Sicherheit ist das oberste Gebot im Strassenverkehr. Der «menschliche Faktor» spielt darin als Fehlerquelle eine ausschlaggebende Rolle. Alles, was den Menschen bei der Wahrnehmung seiner Verantwortung beim Fahren ablenken könnte, ist zu vermeiden. Soweit die Theorie.
Die Praxis sieht anders aus. Die Versicherungsgesellschaft Allianz hat in diesen Tagen eine Studie zum Unfallgeschehen insbesondere durch die Nutzung von Smartphones während des Autofahrens veröffentlicht. Erstmals konnte sie sich auf Daten, die das deutsche Statistische Bundesamt 2021 ausgewertet hat, beziehen. Demnach gehen 6’000 Verkehrsunfälle in Deutschland auf Ablenkung der Autofahrer zurück. Die Folge: 117 Tote und 8233 Schwerverletzte. – Erst seit 2021 wird der Faktor «Ablenkung» als Unfallursache in den Unfallstatistiken allgemein erfasst.
Diese Zahlen sind einfach nur erschreckend. Und sie offenbaren die notorische Heuchelei der Automobilindustrie, des Gesetzgebers, der Zulassungsbehörden und der Justiz. Alle sehen mit einem zwinkernden Auge zu, wie Unfälle durch verführerische ablenkende Technik gleichsam wie Naturereignisse – die sie ganz bestimmt nicht sind – hingenommen werden.
Die Allianz beschreibt, dass Smartphones ganz besonders von jungen Leuten im Alter von 18 bis 24 Jahren während ihrer Autofahrten nicht mehr nur zum Telefonieren gebraucht werden, was schon Ablenkung genug wäre, sondern auch zum Schreiben von Textnachrichten, dem Verschicken von Fotos, der Musiksuche und so weiter und so weiter. Ironisch könnte man anmerken, dass für junge Leute das Autofahren schlicht und einfach nicht mehr so wichtig ist, dass sie sich ganz darauf konzentrieren.
Sie selber aber wissen, dass sie es eigentlich sollten, aber, aber, aber: Die neueste Nachricht oder das neueste Foto ist dann doch wichtiger. Dieses habituelle Aufmerksamkeitsdefizit müsste im Falle eines Unfalls eigentlich Anlass für eine medizinisch-psychologische Untersuchung sein, wie sie bei anderen zum Beispiel alkoholbedingten Auffälligkeiten selbstverständlich ist. Wer nicht in der Lage ist, sich in der erforderlichen Weise ganz auf das Fahren zu konzentrieren, gehört nicht ans Steuer. Punkt. Aber offenbar scheuen die Politik und die Behörden diese Konsequenz, die nicht so ganz zum Lifestyle des permanenten «Online» passt. Und es sind ja nicht nur die ganz Jungen, die dieser Sucht nicht widerstehen können.
Die Allianz macht zusätzlich auf eine andere Problematik aufmerksam, die regelmässig auch von Motorjournalisten beklagt wird: Die Autos sind heute mit Elektronik überfrachtet. Gab es früher Schalter oder Hebel zur Bedienung der Scheibenwischer, zur Regelung der Innentemperatur oder zur Einstellung der Scheinwerfer, muss man sich heute auf Touchscreens durch Menüs bis auf untere Ebenen kämpfen, um banalste Einstellungen zu bewerkstelligen. Schon im Stand ist das eine Zumutung, während der Fahrt ist das schlicht und einfach nicht zu bewältigen, wenn der Fahrer nicht einen Unfall riskieren will.
Da fragt man sich schon, wieso die Zulassungsbehörden sich mit winzigsten Details der Konstruktion von Autos beschäftigen, die Strassenverkehrsämter jeden noch so kleinen Ölfleck an der Unterseite eines Autos bei der regelmässigen technischen Überprüfung zum Anlass von Nachkontrollen nehmen, die Polizei schon minimale Geschwindigkeitsüberschreitungen büsst und Alkoholkontrollen der Inbegriff des Schreckens schon nach geringstem Alkoholkonsum sind, wenn das grosse Thema der viel gravierenderen Ablenkung durch die elektronischen Verführer mit der Folge meterlanger «Blindflüge» noch immer ein juristisches Nischendasein fristet. Sicher, wenn jemand ganz evident beim Telefonieren in flagranti erwischt wird, kann es teuer werden. Aber die Überwachung liesse sich auch dank der Ortungsdaten von Handys verfeinern.
Die Industrie hätte die Möglichkeit, auch darauf weist die Allianz in ihrer Studie hin, mit Sensoren im Auto die Ablenkung von Fahrern zu registrieren und entsprechende Warnsignale auszusenden. Wir kennen das Gepiepe schon bei Einparken oder beim Spurwechsel ohne Blinksignale. Wichtiger wäre es, wenn es bei der Unaufmerksamkeit beim Autofahren in Gang gesetzt würde. Aber dann müssten sich die Hersteller mit dem Problem konfrontieren, dass ihre Bordelektronik zu einem erheblichen Teil dysfuntional ist und Ablenkung geradezu provoziert. Entsprechend müssten die Zulassungsbehörden ein Auto schlicht und einfach deswegen durchfallen lassen, weil die Ingenieure nicht in der Lage waren, die grundlegenden Funktionen auf eine Bedienungsebene zu heben, die für die Fahrer ohne jede Ablenkung zugänglich ist. Früher waren das Knöpfe und Schalter an genau den richtigen Stellen. Das war vielleicht etwas langweilig, aber sicher. Heute sollten sich die Designer in genau dieser Bescheidenheit üben, indem sie auf der obersten Menüebene geradezu idiotensichere Schaltflächen installieren. Dazu müssten sie von den Zulassungsstellen unterstützt werden, von denen jede unnötige Ablenkung im Auto als schwerer Konstruktionsfehler gewertet würde. Wie von selbst würden dann alle anderen Ablenkungen ebenfalls zum No-Go. Mit einer deutlichen Reduktion der Unfallzahlen.