Wenn Sie dies lesen, sitzen Sie, nehme ich an, auf einem Stuhl. Stellen Sie sich deshalb für einen Augenblick die Frage: Was weiss ich eigentlich über diesen Stuhl? Woraus besteht er, wie wurde er gefertigt, wann und wo und unter welchen Bedingungen? Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass Ihre Antworten eher dürftig ausfallen (meine tun es). Ja, mehr noch: Möglicherweise wird Ihnen erst durch die Frage bewusst, dass Sie auf einem Stuhl sitzen. Dieser Gegenstand ist derart verschwunden im Alltagsgebrauch, dass es bereits einer speziellen Geistesleistung bedarf, um auf ihn aufmerksam zu werden.
Die Philosophen nennen diese Denkübung Phänomenologie. Wir stehen zwar in physischem Kontakt mit den Dingen unserer Lebenswelt: Gabel, Löffel, Messer, Geschirr, Werkzeug, Gebrauchsmöbel, Kleider. Aber wie oft schenken wir ihnen eine spezifische Aufmerksamkeit, das heisst fokussieren wir auf ihre Beschaffenheit, die Textur ihrer Oberflächen, ihren materiellen Ursprung, die Intelligenz, die sie verkörpern?
Die materielle Welt als Inbegriff von direkt, am eigenen Leib erfahrenen Dingen, Menschen oder Ereignissen kommt uns in dem Masse abhanden, in dem wir sie uns als immaterielle Information zu Gemüte führen. Viele von uns sind schon halbwegs Mutanten, verschaltet in eine Matrix aus Handys, Laptops, Monitoren und Displays.
Weg von der Material-Intelligenz
Die Welt ist fernbedienbar. Der Mensch, obwohl ein Wesen aus lebender Materie, entfernt und entfremdet sich vom Material, in dem, mit dem und von dem er lebt. Er verlernt, was man Material-Intelligenz nennen könnte: eine vitale Direktheit zum Stoff, eine Kenntnis und ein Gespür für das Woraus der Dinge.
Man beobachtet dies offenkundig genug in den modernen Arbeitswelten, die auf vielen Gebieten nicht einen Umgang mit dem Material erfordern, sondern mit der Information über das Material. Entsprechend betreibt man eine Berufsförderung unter dem Motto: Weg von der Material-Intelligenz. Junge Leute bilden heute vorzugsweise nicht ihre manuellen Fähigkeiten, sondern ihre computeradaptierten Kompetenzen aus, und sie nennen sich dann flott und forsch knowledge worker. Arbeit am Wissen – das heisst primär: an Information – gilt als high level, nicht Arbeit am Material. Zwischen der Intelligenz, die sich mit Information beschäftigt, und der Intelligenz, die sich mit Material beschäftigt, scheint sich eine Kluft aufzutun. Und das ist ein Problem.
Ein Stuhl ist ein Stuhl ist ein Stuhl
Ein Meisterwerk der Konzeptkunst aus dem Jahr 1965 vermag es zu veranschaulichen: Joseph Kosuths „One and Three Chairs“. Die Installation ist höchst simpel. Ein Klappstuhl steht vor einer weissen Wand, daran aufgehängt sind ein Foto dieses Stuhls in gleicher Grösse und eine Lexikon-Definition des Wortes Stuhl. Die Bedeutung des Titels ist offensichtlich: ein materielles Ding und drei mögliche Arten seiner Wiedergabe, erstens als das Ding selbst, zweitens als die fotografische und drittens als die lexikografische Repräsentation – sozusagen Stufen der semiotischen Entmaterialisierung.
Kosuths Installation ist ein Sinnbild unserer heutigen Lage. Mit ihm lässt sich eine kleine informationstheoretische Überlegung anstellen. Wenn wir die drei Objekte in Bitfolgen übersetzen müssten, welche würde im Computerspeicher den grössten Platz beanspruchern? Für die Wortfolge genügten ein paar Kilobytes. Die Pixelmenge des Bildes würde bei hoher Auflösung im Bereich der Megabytes liegen.
Der Stuhl selbst jedoch entspricht einer unbestimmt grossen Zahl an Bytes. Wie wollte man sie erfassen? Noch der exakteste digitale Scan tastet bloss Oberflächen ab, und auch diese nur mit einer bestimmten Wiedergabetreue. Hinzu kommt die phänomenologische Dimension des Stuhls. Er lässt sich ja aus unzähligen Perspektiven wahrnehmen. Er spricht durch seinen Stil zu uns. Er erzählt uns vielleicht eine Geschichte. Und selbst wenn es uns gelänge, ihn als Aggregat von Atomen in ein Aggregat von Bits zu übersetzen, fehlte das Entscheidende: seine Betastbarkeit, Anfühlbarkeit, wenn man etwa auf ihm sitzt – kurz, seine ganze digital unerfassliche und unübersetzbare Materialität. Ein Stuhl ist nicht eine Sammlung von Informationen. Ein Stuhl ist ein Stuhl ist ein Stuhl.
Material-Stumpfheit
Eine umwerfende Trivialität, aber von akuter Brisanz: Material-Intelligenz ist ästhetische Intelligenz. Ästhetik nicht einfach im verengten Sinn des Schönen, sondern in der alten und weiten Bedeutung des griechischen aisthesis, also der sinnlichen und unsinnlichen Wahrnehmung, zumal des Achtens und Aufmerkens, des Gereizt- und Betroffenwerdens.
Wenn man die Ästhetik der inszenierten Materialität im heutigen Konsum-Universum betrachtet, dann stellt man fest, dass diese aisthesis weitgehend fehlt. Zwar inszeniert eine einschlägige Architektur in den Städten glamouröse Materialschlachten, aber sie hat oft die Tendenz zur Überwältigung und Betäubung. Das Material sagt uns nichts, berührt uns buchstäblich nicht. Es fördert nicht Material-Intelligenz, sondern Material-Stumpfheit. In der hochgradigen Überreizung der Warenwelten werden wir zu dieser Stumpfheit konditioniert.
Das Nicht-Besondere der Dinge
Obwohl das Problem augenfällig in der Architektur zutage tritt, hüte ich mich, pauschale Kritik zu üben. Es gibt eine Menge material-intelligenter Architektur, von Herzog & De Meurons Bergstation Chäserrugg im Toggenburg bis zu den Bauten des Inders Balkrishna Dashi. Material-Stumpfheit ist ein generelleres Problem, Symptom einer endemischen Entfremdung des Menschen vom Stoff in technisierten Lebenswelten.
Kosuths Klappstuhl ist nichts Besonderes. Wir alle besitzen Objekte aus dieser Kategorie des nicht Besonderen: eine nicht besondere Kaffeetasse, ein nicht besonderes Paar Schuhe, ein nicht besonderes wackliges Büchergestell, einen nicht besonderen Stein, den man irgendwo am Strand aufgelesen hat. Diese Nicht-Besonderheit hat auch ihre biografischen und idiosynkratischen Gründe (das Büchergestell erinnert mich an meinen verstorbenen Grossvater; ich habe einen Sammel-Tic), aber man wird meist auch eine besondere Zuwendung zum Material entdecken. Wir mögen das Material. Wir respektieren es als solches. Es hat Charisma.
Kuratoren der banalen Dinge
Wir sind Material-Analphabeten, wenn wir nicht gerade Experten sind. Und zwar werden wir zu diesem Analphabetismus erzogen. Unser Gehirn entwickelte sich im Umgang mit materiellen Dingen. Man achte einmal darauf, wie Kinder spontan mit der Materie umgehen. Sie wühlen im Sand, graben im Schnee, türmen Steine aufeinander, kneten Lehm, brechen Holz, zerbröseln Kreide, knüllen Blätter zusammen, sie nehmen alles, was ihnen begegnet, in die Hände oder in den Mund – die Dinge sind ein einziger Infektionsherd der Material-Neugier. Schon früh erstickt man heute allerdings diese wunderbare Naturgabe mit einem flachen Gerät, das zu berühren ironischerweise die Berührung mit der Welt unterbindet.
Ich plädiere nicht dafür, dass wir uns jetzt zu Materialexperten heranbilden, ich plädiere für einen stillen Haltungswandel. Er würde aus blossen Nutzern Kuratoren der banalen Dinge machen, unserer Gebrauchsgegenstände, Kleider, Nahrungsmittel. Genau diese der Materie zugewandte Haltung trägt zum ökologischen Respekt bei, den wir unserem Planeten schulden, zum Bewusstsein, dass die Dinge um uns nicht nur aus synthetischen Stoffen, sondern auch aus Zellulose, Erz, Mineralien, Erdöl, Wasser bestehen.
Dazu gehört nicht zuletzt ein Bewusstsein für das nicht mehr benutzte Material: den Müll. Er spiegelt augenfällig genug die endemische Material-Stumpfheit in der postindustriellen Gesellschaft – quasi das Pendant zur anderen, nicht weniger plakativen Material-Stumpfheit, die sich im Stoff-Fetischismus luxurierender Markenprodukte aufspielt. Die ganze gepimpte Armatur an Apps und Gadgets erweist sich im Grunde als technisch erweiterte Beschränktheit.
Existenzielle Erfahrung von Materie
Nichts wird verstanden, was nicht zuerst in den Sinnen war. Zu dieser alten aristotelischen Lehre empfehle ich ein einfaches Exerzitium: Stehen Sie von Ihrem Stuhl auf, unternehmen Sie einen kleinen Spaziergang, bewusst als Erkundungstour der Dinge. Wählen Sie ein „konsumverlassenes“ Territorium. Nehmen Sie die Dinge, denen Sie begegnen, in die Hand. Fischen Sie einen Kiesel aus dem Bach, pulen Sie ein Moosstück aus einer Mauerritze, heben Sie das verdrehte Holzstück, den Petflaschendeckel, den Bügelverschluss einer Bierflasche auf und schenken Sie für einen Moment Ihre ganze Aufmerksamkeit diesem nicht besonderen Fund. Beten Sie still für sich: Das ist Materie! Das ist Materie! Das ist Materie!
Wenn Sie Glück haben, trifft es Sie wie ein Schock. Er hat die Wucht einer existenziellen Umkrempelung. Sie kommen auf die Welt, in der Sie immer schon gelebt haben. Und dann setzen Sie sich wieder auf den Stuhl und lesen den Artikel gleich noch einmal.
Zu diesem Text hat mich das Buch von Glenn Adamson inspiriert: Fewer, Better Things. The Hidden Wisdom of Objects, New York, London etc., 2018. Ich danke auch dem Basler Architekten Timmy Nissen für seine kritischen Kommentare.