Der gemässigte Labour-Vorsitzende Keir Starmer wird neuer Regierungschef in Grossbritannien. Er hat die Partei vom linken Rand zurück in Richtung pragmatische Mitte gesteuert. Die abgewirtschafteten Konservativen verlieren 250 Sitze im Unterhaus. Verglichen mit den aktuellen Verunsicherungen in anderen westlichen Demokratien haben sich die britischen Wähler diesmal mehrheitlich für eine Politik vernünftiger Berechenbarkeit entschieden.
Mein Sohn lebt mit seiner Familie seit einigen Jahren in London. Am Telefon hat er unlängst berichtet, wie einer seiner örtlichen Bekannten die bevorstehende Unterhauswahl beurteilte. Mit der Auswahl könne man eigentlich ganz zufrieden sein, meinte der Bekannte – jedenfalls im Vergleich zu den Optionen in einigen anderen demokratischen Ländern. In der Hauptsache gehe es ja um das Duell zwischen dem Labour-Chef Keir Starmer und dem Tory-Führer Rishi Sunak, zwei einigermassen gemässigten, und vertrauenswürdigen Parteiführern.
Verglichen mit der aktuellen Auswahl bei der amerikanischen Präsidentenwahl oder der Aussicht auf eine rechts- oder linksradikal geführte Regierung in Frankreich, dem Aufstieg der rechtsnationalen AfD in Deutschland und der bereits etablierten rechtsnationalistischen Regierung Meloni in Italien seien das doch eher beruhigende Perspektiven für die britische Demokratie. Mit dieser Einschätzung gab der erwähnte Bekannte meines Sohnes zu verstehen, dass er politisch eher der pragmatischen Mitte zuneigt und offenbar nicht viel hält von paradiesischen Versprechungen und wirklichkeitsfremden Illusionen.
Keir Starmer – kein Tony Blair, aber ein Pragmatiker der Mitte
In diesem vernünftigen und nüchternen Sinne lässt sich auch das konkrete Ergebnis der britischen Parlamentswahl vom Donnerstag interpretieren. Klarer Sieger bei dieser Neubestellung des Unterhauses ist Keir Starmer mit seiner von ihm neu orientierten Labour-Partei. Er hat die unter seinem Vorgänger Jeremy Corbyn in eine nebulöse, linkssektiererische und teilweise antisemitische Randzone gesteuerte Partei wieder konsequent in Richtung politische Mitte geführt. Corbyn wurde sogar aus der Partei ausgeschlossen. Allerdings hat dieser in seinem Londoner Wahlkreis Islington jetzt als Unabhängiger kandidiert – und ist dort wieder gewählt worden.
In der politischen Mitte war auch ein anderer früherer Parteichef von Labour angesiedelt: Tony Blair, der vor einem Vierteljahrhundert drei Mal hintereinander die Unterhauswahlen gewonnen hatte und mit den Schlagworten «New Labour» und «Cool Britannia» lange Zeit starke Wählermassen inspiriert hatte. Allerdings ist der jetzige Wahlsieger Keir Starmer von seinem Temperament und Stil her kein Tony Blair.
Blair war ein blendender Redner mit jugendlichem Flair, was von dem 61-jährigen Starmer weder er selber noch seine Anhänger im Wahlkampf je behauptet haben. Beide sind zwar überzeugte Atlantiker und Europäer und weit davon entfernt, im umstrittenen Gaza-Krieg einseitig mit der Sache der islamistischen Hamas-Ideologen zu sympathisieren, wie das Starmers Vorgänger Corbyn getan hat. Aber der vorsichtigere Starmer hätte sich vielleicht 2003 auch nicht vom früheren US-Präsidenten George W. Bush so vorschnell und ohne ausreichende Beweise für eine drohende atomare Bewaffnung des Saddam-Regimes in den unseligen Irak-Krieg hineinziehen lassen, wie das Tony Blair getan hat und womit er sich sehr viele Sympathien verspielte.
Brexit – kein Wahlkampfthema
Für Starmers pragmatischen Instinkt, sich nicht unnötig in innere und äussere Zerreissproben zu verstricken, spricht auch seine Entscheidung, das leidige Thema Brexit im Wahlkampf weitgehend auszuklammern. Dies obwohl er natürlich weiss, dass eine klare Mehrheit der Briten heute die Brexit-Entscheidung von 2016 bedauert und der Meinung ist, dass es dem Land schlechter gehe als vor dem Austritt aus der Brüsseler Gemeinschaft. Doch der Labour-Chef muss auch berücksichtigen, dass seine Partei unter seinem Vorgänger Corbyn bei jenem Entscheid keineswegs eine eindeutige Pro-EU-Position bezogen hatte, sondern sich hinter verschwommenen Wischiwaschi-Parolen versteckt hatte. Ausserdem dürfte Starmer richtig erkannt haben, dass die Wunden und Traumata, die der jahrelange Brexit-Kampf in der britischen Gesellschaft hinterlassen hatte, noch nicht verheilt sind und dass es zumindest noch zu früh ist, die Möglichkeit einer Rückkehr in die EU zur Sprache zu bringen.
Sunak büsst für das das Versagen seiner Vorgänger
Starmers Hauptgegner im Wahlkampf, der amtierende konservative Prime Minister Rishi Sunak, hatte da einen sehr viel schwierigeren Stand. Das liegt zwar weniger an seiner eigenen Persönlichkeit als vielmehr an den verheerenden Leistungen und Grossmäuligkeiten einiger seiner konservativen Amtsvorgänger und der ideologischen Zerstrittenheit seiner Unterhausfraktion. In erster Linie betrifft dieses Urteil den Hasardeur Boris Johnson, der 2016 gegen seinen damaligen Parteichef Cameron an vorderster Front für den Brexit-Entscheid gekämpft hatte. Er kurvte damals mit einem Bus im Land herum und behauptete ohne jede Relativierung, das Vereinigte Königreich schicke jede Woche 350 Millionen Pfund nach Brüssel. Dieses Geld werde nach dem EU-Austritt in die Sanierung des nationalen Gesundheitsdienstes (NHS) fliessen. Der NHS steckt heute, Jahre nach dem Brexit, in einer tieferen Krise denn je.
Johnson erzielte zwar bei der Unterhauswahl von 2019 mit seiner Forderung nach einer beschleunigten Abtrennung von der EU («Get Brexit done») einen überwältigenden Sieg für die Konservativen. Doch die ausbleibenden wirtschaftlichen Wunder, die er dem Publikum während des Wahlkampfes vorgegaukelt hatte und die zynischen – zunächst hartnäckig geleugneten – Trinkgelage, an den er an seinem Regierungssitz während des Covid-Lockdowns beteiligt war, zwangen ihn schon drei Jahre später zum unwürdigen Rücktritt. Seine konservative Nachfolgerin Liz Truss, eine verbohrte Markt-Ideologin, die mit radikalen Plänen für Steuerkürzungen und ebenso massloser Schuldenaufnahme die Wirtschaft gefährlich destabilisierte, musste schon nach wenigen Wochen ihren Amtssitz räumen.
Der jetzige konservative Premier Rishi Sunak machte zwar eine vernünftigere Figur als seine Vorgänger, doch deren falsche Versprechungen und Eskapaden sind unter den britischen Wählern noch in allzu frischer Erinnerung. Eigentlich gehe es bei dieser Unterhauswahl nur um eines: die Bestrafung der Tories, hiess es vor kurzem in einem Kommentar der Londoner «Times», die sonst den Konservativen eher nahesteht.
Farage – Nemesis der Tories, wird ins Unterhaus gewählt
Vielleicht gehört mit zur gerechten Strafe für ihre insgesamt blamable und chaotische Vorstellung während ihrer zurückliegenden 14-jährigen Regierungszeit, dass in den letzten Monaten noch ein weiterer Konkurrent ins Rennen um konservative Unterhaussitze in den Wahlkampf eingestiegen ist. Es handelt sich um den Rechtspopulisten Nigel Farage der eine kurzfristig aus dem Boden gestampfte neue Partei namens Reform UK anführt. Farage ist so etwas wie ein Unglücksbringer für die alteingesessene Tory-Partei.
Nicht zu Unrecht wird er auch als «Vater des Brexit» tituliert, denn er war es, der mit seiner früheren UK Independent Party (UKIP) und deren Dauerpolemik gegen die EU dem früheren konservativen Premier David Cameron das Leben schwer machte. Das brachte ihn auf die unheilvolle Idee, durch eine Volksabstimmung über die Fortsetzung der EU-Mitgliedschaft eine klare Ja-Mehrheit hinter sich zu scharen, um so dem enervierenden Gezeter von Farage und dessen Gesinnungsgenossen in der eigenen Partei ein Ende zu bereiten. Das Kalkül erwies sich, nicht zuletzt dank dem rücksichtslosen Einsatz des Anti-EU-Demagogen Boris Johnson, als kapitaler Fehlschlag, für den Cameron seinen Hut nehmen musste.
Es entbehrt nicht der Ironie, dass der Populist Farage offenkundig auf Kosten der Konservativen bei dieser Unterhauswahl einen beträchtlichen Zulauf verbuchen kann. Er wird selber erstmals ins Unterhaus gewählt und gewinnt mit seiner neuen Partei vier Sitze. Dies obwohl er weiter für eine weiter verschärfte Distanz zur EU trommelt und inzwischen eine Mehrheit der Wähler den von ihm inspirierten Brexit für einen Fehler hält. Aber auch zu anderen Themen vertritt der Rattenfänger Farage eine haarsträubend abstruse Agenda: Er verlangt einen totalen Stopp jeglicher Zuwanderung in Grossbritannien. Ausserdem fordert er die Beendigung der Waffenhilfe für die Ukraine mit der Begründung, es sei der Westen, der Putins Angriff auf dieses Land «provoziert» habe. Der erhebliche Erfolg von Farage und seiner neuen Partei spricht kaum für ein nüchternes Urteilsvermögen und ein kritisches Gedächtnis seiner Anhänger.
Die Liberaldemokraten stärken die politische Mitte
Verhältnismässig starke Gewinne haben auch die eher in der politischen Mitte agierenden Liberaldemokraten eingefahren. Sie gewinnen laut BBC-Prognosen 71 Sitze, 63 mehr als im bisherigen Unterhaus.
Im Ganzen entspricht das Ergebnis dieser Unterhauswahl den relativ zuversichtlichen Erwartungen des eingangs zitierten Londoner Bekannten meines Sohnes: Die Demokratie funktioniert, die unglaubwürdig gewordenen Tories wurden abgewählt und das Vereinigte Königreich wird in den nächsten Jahren von einer gemässigten Labour-Regierung mit dem unspektakulären, aber als solide geltenden Solzialdemokraten Keir Starmer an der Spitze regiert werden. Wie gesagt, gemessen an den unsicheren Perspektiven in andern grossen westlichen Demokratien ist das kein geringer Erfolg.