Angela Merkel weiss, dass ihre Flüchtlingspolitik dem berühmten Ritt über den Bodensee gleicht. Das Eis ist gefährlich dünn geworden. International, in der Europäischen Union, sind sie und die deutsche Position praktisch isoliert. Und daheim - zwischen Rhein und Oder, zwischen Flensburg und Konstanz – wächst nicht nur die Sorge vor Überfrachtung und Überfremdung. Viel schlimmer noch, es brechen sich in der Folge der öffentlichen Auseinandersetzung in einer solchen Zahl Gesinnungen und Taten Bahn, die berechtigt daran zweifeln lassen, ob dieses Volk in seiner Gesamtheit (!) wirklich die Lehren aus der schrecklichsten Zeit seiner Geschichte gezogen und überzeugt den Weg von Demokratie, Rechtstaatlichkeit, Meinungsvielfalt und Menschlichkeit verfolgt.
Die Initiative ergriffen
Es war der zweite Talkshow-Auftritt der Bundeskanzlerin innerhalb eines halben Jahres. Und das auch noch zum gleichen Thema. Schon das ist an sich ungewöhnlich genug. Geradezu verblüffend, freilich, war die Art, in der sie sich präsentierte. Merkel, das konnte jeder spüren, wollte den zagenden, schimpfenden, besorgten Menschen im Land vermitteln, dass sie sich politisch und diplomatisch in der Offensive befinde. Ihre Botschaft: Es stimmt doch gar nicht, dass ich dem Zustrom von Flüchtlingen und Asylsuchenden tatenlos zuschaue. Ich habe vielmehr, mit der von mir geführten Koalition, die Initiative ergriffen. Lasst euch daher nicht von Ängsten jagen. Wir schaffen das, wenn wir es nur wollen!
Ob die Kunde, flächendeckend, wirklich angekommen ist (und, wichtiger, ob sie überzeugt hat), wird sich zeigen: Und zwar schon sehr bald. In knapp drei Wochen (13. März) werden in drei Bundesländern (Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt) neue Landtage gewählt. Und sämtliche Erhebungen sagen überall kräftige – teilweise sogar zweistellige - Gewinne der so genannten Alternative für Deutschland (AfD) voraus, die sich aus einem ursprünglich einmal hauptsächlich gegenüber Europa kritischen Professoren-Club zu einem Sammelbecken verängstigter Bürger entwickelt hat – aber auch den sumpfigen Nährboden und gefährlichen Tummelplatz bildet für alle Arten von Rechtsextremisten bis hin zu sich unverhohlen aufspielenden Jüngern nationalsozialistischen Gedankenguts und tiefbrauner Ideologien.
Ein vorübergehender Spuk?
Angela Merkel mag Recht haben mit der Voraussage, dass die AfD eine vorüber gehende Erscheinung ist – ein Spuk, der in dem Masse verschwindet, in dem sich die innenpolitische Lage wieder beruhigt. Das hat es vor Jahren immer wieder einmal gegeben. Im Stuttgarter Landtag war die weit rechtsaußen angesiedelte NPD in einer Wahlperiode sogar einmal zweistellig vertreten, bevor sie wieder in der Bedeutungslosigkeit verschwand. Aber nun muss man erst einmal mit der Tatsache zurechtkommen, dass eine „Partei“ massenhaft Zulauf erhält, die nicht anderes propagiert als die Beschimpfung, dass ein „Volksverräter“ sei, wer Kriegsflüchtlingen Schutz gewähre. Kein Wort der Distanzierung ist aus diesem Kreis zu den Brandstiftern gefallen, die Häuser anzünden, in denen die „Fremden“ untergebracht sind!
Die Kanzlerin steht also mächtig unter Druck. Auch unter dem aus ihrer eigenen Gefolgschaft. Und, nicht zuletzt, dem aus Bayern. Das Alpenland hat allerdings ja auch als erstes den Massenansturm von der „Balkanroute“ zu bewältigen und das bisher am besten von allen anderen Bundesländern bewältigt. Merkel musste also unter allen Umständen versuchen, dreierlei zu erreichen. Erstens: Den Bürgern die Überzeugung zu vermitteln, politisch werde alles getan, um die Krise zu bewältigen. Zweitens: Ich, Angela Merkel, bin zutiefst von meinem Kurs überzeugt und werde – jedenfalls im Prinzip – keinen Meter davon abweichen, weil er logisch ist. Drittens: Das Flüchtlingsproblem lässt sich mit nationalen Mitteln nicht lösen, sondern nur gemeinschaftlich. Nationale Grenzschliessungen führen am Ende nur dazu, dass ein Land (in diesem Fall Griechenland) zusammenbrechen wird. Und das wäre unverantwortlich.
Die kühle Logik der Physikerin
Es sind, im Wesentlichen, zwei bemerkenswerte Dinge, die bei der Kanzlerin an dem Abend sichtbar geworden sind. Da ist einmal die wohl tatsächlich feste Überzeugung der gelernten Physikerin, dass sich auch in der Politik und jenseits aller nationalen bis nationalistischen Interessen die „Logik“ durchsetzen werde. Und zwar jene, die zur grenzübergreifenden Kooperation zwinge. Ansonsten werde jeder einzelne als Verlierer dastehen und, darüber hinaus, die wichtigste und wertvollste europäische Errungenschaft der Nachkriegszeit – das vereinte Europa nämlich – zerstört sein.
Und da hat sich, zum anderen, den Zuschauern auch noch eine andere, bislang in dieser Form noch nie gekannte Angela Merkel gezeigt. Nicht mehr nur jene, die scheinbar distanziert und kühl beobachtend abwartet und sich erst sehr spät festlegt. Sondern als eine Frau, die genau wie jeder Mensch verletzlich ist. „Auch ich bin manchmal verzweifelt“, bekannte sie – um dieses Eingeständnis (von Schwäche?) allerdings sofort wieder aufzufangen mit der Aufforderung an sich selbst und ihre Mannschaft, deshalb besonders hart zu arbeiten. Was sich hier, zu bester Fernsehzeit, am Sonntagabend abgespielt hat, war der Versuch eines Befreiungsschlages in einer schier verzweifelten Situation. Ob er der Kanzlerin etwas Luft verschafft hat, wird sich vermutlich bald zeigen.
Warten auf das Scheitern?
Es wabert durch den politisch-medialen Bereich in Deutschland eine seltsame Stimmung. Wer die Kommentare in den Zeitungen aufmerksam liest, die TV- und Rundfunkbeiträge verfolgt, vor allem aber die aufgeladenen Texte in den (un)sozialen Medien noch immer nicht verschmäht, der findet dort unschwer ein beinahe schon lustvolles Warten auf das Scheitern von Angela Merkel. Das kann der Frau in der Berliner Regierungszentrale natürlich nicht verborgen geblieben sein. Nicht zuletzt deshalb wahrscheinlich die trotzige Festlegung, sie werde – komme was da wolle – ihre politische Linie nicht verlassen und auch – im Falle einer Schlappe bei den bevorstehenden Wahlen – keine „Konsequenzen ziehen“. Es sei schliesslich ihre „verdammte Pflicht und Schuldigkeit“, dem „Land zu dienen“.
Warten wir es also ab…