Juni 2021: Landtagswahl in Sachsen-Anhalt. Das Meinungsforschungsinstitut INSA sieht die AfD zwei Tage vor der Wahl gleichauf mit der CDU. Tatsächliches Wahlresultat: Die CDU kommt auf 37,1 Prozent, die AfD auf 20,8: 16,3 Prozentpunkte daneben!
Juni 2021: Regionalwahlen in Frankreich. Demoskopen sagen dem rechtsextremen „Rassemblement National“ von Marine Le Pen einen Sieg in der Region Provence-Alpes-Côte d’Azur voraus. Tatsächliches Wahlresultat: Der Le-Pen-Kandidat kommt auf 42,7 Prozent, sein bürgerlicher Gegenspieler auf 57,3: 14,6 Prozentpunkte daneben!
Auf die Nase gefallen
Das sind nur die zwei jüngsten Beispiele einer langen Liste falscher Prognosen der Umfrageinstitue. Auf Meinungsforschungen sei kein Verlass mehr, heisst es. Wie oft seien die Demoskopen schon auf die Nase gefallen.
Es gehört heute zum Ritual, dass Politiker, Journalisten und ein Teil der Bevölkerung die Bedeutung von Umfragen kleinreden – und doch stürzen sich alle wie Geier auf jede neue Erhebung.
Sich der Schwächen bewusst
Demoskopie ist längst eine einträgliche Industrie geworden. Immer neue Institute schiessen aus dem Boden. Viele arbeiten seriös, andere mit zweifelhaften Methoden. Einige stehen im Dienst von Pressure Groups oder neigen Parteien zu, wie INSA in Deutschland (AfD-freundlich) oder Rasmussen und Trafalgar Group in den USA (Trump-freundlich). In Deutschland erwirtschaftet die Meinungsforschung jährlich 2,5 Milliarden Euro.
Längst sind sich die Demoskopen der Schwächen und Anfälligkeiten ihrer Umfragen bewusst.
Entscheid im allerletzten Moment
Die Wählerinnen und Wähler sind launisch geworden. Immer weniger Menschen sind parteigebunden. Früher wählten viele ein Leben lang die gleiche Partei; das ist vorbei. Die Zahl der Wechselwähler ist hoch. Ein bedeutender Teil der Wählerschaft, die „Last-minute-Wähler/innen“, entscheidet im letzten Moment. Da können Ereignisse am Vortag der Wahl grossen Einfluss haben. All das macht den Demoskopen das Leben schwer.
Dazu kommt: Der Telefonterror der Call Centers führt dazu, dass immer weniger Leute bereit sind, Auskunft zu geben. Bevor die Befrager überhaupt sagen, um was es bei der Befragung geht, hängen die meisten schon auf. Statistiken zeigen, dass im Durchschnitt bei zehn Anrufen nur zwei Personen bereit sind, an der Befragung mitzumachen.
Handy statt Festnetz
Und wer macht mit? Michael Kunert, Geschäftsführer des Umfrage-Instituts Infratest Dimap, sagte schon 2017, dass vor allem die besser Gebildeten Auskunft geben. Also: Die Dummen und jene, die wenig in der Gesellschaft integriert sind und das «Establishment» und die Medien hassen, verweigern die Aussage häufig, gehen dann aber doch ab und zu an die Urnen. Auch das verzerrt das Bild. Deshalb ist die AfD über Jahre hinweg von den Instituten unterschätzt worden – und im Gegenzug: Deshalb wurde die SPD mit ihren (auskunftsbereiten) Bildungsbürgern lange Zeit überschätzt.
Zudem wird es immer schwieriger, alle Bevölkerungsgruppen zu befragen. Viele, vor allem Junge sind nur noch per Handy zu erreichen. Bei Instituten, die vor allem übers Festnetz die Wähler befragen, besteht die Gefahr, dass die Meinung der Älteren überrepräsentiert ist.
Manupulationsanfällige Internet-Befragungen
Einige Institute sind nun übergegangen, auch Handy-User zu befragen. Das hat den Nachteil, dass die Institute nicht mehr wissen, wo die Angerufenen wohnen. Das kann zu Verzerrungen führen.
Andere Institute befragen die Wählerinnen und Wähler mehr und mehr via Internet. Das ist zwar billig, birgt aber viele Gefahren in sich. Internet-Befragungen sind manipulationsanfällig und vernachlässigen vor allem die ältere Bevölkerung – jene Menschen, die erwiesenermassen öfter wählen und abstimmen als andere.
Voll daneben
Trotzdem sind viele Institute jetzt auf einen „mixed mode“ umgestiegen: Sie befragen sowohl über Telefon als auch via Internet. Emnid, Forsa, die Forschungsgruppe Wahlen und GMS rufen vor allem Festnetznummern an. Infratest Dimap befragt zu 70 Prozent via Festnetznummern und zu 30 Prozent über Handy-Nummern. Das Institut für Demoskopie, Allensbach, spricht bei den Wählern persönlich vor; INSA, YouGov und Civey führen ihre Befragungen fast ausschliesslich online durch.
Die „Sonntagszeitung“ lag im Dezember 2017 mit einer Online-Befragung voll daneben. Sie prophezeite, dass 57 Prozent der Bevölkerung für die Abschaffung der Radio- und Fernsehgebühren stimmen werden (No-Billag). In Wirklichkeit stimmten dann 71,6 Prozent gegen die Abschaffung.
Links blinken, rechts abbiegen
Immer mehr gibt es auch Befragte, die die Meinungsforscher belügen. Sei es, weil sie sich einen Spass daraus machen, sei es, weil sie sich nicht getrauen, der netten Dame vom Forschungsinstitut am Telefon zu sagen, dass sie für eine rechtspopulistische Partei mit Nazi-Einschlag stimmen werden. Wie heisst es so schön: Sie blinken links und biegen rechts ab.
Natürlich kommt es dann vor allem darauf an, wie stark eine Partei ihre Anhänger mobilisieren kann. Dass Marine Le Pen im Juni in Südfrankreich eine Schlappe erlitt, liegt vor allem daran, dass ihre Wählerinnen und Wähler zu Hause blieben. Das heisst nicht, dass diese dann auch zu Hause bleiben, wenn es um wichtigere Wahlen geht – zum Beispiel um die Präsidentschaftswahl im kommenden Frühjahr.
Fehlerquote bis +/-3 Prozent
Die Meinungsforscher werden nicht müde zu betonen, dass ihre Umfragen keine Prognose, sondern ein Stimmungsbild zu einem bestimmten Zeitpunkt ist. Das versteht man in der Bevölkerung schlecht: Die meisten, auch die Medien, bewerten die Ergebnisse der Umfragen als Prognose.
Immer auch erklären die Forscher, allerdings oft im Kleinstgedruckten, dass die Fehlerquoten der Umfragen bei bis zu minus/plus 3 Prozent liege. Auch das wird kaum zur Kenntnis genommen. Doch das wäre wichtig. Die SPD liegt jetzt laut letzten Umfragen bei 26 Prozent, die CDU bei 22 Prozent. Zieht man die Fehlerquote in Betracht, könnte die SPD also durchaus nur 23 Prozent erreichen, die CDU aber 25 Prozent.
Umfragen sind besser als ihr Ruf
Trotz aller Kritik und aller Unsicherheiten: Meinungsumfragen sollten nicht unterschätzt werden. Sie sind besser als ihr Ruf.
Weshalb werden immer nur die gleichen Fehlprognosen genannt: die Minarett-Abstimmung in der Schweiz, das Brexit-Votum und der Sieg Trumps gegen Clinton? Wieso spricht man nicht von der überwiegenden Zahl der richtigen Treffer?
Treffsicheres gfs
Die meisten Forscher betonen, dass trotz spektakulärer Bauchlandungen die allermeisten Befragungen mehr oder weniger richtig waren. Abweichungen von 2 bis 4 Prozent könne es allerdings immer geben. Eigentlich kein schlechtes Ergebnis.
Auch das gfs-Forschungsinstitut Bern, das für die SRG arbeitet, kann sich zu recht mit einer sehr hohen Trefferquote brüsten. Natürlich gibt es ab und zu Fehlprognosen. Das liegt in der Natur der Sache.
Erfolg macht attraktiv
Meinungsumfragen sind eine Keule. Mit ihr kann man den Gegner totschlagen. Meinungsforscher wollen Meinungen abbilden, doch sie formen selbst Meinungen. Ihre Befragungen haben Auswirkungen, machen Politik.
Erfolg macht attraktiv. Eine Partei, die in Umfragen vorne liegt, erhält Schub, zieht wie ein Magnet neue Anhänger an, die beim Erfolg dabei sein wollen. Und umgekehrt: Wer als Verlierer ausgewiesen wird, verliert oft noch mehr. Umfragen können einen Verstärkungseffekt haben, nach oben und nach unten.
„Umfragekratie“?
Natürlich kritisieren vor allem jene die Umfragen am lautstärksten, die zurückliegen. Wie jetzt die CDU und ihr lahmendes Zugpferd.
Doch auch wenn die Umfrage-Industrie kritisiert wird, auch wenn man von „Umfragekratie statt Demokratie“ spricht: die Institute haben Hochbetrieb. Es ist bekannt, dass die CDU täglich Umfragen durchführt, die SPD offenbar weniger. Olaf Scholz tut so, als würden sie ihn weniger interessieren. Auch das gehört zum Spiel.
Alles offen
Was bedeutet das jetzt alles für die Bundestagswahl? Eigentlich nur das: Alles ist noch offen. Wer heute eine harte Prognose stellt, ist unseriös.
Aber: Aufgrund aller Meinungsfragen der letzten Wochen, ob sie nun vor der Haustür, per Telefon oder via Internet durchgeführt wurden, kann man sagen: Armin Laschet geht mit einem Klotz am Bein in diese Wahlen. Vor allem deshalb, weil diese Umfragen eben nicht nur Momentaufnahmen sind, sondern einen längerfristigen Trend aufzeigen. Dieser verspricht Laschet wenig Gutes. Auch das Triell am letzten Sonntag hat keinen Stimmungsumschwung gebracht, wie ihn Markus Söder prophezeite.
Der onkelhafte Armin
Trotzdem kann Laschet am übernächsten Sonntag noch immer gewinnen. Manches ist ungewiss. Viele sagen sich vielleicht im letzten Moment: Lieber den onkelhaften Armin als ein Experiment, das den Laden in Aufruhr bringt.
Doch: Weil die allermeisten Umfragen ein richtiges Bild abgeben, wie die Forscher sagen, ist man heute geneigt (betont: sei „geneigt“) zu sagen: Laschet und die CDU werden verlieren. Oder umgekehrt: Es wäre ein grosse Überraschung, wenn Laschet gewänne.
Die Welt ist voll von grossen Überraschungen.