Journal21: Seit 120 Jahren ist die Schweiz ein Einwanderungsland, seit ungefähr sechzig Jahren ist diese Einwanderung – nicht zum ersten Mal – zu einem innenpolitischen Problem geworden. Wie gut ist die schweizerische Politik in diesen letzten sechzig Jahren mit dem Thema Einwanderung umgegangen?
Gianni D’Amato: Das Thema hat schon vor dem 1. Weltkrieg die innenpolitische Landschaft mobilisiert, und die erste Abstimmung zum Thema gab es in den 20er Jahren. Was die letzten Jahrzehnte angeht, kommt es darauf an, aus welchem Blickwinkel man die Einwanderung anschaut. Aus der Sicht der schweizerischen Wirtschaft war diese Einwanderung sicher ein Erfolg. Nach dem Krieg haben Einwanderer geholfen, unsere Infrastruktur auszubauen, und sie haben mitgeholfen, die Absatzmärkte im Ausland mit Produkten aus der Schweiz zu bedienen.
Dann gab es vor allem in den 90er Jahren eine Debatte, ob dies eine gute Entwicklung sei und ob die Schweiz nicht eine Globalstrategie brauche. Diese Debatte stand unter dem Stern der Einwanderung von Asylsuchenden, die aber ohnehin nicht kontrolliert werden kann. Daraus folgte dann ein Wechsel auf eine Einwanderung gut ausgebildeter Leute, und das hat seit 2002 eigentlich auch gut geklappt. Insgesamt hat die Schweiz von der alten wie von der neuen Einwanderung eigentlich profitiert.
Journal21: Die schweizerische Einwanderungspolitik ist demnach für die Schweiz ein Erfolg. Aber es gibt die andere Seite. Sie sind ein Secondo und sind Professor geworden. Das nennt man wohl einen Erfolg. Aber auf die Gesamtheit der Einwanderer gesehen: Beurteilen Sie die Einwanderung für alle diese Leute auch so positiv?
Die 50er Jahre waren sicher hart. Die Frage ist aber: Was wird aus den Menschen, wenn sie nicht auswandern? Für viele war es trotz der Mühen eine gute Sache. Viele haben hier die Ersparnisse erzielen können, die sie wollten. Die Kinder konnten eine Ausbildung machen. Diese war vielleicht nicht so gut wie für die Schweizer, aber sicherte Perspektiven, die besser waren als in den Regionen, aus denen sie gekommen sind. Und vor allem haben viele im Beruf ihren Aufstieg erlebt.
Für etliche dieser Kinder war es schwieriger. In der Schule sind sicher für viele Kinder Möglichkeiten vergeben worden. Wenn man die Statistiken anschaut, dann zeigt sich, dass für die Kinder der zuletzt gekommenen Einwanderer sich die Probleme heute wieder genau gleich stellen.
Journal21: Es gibt ja den bekannten Satz über die Schweizer Einwanderungspolitik: Wir haben Arbeitskräfte gerufen, und es sind Menschen gekommen. Das deutet darauf hin, dass der politische Umgang mit den Einwanderern vor allem aus Versäumnissen, Unterlassungen und Vermeidungen besteht. Ist das ein Eindruck, den Sie teilen?
Ja. Nach der Ölkrise in den 70er Jahren war klar, dass diejenigen, die damals nicht gegangen sind, bleiben würden. Und da hätte man sicher etwas tun können, was heute als Integration bezeichnet wird. Das war ja auch vorgesehen in der Revision des Ausländergesetzes, welche allerdings 1982 Schiffbruch erlitten hat.
Aber die politische Schweiz stand eigentlich seit den 60er Jahren unter einem doppelten Druck. Einerseits musste man dem Druck der Wirtschaft nachgeben, die nach Arbeitskräften verlangte. Anderseits galt es den Druck von ein paar eigentlich kleinen Randparteien zu bedienen, die aber in Fragen der Bevölkerungspolitik - mit ihren Überfremdungsparolen - einen erstaunlichen Zuspruch erhielten. Darum war es eigentlich nicht möglich, von Integration reden. So gingen die 70er Jahre verloren, und die 80er Jahre standen stets unter dem Stern der Asylpolitik. So sind schon zwei Jahrzehnte versäumt worden, in denen man etwas für die Besserstellung der Menschen hätte tun können, die hierhergekommen sind.
Journal21: Es gibt ja auch die Schweizerinnen und Schweizer, die schon da waren. Hat denn die Politik auch deren nachvollziehbare Anliegen vernachlässigt? Zuerst die Probleme mit dem vielen, die aus dem Süden gekommen sind, und jetzt die mit den hochqualifizierten aus dem Norden?
Eigentlich nicht. Nicht nur die kleinen Überfremdungsparteien, sondern auch die grossen Parteien haben ja gebremst und so verhindert, dass Integrationsmassnahmen zugunsten der Einwanderer durchgeführt wurden, und das wegen der Ängste in der Schweizer Bevölkerung. Es war ganz einfach nicht möglich, von Integration zu sprechen.
Die blosse Anwesenheit dieser Einwanderer war im übrigen nicht das Problem, sondern die Tatsache, dass deutlich wurde, dass diese Leute bleiben würden. Das war dann die Überfremdung. Die damit verbundenen Ängste wollten die Parteien bedienen, aus diesem Grund gab es keine Integrationspolitik.
Die Wende bahnte sich Ende der 90er Jahre an und kam mit dem neuen Ausländergesetz von 2008 zum Durchbruch. Damit hat die Schweiz tatsächlich anerkannt, dass es diese Einwanderung gibt und gegeben hat und dass man für die damit verbundenen Probleme auch Lösungen anbieten muss. Das ist die grosse Wende in der Ausländerpolitik.
Journal21: Es fehlte also nicht am Geld oder an Ideen für die Integration, sondern die Politik hat dem Druck von rechts nachgegeben?
Dem Druck von rechts und von links! Man darf die Gewerkschaften nicht vergessen, die bereits in den 50er und 60er Jahren gegen die „Überfremdung“ argumentierten. Da fühlte man sich auch bedroht. Es gibt ja den bekannten Vorfall, als James Schwarzenbach anlässlich der Abstimmungskampagne zu seiner Initiative zu Gewerkschaftsmitgliedern sagte: Ich vertrete eure Interessen besser als eure Obern. Und so war es wahrscheinlich auch, dass er die Stimmung in der Arbeiterschaft auffing und anheizte, was auch seinen Achtungserfolg ausmachte.
Journal21: Es gibt im Moment in der Schweizer Bevölkerung ungefähr 22 Prozent ohne Schweizer Pass und dann noch eine bedeutende Zahl von Ausländern, die einen Schweizer Pass erworben haben. Ist diese grosse Zahl ein reales Problem oder nur politisch hochgefahren?
Es wird zu einem Problem für unser republikanisches Selbstverständnis. Ungefähr 30 Prozent der Bevölkerung in der Schweiz haben einen Migrationshintergrund, sind also selbst eingewandert oder Nachkommen von Einwanderer. Aber nur ungefähr ein Drittel unter ihnen hat den Schweizerpass und damit die Möglichkeit der politischen Mitbestimmung. Die anderen – darunter zum Beispiel auch viele langansässige Ausländer - sind davon ausgeschlossen. Das ist fast wie früher bei den Hintersässen, die auch nicht in gesellschaftliche und politische Prozesse einbezogen waren. Es ist klar: Die Demokratie gewinnt nicht, wenn ein so beträchtlicher Teil der Leute staatspolitisch nicht berücksichtigt wird.
Journal21: Mit anderen Worten: Das politische System hat versagt, indem es nicht mehr Einwanderer zu Schweizerinnen und Schweizer gemacht hat?
Das politische System, Parlament und Bundesrat wollten das ja eigentlich. Seit den 80er Jahren waren beide für eine erleichterte Einbürgerung, um über die Einbürgerung die Integrationsfrage zu lösen. Aber das wurde immer wieder im politischen Prozess blockiert, zuerst von den kleinen Überfremdungsparteien, später von der SVP.
Journal21: Wenn ich Sie richtig verstehe, war aber die Linke da auch dabei, zumindest mit der Verdrängung des Themas.
Wenn ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung gegen Einwanderer eingestellt ist, dann braucht es sehr viel Kraft, sich in einem politisch-pädagogischen Sinn ins Zeug zu legen und zu behaupten, Rechte für Einwanderer seien gut. Hier hat auch die Linke versagt, denn auch sie leidet unter einer Spaltung ihrer Wählerschaft, wenn es um Migrationsfragen geht. Die Univox-Analysen belegen, dass die Linke weniger kompakt ist als bei anderen Fragen.
Journal21: Wenn man in die 60er Jahre zurückschaut, dann sind zuerst die Italiener gekommen. Heute sind sie bei den Banken, haben eigene Geschäfte, sitzen in Parlamenten oder sind wie Sie Professor geworden. Da hat die Integration offenbar funktioniert, ohne dass der Staat allzu viel gemacht hätte. Probleme, soweit vorhanden, haben sich gewissermassen ausgewachsen. Ist denn das ein Modell auch für die Einwanderer, die heute kommen?
Wenn ich nur schon meinen eigenen Werdegang anschaue, dann gibt das von Ihnen hier entworfene Bild einer Tellerwäscherkarriere, die auf Stärken des Einzelnen setzt, nicht die ganze Wirklichkeit wieder. Erfolg prämiert den Einzelnen, setzt aber auch einen Kontext voraus. Es gab auf der Seite der Immigranten verschiedene Vereinigungen, die über die Lage in der Schweiz informierten und, wenn auch unter schwierigen Umständen, Möglichkeiten der Selbstorganisation zur Verfügung stellten – seien das nun die Colonie libere oder mehr die katholischen Organisationen. Auf jeden Fall wusste man bei den Immigranten, wo man Unterstützung oder Rat bekommen konnte. Das, was die Italiener für sich selber organisiert haben, das wurde dann in den 90er Jahren mehr oder weniger vom Staat übernommen.
Journal21: Aber die Einwanderer mussten sich diese Einrichtungen selber schaffen.
Es ist richtig, dass das dem schweizerischen Staat bis in die 90er Jahren, mit Ausnahme des Bildungswesens, mehr oder weniger egal war, wie Integration funktionierte. Die Leute sollten ja nach getaner Arbeit wieder verschwinden. Die Italiener haben ihre Institutionen aufgebaut, und sie haben als Nebeneffekt auch die Aufgabe der Integration erfüllt. Dies sollte in Betracht gezogen werden, wenn gedankenlos von „Parallelgesellschaften“ gesprochen wird und man diese deutschen Diskurse auf die Schweiz anwendet.
Journal21: Heute kommen die Leute von weiter her, nicht aus einem Nachbarland. Es sind aus den einzelnen Ländern weniger Menschen. Da besteht die Vermutung, dass diese neueren Einwanderer diese Selbsthilfe nicht mehr so einfach organisieren können.
Das funktioniert schon, zum Beispiel bei den Türken. Bei den Afrikanern weiss ich es nicht so genau, ich gehe aber davon aus, dass auch sie zumindest informelle Netzwerke haben, wo man sich gegenseitig unterstützt. Die Kirchen sind auch aktiv. Der entscheidende Wechsel ist aber, dass seit den 90er Jahren die Behörden auf der Ebene der Kantone und Gemeinden, vom Bund unterstützt, Strukturen mit Leuten aufgebaut haben, die wissen, wie es läuft und die diese neuen Einwanderer tatsächlich auch unterstützen können.
Die Frage bleibt natürlich im Raum, inwieweit auch Verantwortung entzogen wird, wenn der Staat das übernimmt, was die Immigranten früher selber geleistet haben.
Journal21: Gibt es denn einen Anteil an Einwanderern, wo Sie – aus wissenschaftlicher Sicht – sagen müssen: es sind zu viele, das Land, die Leute hier können das nicht verkraften.
Die Schweiz hätte ja längst solche „Grenzen“, sollte es sie geben, überschritten, wenn man von Luxemburg einmal absieht.
Wenn man die Frage einer „Grenze der Toleranz“, wie es die politische Rechte bezeichnet, aus dieser nationalstaatlichen Perspektive anschaut, scheint der Fall eigentlich klar. Die Schweiz hat ein Territorium und eine Bevölkerung, für die sie sorgen muss. Wenn andere kommen und Leistungen abziehen, muss das in irgendeinem Gleichgewicht mit dem stehen, was diese anderen bringen. Und wenn das ungleich wird, dann muss der Staat intervenieren. Das ist die Sichtweise derjenigen, die auf die Souveränität achten.
Aber man kann auch sagen: Die Gesellschaft nationalstaatlich einzugrenzen ist eine Verkennung der Tatsache, wie Gesellschaften heute funktionieren. Nämlich als soziale Systeme, die tendenziell grenzüberschreitend sind, wenn sie die Wirtschaft oder das Bildungswesen betrachten. Diese Systeme möchten die Bedingungen, unter denen sie am besten funktionieren, erhalten. Unter solchen Voraussetzungen ist nicht Nationalität ausschlaggebend, sondern Kompetenz. Aus diesem Grund holt man sich die Leute, die man braucht, um die Systeme am Laufen zu halten. Und wenn man das so anschaut – ich würde das als „moderne systemische Sichtweise“ bezeichnen – dann kann es keine Bevorzugung der Einheimischen geben, nur weil sie Einheimische sind.
Es gibt einfach diese beiden Betrachtungsweisen, die in Konflikt stehen. Die wohlfahrtsstaatliche, wonach der Staat die Einheimischen, worunter auch die niedergelassenen Ausländer mit gemeint sind, schützen soll. Wenn es heisst: Wegen der Ausländer sind unsere Wohnungen so teuer, wird vom Staat Protektion verlangt. Auf der anderen Seite gibt es die Betrachtungsweise der Systeme, die nur auf die Kompetenzen möglicher Akteure schaut. Aber da stellt sich dann die Frage, wieso es der schweizerische Sozialstaat nicht schafft, diese Kompetenzen bei den eigenen Leuten herzustellen, also genügend ausgebildete Leute hervorzubringen. Das hat offensichtlich mit unserem Bildungssystem zu tun, das noch auf handwerkliches Gewerbe ausgerichtet ist. Nur schon aus diesem Grund könnten die beiden ETH, die zur Avantgarde der technisch-naturwissenschaftlichen Forschung gehören, ohne Ausländer gar nicht funktionieren.
Wenn ein Staat, dessen Industrie und Dienstleistungen so fortgeschritten technisiert sind wie in der Schweiz, diese Systeme aber mit nicht den nötigen qualifizierten Arbeitskräfte versorgen kann, dann geht es gar nicht anders, als dass qualifizierte Leute aus dem Ausland zu uns kommen. Bei den beiden ETH ist es auf Doktorandenstufe über 50 Prozent.
Journal21: Mit anderen Worten: Die Globalisierung mit ihren Anforderungen an unser Land ist da, aber wir haben Mühe, mit den Folgen fertig zu werden, die diese Globalisierung auch bei uns nach sich zieht.
Nicht alle haben Mühe. Die Schweizer Bevölkerung ist ja in Bezug auf die Globalisierung gespalten. Aber jede Entscheidung, die wir treffen, hat ihre Effekte. Und wenn wir uns abschliessen, dann verabschieden wir uns von diesem globalisierten Wirtschaftssystem, was dann wiederum Folgen im Inneren nach sich zieht.
Journal21: Ist denn das Thema der Ausländer einmal mehr auch in diesem Herbst ein Thema, das die eidgenössischen Wahlen Entscheiden wird?
Alle Parteien werden sich auf dieses Thema werfen, weil die Ausländerfrage auch eine Frage der nationalen Wohlfahrt ist, die entsprechend mobilisiert. Alle Parteien müssen zeigen, dass sie in der Lage sind, die nationalen Interessen der Bürger zu wahren oder die Zukunft zu sichern. Und da wird dann das ganze Bouquet serviert mit Missbräuchen, zu vielen Falschen, zu wenig der Guten, Asyl usw. Wir werden wie bei den letzten Wahlen das gleiche Menü serviert kriegen.
Journal21: Das sind jetzt im Wesentlichen die Argumente, die von rechtsnationalen Kreisen vorgebracht werden. Was hat den die Mitte, was hat die Linke anzubieten?
Sie werden wohl ebenfalls zeigen wollen wie „tough“ sie sind und dass sie in der Vergangenheit ebenfalls harte Massnahmen ergriffen haben, um Missbräuche zu verhindern. Sie werden mehr Hochqualifizierte zulassen wollen, den Familiennachzug der Niedrigqualifizierten in Frage stellen und bei der Frage der Integration schärfere Massnahmen verlangen.
Journal21: Das ist eigentlich nur eine me-too-Strategie. Wenn sie das verlangen, verlangen das gleich wie die Rechte.
Ja sicher. Die Linke und die Mitte haben seit den 70er Jahren versucht, Änderungen in Bezug auf die Einwanderung und die Einbürgerung einzuleiten. Aber sie haben es immer nur halbherzig gemacht. Und sie sind auch nie so überzeugend aufgetreten, dass sie keine Angst vor einem Scheitern hätten haben müssen. Mit Argumenten für Migranten, so meinen sie gelernt zu haben, lassen sich keine Wahlen gewinnen. Und deshalb, das ist meine Vermutung, werden sie sich der Rechten anpassen.
Journal21: Was müsste das neugewählte Parlament dringend an die Hand nehmen?
Die grossen politischen Entscheidungen sind eigentlich schon gefällt, beispielsweise der Entscheid für mehr Integration oder die Sicherung der Personenfreizügigkeit. Jetzt geht es mehr um Abstimmungen mit den Kantonen. Auch in der Asylpolitik kann man noch weiterhin ein bisschen schrauben, aber eigentlich ist die Richtung klar.
Ein wichtiges Feld der Reform wird die Einbürgerung sein. Bei der geplanten Revision im Bürgerrecht geht es ja darum, die Frist für Bewerberinnen und Bewerber von zwölf auf acht Jahre zu verkürzen und die Integration als Kriterium für die Integration stärker zu gewichten. Aber es ist wahrscheinlich, dass die Rechte wieder mit dem Slogan gegen diese Reform mobilisiert, dass falsche Hände nach unseren Pässen greifen. Einen Erfolg dieser Revision würde ich begrüssen, auch wenn ich aus den oben erwähnten Gründen skeptisch bleibe.