Die neueste Essay-Sammlung von Eduard Kaeser hat die Corona-Pandemie zum Thema. Die Pointe liegt darin, dass er im Wirken des Virus nicht nur einen Angriff auf die Gesellschaft sieht, sondern darin zugleich die erkenntnistheoretische Herausforderung erkennt. Das Virus ist auch ein Angriff auf unser Selbstverständnis.
Im Virus lediglich einen Feind zu sehen, den es zu bekämpfen gilt, ist zu einfach gedacht. Dann wäre, wie Kaeser formuliert, «das Immunsystem die CIA des Körpers». Das Virus ist aber nicht ein fremder Eindringling, der als solcher erkannt und bekämpft werden kann. Denn Viren sind deswegen keine fremden Subjekte, weil sie als blosse «Informationsstrukturen» durch die körpereigenen Zellen zum Leben erweckt werden. Ohne diese körpereigenen Zellen gäbe es diesen «Feind» nicht beziehungsweise könnte er als solcher nicht auftreten.
Ständige Korrekturen
Eine weitere Eigentümlichkeit besteht darin, dass es das Virus gar nicht auf den Menschen abgesehen hat. Viren suchen nach anderen Viren. Der wichtigste Teil der Mikrobenwelt sind andere Mikroben. Kaeser zitiert einen Paläontologen, der zu dem Fazit kam: «Tiere mögen der Zuckerguss der Evolution sein, aber der eigentliche Kuchen sind die Bakterien.»
Einsichten dieser Art strapazieren das menschliche Vorstellungsvermögen. Zu diesen Herausforderungen gehört auch Kaesers Bemerkung, dass jeder Mensch mehr Mikroben in sich trägt, als es Sterne in der Milchstrasse gibt. Wenn diese für ihn aufgrund ihrer Mutationen zum Problem werden, dann nicht, weil sie es auf ihn abgesehen hätten, sondern weil er «zufällig in ihr Kreuzfeuer gerät». Er hat einfach «Kollateralpech».
Das ist aber keine Kleinigkeit. Denn dieser «molekulare Selbstkopierapparat» der Coronaviren ist geeignet, Gesellschaften aus dem Gleichgewicht zu bringen und zugleich ihr Vertrauen in die Zuverlässigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse zu untergraben. Denn das ist eine weitere Lehre aus der Corona-Pandemie: Weil Wissenschaft ihre Erkenntnisse ständig korrigieren muss, was eigentlich zu ihrem ganz normalen Gang gehört und gerade ihre Qualität als undogmatischer Erkenntnisprozess ausmacht, entsteht in der öffentlichen Wahrnehmung der Eindruck der mangelnden Zuverlässigkeit. Das ist Wasser auf die Mühlen derjenigen, die entsprechend einer Mode des Zeitgeistes ohnehin alles Wissen für beliebig halten und meinen, dass es so etwas wie Objektivität sowieso nicht gibt.
Tückische Probleme
Corona hat dazu beigetragen, die Basis der modernen Gesellschaften, die auf den Methoden wissenschaftlicher Forschung beruht, zu erschüttern. Sehr geistreich macht Kaeser wiederum klar, dass die Objektivität der Wissenschaft immer auch durch ausserwissenschaftliche Einflüsse, «Dreck», beeinflusst wird. «Dreck, so lautet das geflügelte Wort, ist Materie am falschen Ort. Gedankendreck wäre analogerweise ein Gedanke am falschen Ort, also einer, der nicht in die Ordnung eines Denkgefüges, einer Theorie, passt.» Das wiederum sind Störfaktoren, ohne die sich die Wissenschaft nicht weiter entwickeln würde.
Und die Gesellschaft? Kaeser schreibt vom «Zeitalter der tückischen Probleme». Dieser Ausdruck geht auf die Planungsforscher Horst Rittel und Melvin Weber zurück, die ihn 1973 eingeführt haben. Als «tückisch» werden Probleme bezeichnet, die aus immer komplexeren Wechselwirkungen zwischen Gesellschaften, Technik und Natur entstehen. Corona liefert dafür das aktuellste Beispiel. «Hier kann man die Probleme oft nicht nur nicht klar definieren, vielmehr ändern sie sich ständig und sind schwer kontrollierbar in Abhängigkeit von sozialen, politischen und ökonomischen Kontingenzen.»
Bei Eduard Kaeser staunt man immer wieder darüber, wie er unterschiedliche Wissensgebiete zusammenführt und dabei noch entlegenste Quellen erschliesst. So enthält diese Essaysammlung zahlreiche Gedankenblitze und zeigt zugleich, dass Corona mehr ist als eine Pandemie, die über kurz oder lang vergangen und vergessen sein wird.
Eduard Kaeser: Die Erde ist eine Keimträgerin. Lehren aus der Corona-Pandemie, Schwabe Reflexe, 2021, 158 Seiten, 23 Franken