Die Revolutionsgruppen von Ägypten hatten auf den Jahrestag der Absetzung Mubaraks, den 11. Februar, versucht, die Revolution wiederanzufeuern und womöglich ihre Gangart zu steigern. Sie hatten zu einem Generalstreik aufgerufen, der, wenn erfolgreich, in eine Kampagne zivilen Ungehorsams übergehen sollte. Diese sollte andauern, bis die Offiziere ihre Macht an eine zivile Führung abträten.
Offiziere und Muslimbrüder setzen sich durch
Die Offiziere der Militärführung hatten energisch gegen diese Pläne aufbegehrt und behauptet, "ausländische Hände" seien dabei im Spiel, die Ägypten ruinieren wollten. Doch auch die Muslimbrüder und die Salafisten, die zusammen fast 70 Prozent der Abgeordneten des neuen Parlaments stellen, sprachen sich gegen die Revolutionspläne aus. Sie drohten, die Wirtschaft des Landes, um die es ohnehin schlecht bestellt sei, weiter zugrunde zu richten.
Passivität der Gewerkschaften
Der Generalstreik war nicht erfolgreich. Eigentlich nur die Universitäten waren von ihm betroffen. Die Gewerkschaftsführer zeigten sich kritisch gegenüber den Aufrufen, die nicht von den Gewerkschaften ausgingen, sondern von aussen an sie herangetragen wurden. Sie wissen am besten, dass die grossen Massen von Arbeitern einen schweren und für sie selbst folgenreichen Entschluss fassen, wenn sie streiken. "Wenn ein solcher Beschluss gefasst werden soll, muss er von den Arbeitern ausgehen", betonten sie.
Ermüdung der Bürger
Bei der grossen Masse der Ägypter fand der Aufruf nicht viel Sympathie. Viele sind der Agitation müde, die seit dem Sturz Mubaraks andauert, jedoch seither wenig sichtbare Resultate zu erreichen vermochte. Sie sind gewillt, dem frisch gewählten Parlament eine Chance zu geben, das Land weiter zu bringen. Andere, die in erster Linie "Ruhe und Ordnung" anstreben, setzen wohl immer noch auf die Militärherrscher, deren Prestige während der letzten 60 Jahre in Ägypten sorgfältig gepflegt wurde und die noch immer über die am meisten verbreiteten Medien verfügen, um dieses Prestige aufrechtzuerhalten.
Die "Hände des Auslandes"
Sie führen ihre eigene Propagandakampange, indem sie nun Prozesse gegen die ausländischen NGOs anstrengen. Diese werden beschuldigt, im Dienste des Auslands und mit ausländischen Geldern den "Ruin Ägyptens" zu betreiben, indem sie die Ägypter gegeneinander aufhetzten. Prozesse gegen 19 von ihnen haben nun begonnen. Der formale Vorwurf, der gegen sie erhoben wird, lautet, sie hätten das ägyptische Gesetz gebrochen, nach dem sie eine Lizenz von den zuständigen Behörden hätten erlangen müssen. Doch besteht wenig Zweifel, dass viele andere Rechnungen zwischen ihnen und den Generälen offen sind. Jene, die sich mit Menschenrechten und Demokratieaufbau befassen, haben des öfteren die Handlungsweise der Militärs blossgestellt und Gewaltakte und Rechtsbrüche getadelt, in manchen Fällen sogar mit gerichtlichen Klagen gegen die Sicherheitskräfte und deren leitende Behörden.
Keine Rücksicht auf Washington
Die amerikanische Regierung versuchte mit allen Mitteln, die Generäle von ihrem Feldzug gegen die NGOs abzubringen. Er gefährdet die amerikanischen Hilfszahlungen an Ägypten, deren grösster Teil an die Armee gehen. Der amerikanische Kongress muss sie demnächst neu bewilligen.
Eine ägyptische Militärdelegation, die mit sechs Senatoren hätte sprechen sollen, hielt ihre Verabredung nicht ein und kehrte stattdessen nach Kairo zurück. Der höchste amerikanische Offizier, Admiral Dempsey, ist danach nach Kairo geflogen, um über diese und andere Angelegenheiten zu verhandeln. Doch nun, da die Sache vor Gericht gelangt ist, wird es schwierig sein, sie rückgängig zu machen. Die Offiziere scheinen bereit, den eventuellen Verlust hinzunehmen. Sie verfehlen nicht zu betonen, auch in Amerika müssten ausländische Agenten sich registrieren lassen, wenn sie dort arbeiten wollten.
Noch mehr "Agenten"
Die neueste Episode im Feldzug gegen die "ausländischen Agenten" ist die Festnahme von zwei Studenten der amerikanischen Universität von Kairo, einer ist Amerikaner, der andere Australier. Begleitet werden sie von einer ägyptischen Revolutionärin in der Textilstadt, Mahalla al-Kubra, im Delta. Dort haben in früheren Jahren berühmte und verlustreiche Streikaktionen stattgefunden. Den Dreien wird vorgeworfen, den dortigen Arbeitern Geld gegeben zu haben, um sie zum Streiken zu animieren. Zeugen, die dies gesehen hätten, hätten die Polizei alarmiert. Solche Vorkommnisse, ob real oder gestellt, sind Wasser auf die Mühle der Generäle.
Der Militärrat und die Muslimbrüder als Hauptkräfte
Der geringe Zulauf, den die Revolutionäre für ihre Pläne mobilisieren konnten, macht deutlich, dass die dritte Kraft in Ägypten, die Revolutionsströmung, an Zugkraft verliert. Was bewirkt, dass die beiden anderen Hauptkräfte, einerseits die Militärführung und andrerseits die parlamentarische Mehrheit, die Zukunft des Landes bestimmen werden.
Möglicherweise könnten sie dies auf Grund eines Kompromisses zwischen den beiden tun. Dieser würde so aussehen, dass die Muslimbrüder und die Salafiya sich mit den Militärs dahin verständigten, dass sie die Front der politischen Bühne besetzten, während die Militärs im Hintergrund ihre bisherige, seit 60 Jahren bestehende und seither immer weiter ausgebaute Machtstellung im Wesentlichen behalten. Was hiesse, dass sie das letzte Wort sprächen, auch in politischen Dingen, nicht bloss in militärischen Belangen und bei der Bewahrung und dem weiterem Ausbau ihrer wirtschaftlichen Machtpostionen. Ein solcher Kompromiss würde bewirken, dass das bisherige Regime mit einigen neu verteilten Rollen weiter bestehen würde. Die Revolution wäre fehlgeschlagen.
Kommt es zum Zusammenstoss?
Oder es käme zu einer Auseinandersetzung zwischen der Militärführung und der parlamentarischen Mehrheit. Dabei würde es darum gehen, die Militärs einer zivilen Kontrolle zu unterstellen.
Eine parlamentarische Regierung?
Ob die Muslimbrüder den ersten oder den zweiten Weg einschlagen werden, ist noch ungewiss. Es gibt Anzeichen dafür, dass einige ihrer Führerpersönlichkeiten denken, eine Konfrontation stehe bevor. Etwa wenn der stellvertretende Führer der Bruderschaft, der Parlamentarier Khairat al-Shater, der Presse erklärt, die Bruderschaft gedenke, eine parlamentarische Regierung zu ernennen und die gegenwärtige, von der Militärführung bestimmte abzusetzen. Was jedoch von einem anderen Sprecher der Bruderschaft dahin korrigiert wurde, der Parteigenosse habe nicht gesagt oder nicht sagen wollen, "gedenke" sondern "denke daran".
Khairat al-Shater, von Beruf Ingenieur, wurde unter Mubarak im Jahr 2008 zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt wegen "Geldwäscherei und Zugehörigkeit zu einer illegalen Gruppierung". Er wurde erst nach der Revolution, im März 2011, frei gelassen. Er gilt als eine der einflussreichsten Persönlichkeiten in der Bruderschaft wegen der finanziellen Unterstützung, die er dieser zukommen lässt.
Die Militärführung will regieren
Die Militärführung ist der Ansicht, sie habe die Regierung zu ernennen und zu entlassen, solange Ägypten keinen Präsidenten besitze. Dies wirft die Frage der Befugnisse der Präsidentschaft in der noch zu schreibenden ägyptischen Verfassung auf. Nach der gegenwärtigen Verfassung aus der Zeit Mubaraks, die von den Militärs in Teilen modifiziert, aber zum grössten Teil übernommen wurde, ernennt der Präsident die Regierung. Doch ist bekannt, dass die Muslimbrüder eine parlamentarische Regierung vorzögen, die auf der parlamentarischen Mehrheit beruht.
Die Fülle der offenen Fragen
Der Präsident soll nun nach den jüngsten Korrekturen des politischen Fahrplans Ende Juni gewählt werden. Doch welche Kompetenzen er haben wird, steht noch nicht fest. Nicht einmal der geplante 100-köpfige Ausschuss (von Parlamentariern oder auch anderen Würdenträgern?) ist gewählt (oder ernannt?), der die Verfassung in grosser, ja ungebührlicher Eile zu schreiben hätte.
Ob die Offiziere einen eigenen Kandidaten in die Präsidentenwahl entsenden werden oder nicht, weiss man auch nicht.
Kompromiss oder Entscheidung?
Es gibt, wie ersichtlich, sehr viele zentrale Fragen, die die künftige Machtausübung bestimmen werden, und die in Kürze zwischen der Militärführung und der parlamentarischen Mehrheit gelöst werden müssen. Dies wird reichlich Gelegenheit bieten zur Konfrontation der beiden Mächte - oder aber Flexibilität auf beiden Seiten erfordern. Flexibilität - oder handelt es sich um Vorsicht? - war bis jetzt eher auf der Seite der Muslimbrüder als auf jener der Militärs zu beobachten.