Die monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam basieren auf überlieferten Büchern, die als heilige Schriften verehrt werden. Für die Strenggläubigen bedeutet heute die Heiligkeit ihrer jeweiligen Bücher, dass diesen eine absolute und nicht zu hinterfragende Autorität zukommt. Und genau dies macht die Vorstellung einer «Heiligen Schrift» für aufgeklärte, modern denkende Menschen problematisch. Umgekehrt gibt es in allen drei Schriftreligionen heute starke und zum Teil wachsende Strömungen, für die der Wortlaut der Tora, der Bibel oder des Korans jeder Argumentation entzogen ist.
Die beiden Bibelwissenschaftler Konrad Schmid und Jens Schröter – Schmid lehrt Alttestamentliche Wissenschaft und Frühjüdische Religionsgeschichte an der Universität Zürich, Schröter ist Professor für Neues Testament und neutestamentliche Apokryphen an der Humboldt-Universität zu Berlin – haben gemeinsam eine Art Biographie der jüdischen und der christlichen Bibel geschrieben. Sie untersuchen die Überlieferung, Schriftwerdung, fortlaufende Deutung und Aktualisierung sowie schliesslich die Sammlung, Abgrenzung und Kanonisierung der Texte, dann aber auch deren im Lauf der Zeiten sich wandelnde Verwendung und Bedeutung. Das vielschichtige und verzweigte Geschehen ist einer der wesentlichen Stränge der Geistesgeschichte, der die Moderne mit der griechisch-römischen Antike und weiter zurück bis in die altorientalischen Kulturen verbindet.
Historisch-kritische Bibelwissenschaft
Dank ihren sich ideal ergänzenden Forschungsfeldern sind Schmid und Schröter in der Lage, insbesondere die Phase der allmählichen Formung dessen, was wir als Judentum und Christentum kennen, differenziert und anschaulich darzulegen. Die Herausbildung der beiden biblischen Religionen war ein langer und teilweise parallellaufender Vorgang, der erst in der Spätantike zu Konsolidierungen der jeweiligen Schriftbestände, Theologien und religiösen Kulturen führte.
Die im 18. Jahrhundert beginnende historisch-kritische Bibelwissenschaft musste sich erst gegen kirchliche Widerstände durchsetzen. Zuerst anerkannt im Protestantismus, setzte sie sich etwa ein Jahrhundert danach auch in der katholischen Kirche und im Judentum allmählich durch. In der Orthodoxie gibt es bis heute kaum Interesse an kritischer Wissenschaft, und bei evangelikal-fundamentalistischen Gruppierungen stösst sie nach wie vor auf vehemente Ablehnung. Die in solchen Kreisen hochgehaltene Vorstellung eines wortwörtlich von Gott gegebenen Bibeltextes verträgt naturgemäss keine historische Untersuchung desselben.
Faszinierend an der Bibel-Biographie von Schmid und Schröter sind die vielen Einblicke in geistig-kulturelle Austauschprozesse. Weder die israelitische noch später die christliche Identität sind festgefügte und unveränderliche Grössen. Sie interagieren dauernd mit ihren kulturellen Umwelten. So greifen die biblischen Schöpfungserzählungen auf den babylonischen Mythos «Enuma elisch» zurück, der Mitte des 19. Jahrhunderts wiederentdeckt wurde. In derselben Epoche wurden Fragmente des babylonischen Gilgamesch-Epos ausgegraben; Teile von ihm finden sich in der biblischen Sintflut-Erzählung wieder. Eine weitere Korrespondenz zeigt sich bei alttestamentlichen Gesetzestexten. Sie stehen in Kontinuität zum altorientalischen Königsrecht, dessen älteste schriftliche Zeugen vom ausgehenden 3. Jahrtausend v. Chr. datieren. Das frühe Christentum wiederum entwickelte sich in Tuchfühlung mit jüdischer und hellenistischer Kultur. Es war beeinflusst von vielfältigen apokalyptischen Strömungen und gnostischen Kulten der Spätantike.
Freiheit der Forschung
Die Aufklärung und in deren Gefolge die Emanzipation wissenschaftlichen Forschens von kirchlicher Vormundschaft haben eine religionshistorisch einzigartige Konstellation möglich gemacht: Das moderne Christentum pflegt einen kritischen Umgang mit der eigenen Tradition und mit seiner Heiligen Schrift. Damit hat diese die nicht hinterfragbare Autorität eingebüsst. Eine derart absolute, über dem geschichtlichen Wandel stehende Geltung der Bibel ist allerdings historisch gesehen ohnehin eine Anomalität. Die Überblicksdarstellung von Schmid und Schröter zeigt eindrücklich, dass die biblischen Texte durch eine lange Geschichte des Bearbeitens, Redigierens, Kompilierens und Kommentierens zu uns gekommen sind. Ausserdem war jahrhundertelang ungeklärt, welche Texte als verbindlich, kanonisch, oder eben «heilig» zu gelten haben und welche nicht.
Zur «Biografie» der Bibel gehört auch ihre geschichtliche Wirkung. Das Buch der Bücher ist heute das weitest verbreitete und meistübersetzte Textkorpus. In den Kirchen des Westens rückten die Reformationen des 16. Jahrhunderts die Bibel in der Weise ins Zentrum, dass sie das Gegenüber zur kirchlichen Tradition und Lehre bildete und so die Institution und ihre Dogmen kritisierbar machte. Bibelübersetzungen spielten deshalb für die reformatorischen Umwälzungen eine Schlüsselrolle. Und da die übersetzten Bibeln auch gelesen werden sollten, wurde die allgemeine Schulbildung zum Postulat des Protestantismus.
Ziviler Umgang mit Diversität
Heute ist die Bibel ein Kulturgut, das man mehr oder weniger wichtig nimmt und meist kaum kennt. Kirchenzugehörigkeit spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Die Ausnahme bilden evangelikale und andere traditionalistische Strömungen; sie neigen oft zu einem fundamentalistischen Bibelverständnis. Dieses äussert sich aktuell beispielsweise in der Ansicht, «die Bibel» sei unvereinbar mit dem Postulat «Ehe für alle» oder generell mit Toleranz für unterschiedliche sexuelle Orientierungen.
Ein Grundwissen über die Entstehung der Bibel und die damit verbundene vielfältige Herausbildung des Christentums ist heute wichtig. Es trägt bei zu einem zivilen Umgang mit religiöser und kultureller Diversität. Zumindest Lehrende verschiedener Stufen, in Kultur und Medien Beschäftigte und selbstverständlich auch Kirchenleute sollten darüber ausreichend Bescheid wissen. Das neue Buch von Schmid und Schröter liefert dieses Wissen. Es verlangt aufmerksame, eine gewisse Anstrengung nicht scheuende Leserinnen und Leser. Aber es belohnt die Lektüre mit einem grossen religionshistorischen und kulturgeschichtlichen Panorama sowie einem guten Einblick in spannende Forschungsarbeit.
Konrad Schmid, Jens Schröter: Die Entstehung der Bibel. Von den ersten Texten zu den heiligen Schriften, C. H. Beck 2019, 504 S.