dem dortigen Islam Prediger al-Qaradawi nahe stehen und wirbt für eine "Islamische Demokratie wie in der Türkei".
Bürgerliche Muslime
Den islamisch orientierten Gruppierungen stehen solche gegenüber, die als nicht besonders islamisch ausgerichtet gelten, deren Leiter es sich jedoch nicht nehmen lassen ebenfalls ihren persönlichen islamischen Glauben zu betonen.
Als eine der Aussichtsreichsten gilt der Zusammenschluss von 40 politischen und 250 zivilen Organisationen, der sich Allianz der Vaterländischen Kräfte nennt und unter Mahmud Jibril, steht, dem bisherigen Vorsitzenden des "Nationalen Übergangsrates". Der Jurist Jibril war Justizminister unter Ghaddafi, trat aber im Protest dagegen zurück, dass der damalige Staat sich nicht an die Urteile seiner Richter kehrte.
Er war von Beginn an, das sichtbare Oberhaupt der kollektiven Leitung des Widerstandes in Benghazi. Er war am 23. Oktober 2011 aus dem Übergangsrat zurückgetreten, um sich seiner neuen Partei zu widmen. Er will für die "territoriale Integrität, gleiche Rechte für alle Libyer, und Schritte in Richtung auf Dezentralisation und Entwicklung" wirken.
Alte Gegner des Ghaddafi Regimes
Eine rivalisierende Partei, ebenfalls angeführt von Figuren des früheren Widerstandes gegen Ghaddafi, ist die Partei der Nationalen Front. Sie ist die Nachfolgepartei der NFSL (National Front for the Salvation of Libya) die seit 1981 versuchte, gegen Ghaddafi zu wirken.Doch sie gilt als möglicherweise zu eng mit den Vereinigten Staaten verbunden, um grosse Erfolgsaussichten zu haben.
Dazu kommen noch weitere Parteien aus dem ehemigen Widerstand gegen Ghaddafi.
Die libyschen Wähler kennen die Namen der neu gegründeten Parteiformationen kaum. Sie lauten auch alle sehr ähnlich. Der Normalwähler hält sich an die Namen der Parteichefs, die ihnen einigermassen bekannt sind. Oft handelt es sich dabei um Persönlichkeiten, die eher in ihren Städten und Provinzen bekannt sind als in der gesamten ungeheuer ausgedehnten und leeren Wüstennation.
Umbewertung des Begriffes "Partei"
Man erwartet deshalb ein Parlament, das aus stark lokal orientierten Kräften bestehen dürfte. Dies sowohl auf der "islamischen" wie auch auf der "zivilen" Seite des Spektrums.
Was es in den letzten 42 Jahren seit der Machtergreifung Ghaddafis in Libyen an nationaler Politik gegeben hat, war Zwangspolitik von oben diktiert. Sie wurde anfänglich von der Bevölkerung wohlwollend aufgenommen, wurde ihr dann jedoch mehr und mehr aufgezwungen von einem krankhaft egozentrischen, unberechenbar launischen Psychopathen und seinen zunehmend grausamen und blutigen Unterdrückungsfachleuten.
Das Wort Partei war unter Ghaddafi verpönt und gefährlich. Parteien wurden mit Verschwörungen gegen den Staat gleich gesetzt. Die grosse Masse der Libyer muss heute erst lernen, was die Rolle einer solchen Partei in der zu wählenden Demokratie, eigentlich sei. Das können sie sich noch ehesten auf der lokalen Ebene und unter den ihnen bekannten Persönlichkeiten ausmalen. Darüber hinaus ist die islamische Referenz praktisch die einzige, die allen bekannt ist und überall Zustimmung findet.