Über dem 9. Dezember liegt die Aura eines magischen Tages. Je näher das Datum rückt, desto mehr konzentriert sich die innenpolitische Aufmerksamkeit auf die Erneuerungswahl der Landesregierung und vor allem auf die Frage: Wer zieht als zweiter SVP-Vertreter in das Siebner-Gremium ein? Für die SVP kommt nur ein Kandidat (Kandidatinnen sind keine sichtbar) in Frage, den sie selber nominiert hat; jeden anderen Gewählten würde sie, nähme dieser die Wahl an, augenblicklich aus der Partei ausschliessen.
Missglückte Entmachtung des Parlaments
Diese rigide Ausschlussklausel in ihren Parteistatuten geht auf die Nichtwiederwahl von Christoph Blocher 2007 zurück. Sie ist der eine Versuch, der Vereinigten Bundesversammlung, dem obersten Organ unseres Landes, ihren Willen aufzuzwingen. Den andern startete die Partei mit ihrer Initiative zur Volkswahl des Bundesrates. Mit jenem Vorstoss wollte sie die Bundesversammlung entmachten, weil sich diese erlaubt hatte, ihren starken Mann in die Wüste zu schicken. Es handelte sich um eine im Affekt gestartete Racheaktion. Sie ging komplett daneben: Das Volk, auf das sich die SVP häufig beruft, reagierte unmissverständlich und lehnte die Systemänderung vor zwei Jahren mit 76,3 Prozent Nein-Stimmen ab, ebenso sämtliche Kantone. Am dankbarsten für diesen Entscheid müsste die SVP selber sein. Denn in Majorzwahlen bekundet sie regelmässig Mühe, ihre Kandidaten durchzubringen.
Jener Entscheid von 2013 kann auch als Beweis für das Vertrauen gedeutet werden, das der Souverän in die „Weisheit“ der Vereinigten Bundesversammlung hat, die geeignetsten Personen in die Regierung zu wählen. Die SVP allerdings hat dieses Vertrauen nicht. Daher schrieb sie die Ausschlussklausel in ihre Statuten.
Fast keine Schranken
Charakteristisch für die Wahl der Bundesräte ist, dass dem Wahlgremium aus National- und Ständerat auffallend wenige rechtliche Schranken gesetzt sind. Der Kreis der wählbaren Personen ist riesengross (alle Bürgerinnen und Bürger, die volljährig sind und nicht unter Beistandsschaft stehen). Wahlvorschläge können nicht nur die Fraktionen, sondern auch einzelne Parlamentarier und sogar Privatpersonen unterbreiten. Als vor einigen Jahren die Idee aufkam, in die Wahlkriterien den Geschlechterproporz aufnehmen, stellte sich das Parlament dezidiert dagegen.
Die Kommentatoren der Bundesverfassung heben allesamt den grossen Spielraum bei Bundesratswahlen hervor. Im St. Galler Kommentar etwa, dem umfassendsten Leitfaden zum Schweizer Bundesstaatsrecht, ist zu lesen (S. 2844): „Die abschliessende Wahlkompetenz ist eine der zentralen staatsleitenden Funktionen der Bundesversammlung, bei deren Ausübung ihr eine grosse politische Gestaltungsfreiheit und ein erhebliches Steuerungspotentzial zustehen.“
Mit der Wahl übernimmt das Wahlgremium allerdings auch eine riesengrosse Verantwortung. Denn sie schenkt dem Gewählten das Vertrauen fest für vier Jahre. Während dieser Dauer kann das Parlament weder ein Misstrauensvotum gegen einen Bundesrat verlangen, noch ein Impeachmentverfahren (wie in den USA) einleiten oder irgendwelche disziplinarische Massnahmen ergreifen. Gewählt ist gewählt - darin liegt die vergleichsweise grosse Unabhängigkeit der Bundesräte. Die freie, durch wenige Regeln beengte Wahl ist in gewisser Weise das Äquivalent zu dieser Unabhängigkeit.
Rücksicht zu nehmen hat das Wahlgremium allerdings darauf, „dass die Landesgegenden und Sprachregionen angemessen (im Bundesrat) vertreten sind“.
Die „Musterknaben“
Die SVP legt für die Wahl eines neuen Mitglieds aus ihren Reihen nun ein Dreierticket vor - mit je einem Kandidaten aus der Deutsch- und der Westschweiz sowie aus dem Tessin. Indem sie eine Auswahl bietet und erst noch alle drei Landesteile berücksichtigt, möchte sie vordergründig den Musterknaben spielen. Ganz so mustergültig ist die Auswahlsendung allerdings nicht. Die Romandie ist mit zwei Bundesräten (Berset, Burkhalter), die sich ebenfalls wieder der Wahl stellen, jetzt schon angemessen vertreten. Die italienische Schweiz hingegen hätte in der Tat wieder einmal den Anspruch, jemanden aus ihren Reihen in den Bundesrat zu entsenden. Nur: kann dies der auf den Schild gehobene Norman Gobbi sein? Ein Mann, der zu diesem Zweck zwei flinke Metamorphosen hinlegte, die erste vom unbedarften Sprücheklopfer zum umsichtigen Staatsmann, als den er sich nun in den Medien präsentiert, die zweite vom Lega- zum SVP-Mitglied? Diese Kandidatur kann kaum ernst gemeint sein. Eher gleicht sie einer Zumutung gegenüber der Bundesversammlung. So bleibt unter dem Strich faktisch nur der Deutschschweizer Thomas Aeschi - also ein Einervorschlag.
Aufgrund ihrer Wählerstärke hat die SVP durchaus Anspruch auf einen zweiten Sitz. Falls eine Mehrheit der Vereinigten Bundesversammlung der Meinung ist, der 36jährige Aeschi habe tatsächlich die nötige Erfahrung und das Format eines Magistraten, dann soll und wird sie ihn wählen. Hat sie jedoch Zweifel, dann muss sie einer anderen, besser geeigneten Person den Vorzug geben - auch wenn diese gegebenenfalls nicht auf dem SVP-Ticket figuriert. Keinesfalls darf sie sich der Drohung mit der Ausschlussklausel beugen. Es kann doch nicht sein, dass die Statuten eines privaten Vereins (der die SVP ist) mehr Gewicht haben sollen als die Regeln in Verfassung und Gesetz. Der bereits zitierte St. Galler Kommentar meint zu diesem Punkt: „Es widerspricht aber Sinn und Geist von Art. 161 (Instruktionsverbot) wie auch der Würde des Parlaments, im Vorfeld wie auch im Nachgang einer Wahl Druck auf einzelne Personen auszuüben, eine allfällige Wahl nicht anzunehmen.“
Keine Ultimaten
Die SVP hat in jüngster Zeit stets betont, sie sei willens, das Konkordanzsystem mitzutragen. Ultimative Forderungen, wie sie sich die Partei anmasst, passen allerdings ganz und gar nicht zu diesem System.
Beizufügen ist auch, dass die Vereinigte Bundesversammlung, sofern ihr die Fraktionsvorschläge nicht behagen, in der Regel bessere Entscheide trifft. Die SP hat von solcher „Fremdbestimmung“ mehrmals profitiert: 1959 wählte das Wahlgremium Hanspeter Tschudi statt Walther Bringolf, 1973 Willi Ritschard statt Arthur Schmid, 1983 Otto Stich statt Lilian Uchtenhagen. Dem Aufbegehren der „bevormundeten“ Linken folgte in allen Fällen ziemlich rasch stille Dankbarkeit.