Mit der relativen Ruhe in der nördlichen Westbank ist es vorbei. Der Gazakrieg greift definitiv über und droht zum allgemeinen Palästinakrieg zu werden. Wenn es gelingt, im Westjordanland eine neue Hamas aufzubauen, resultiert eine folgenreiche Anbindung an den Iran.
Bei einem Feuerüberfall 15 Kilometer westlich von Hebron nahe der Waffenstillstandslinie sind am Sonntagmorgen drei israelische Polizisten getötet worden. Die Attentäter konnten zunächst fliehen. Die israelische Armee fahndete mit einem Grossaufgebot in mehreren Stadtteilen Hebrons nach ihnen. Der Feuerüberfall ereignete sich einen Tag nach einer Serie von Bombenanschlägen in der Stadt und ihrer Umgebung. Diese Aktionen fielen mit dem Aufruf des ehemaligen Hamas-Politbürochefs Chalid Masch’al an die palästinensischen Bewaffneten zusammen, die Selbstmordattentate gegen israelische Einrichtungen wieder aufzunehmen.
Gesteigerte Spannungen im Westjordanland
Hebron war von den aktuellen kriegsähnlichen Auseinandersetzungen im Norden der Westbank bisher weniger betroffen, die Lage galt sogar als relativ «ruhig». Hebron, eine Grossstadt mit knapp 170’000 arabischen und etwa 800 jüdischen Einwohnern im Stadtgebiet, in deren Einzugsbereich sich zwei israelische Siedlungen mit zusammen knapp 8’000 Einwohnern befinden, gilt als Hochburg der Hamas. Bei Wahlen konnten ihre Listen und Kandidaten kontinuierlich fast zwei Drittel der Stimmen auf sich vereinigen. Zwar kam es auch in Hebron vor allem im ländlichen Einzugsgebiet zu teils massiven Ausschreitungen zwischen israelischen Siedlern und palästinensischen Bewohnern, doch traten im Gegensatz zum Norden bislang nur wenige militante Gruppen in der Umgebung von Hebron in Erscheinung.
Die Hamas hat sich in einer Erklärung zu dem Beschuss bekannt und versucht, ihn als Teil ihres Krieges zu vereinnahmen. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass die Hamas diesen Angriff koordiniert hat. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sich nun auch im bislang eher «ruhigen» Süden der Westbank militante Gruppen zu formieren beginnen, die sich einem der bestehenden Netzwerke anschliessen.
Zwar verfügt die Hamas in der Westbank über Gruppen, die sich als Teil der al-Qassam-Brigaden verstehen. Doch trotz lokaler Unterstützung ist es der Hamas bislang nicht gelungen, eine militärische Struktur aufzubauen. Dafür macht sie die Fatah bzw. die Autonomiebehörde verantwortlich, die Hebron und die angrenzenden Gebiete mit harter Hand regieren und konkurrierende Militanz massiv bekämpfen. Tatsächlich stehen die beiden einzigen grösseren bewaffneten Gruppen in der Umgebung von Hebron der Fatah nahe.
Vor einem palästinensischen Krieg?
Die Kampfzone zwischen israelischen Streitkräften und palästinensischen Bewaffneten weitet sich zusehends auf das Westjordanland aus. Der Gazakrieg droht zu einem Palästinakrieg zu werden. Damit treten jedoch andere Akteure in den Vordergrund, deren Militanz durch den Krieg zwischen Israel und der Hamas überlagert wurde. Es zeigt sich, dass im Westjordanland das Netzwerk des Palästinensischen Islamischen Dschihad (PIJ), der bisher als Juniorpartner der Hamas im Gaza-Krieg galt, eine Führungsrolle übernommen hat.
Der PIJ gilt als palästinensisches Pendant zur libanesischen Hisbollah. Sie ist jedoch weder der schiitischen Tradition verpflichtet, noch teilt sie die politisch-symbolischen Welten, mit denen sich die Hisbollah umgibt. Die PIJ wurde wie die Hisbollah um 1982 gegründet und tritt ausschliesslich als bewaffnete Organisation des palästinensischen religiösen Ultranationalismus auf. Er versteht sich als enger Verbündeter der iranischen Politik und als Teil der 2012 formierten Achse des Islamischen Widerstands. Ähnlich wie die Hamas von Katar bzw. der Türkei Erdogans unterstützt wird, wird auch die PIJ von den iranischen Revolutionsgarden mitgetragen.
Die Macht des Islamischen Dschihad
Die PIJ ist seit Jahren ein wichtiger Bezugspunkt für bewaffnete Gruppen im Dreieck Nablus-Tulkarm-Dschenin in der nördlichen Westbank. Während Hamas-Kommandeure vor allem in Dschenin eine lokale Machtbasis aufbauen konnten, orientieren sich neuere Kampfbündnisse in der Region derzeit stärker an der PIJ.
Der Versuch der Hamas, angesichts des drohenden Zusammenbruchs ihrer militärischen Strukturen in Gaza ein «Hamastan» im Norden der Westbank zu errichten, zeichnet sich seit einigen Wochen ab, stösst aber auf den entschiedenen Widerstand der Fatah. Die PIJ hingegen, die in Gaza faktisch mit der Hamas fusionierte, agiert weit weniger als politischer Verband und prägt stärker die religiös-nationalistischen Diskurse vor Ort. Diese finden aufgrund ihres religiös aufgeladenen Heilsnationalismus sogar Eingang in Teile der eher säkular-nationalistischen Öffentlichkeit.
Als Bezugspunkte bewaffneter Gruppen gelten derzeit vier Netzwerke: die PIJ, die Hamas, die al-Aqsa-Märtyrer-Brigaden (AMB) und die Bewaffneten der «Höhle der Löwen» (‘arin al-usud). Die AMB sind eine dezentrale Fortsetzung der «Tanzim», einer von Arafat als Gegengewicht zur Hamas gegründeten militärischen Formation, die später in den Sicherheitsorganen der PA aufging. In der Folge schufen sich jüngere Fatah-Anhänger den Rahmen der AMB, die ähnlich wie die Provisional IRA in Nordirland lokale Militanz aufrechterhalten will.
Die Bewaffneten der «Höhle der Löwen» (der Name leitet sich von Ibrahim al-Nablusi ab, der im August 2022 getötet und als «Löwe von Nablus» bezeichnet wurde) operieren in dezentralen Einheiten vor allem in der Region um Nablus und stehen ideologisch der Hamas nahe, deren Kommandeur Muhammad Shtajjeh bei der Gründung dieser Verbände logistische Unterstützung leistete.
Eine weitere Hamas?
Vor diesem Hintergrund zeichnet sich der Versuch bewaffneter Einheiten ab, im Norden der Westbank eine eigenständige Kopie der Hamas-Strukturen aufzubauen. Dabei geht es vor allem darum, die dezentralen Verbände in einer oder mehreren Formationen unter ein einheitliches Kommando zu stellen. Hamas-Leute versuchen aber auch, ihre Machtbasis in Dschenin auszubauen und eine Vormachtstellung zu erlangen, die es der Organisation ermöglichen soll, nach dem Zusammenbruch ihrer Machtinseln in Gaza auf palästinensischem Boden zu überleben. Der Erfolg blieb jedoch hinter den Erwartungen zurück. Demgegenüber kann sich die PIJ rühmen, für fast die Hälfte aller militanten Aktionen in der Westbank verantwortlich zu sein; 40 Prozent gehen auf das Konto der AMB. Die Bilanz der Hamas im Westjordanland fällt eher «bescheiden» aus.
Wie gross die Zahl der Bewaffneten ist, die sich in den insgesamt rund 25 militanten Gruppen zusammengeschlossen haben, lässt sich nur schwer abschätzen. Klar ist hingegen, dass die Netzwerke der PIJ und der AMB das Umfeld der Militanz bestimmen. Nach israelischen Angaben wurden mehrere hundert Bewaffnete getötet und fast 2’000 gefangen genommen. Man kann davon ausgehen, dass bis zu 10’000 Bewaffnete in den Verbänden dieser Netzwerke aktiv sind. Sie verfügen zwar nicht über die Bewaffnung der Hamas in Gaza, sind aber stärker in den lokalen Gemeinschaften verankert und noch radikaler durch eine heroische ultranationalistische Kultur auch mit der Propaganda der säkularen nationalistischen Öffentlichkeit verbunden.
Vor wenigen Tagen wurde der Kommandeur des Tulkarm-Bataillons der PIJ, Muhammad Jabir, auch bekannt als Abu Schudscha’a, von israelischen Soldaten bei einem Feuergefecht in seinem Heimatort, dem Flüchtlingslager Nur Schams bei Tulkarm, getötet. Der damals 24-jährige Abu Schudscha’a hatte im März 2022 zusammen mit einem Gesinnungsgenossen die Gruppe gegründet, der anfangs etwa 40 Bewaffnete angehört haben sollen. Ihm schlossen sich mehrere kleinere bewaffnete Gruppen aus der Umgebung an, so dass er schliesslich über eine für lokale Verhältnisse schlagkräftige militante Gruppe verfügte. Mit dieser lieferte er sich zum Teil heftige bewaffnete Auseinandersetzungen mit den Sicherheitsorganen der Autonomiebehörde. Doch nach seinem Tod überschlugen sich Aktivisten aus dem Umfeld der Autonomiebehörde mit Lobeshymnen auf den «Helden von Tulkarm».
Iranische Volten
Das zeigt: Der Krieg um Gaza beginnt auch die politischen Welten im Westjordanland zu verändern. Säkulare Nationalisten scheuen sich nicht mehr, mit einer radikal «religionisierten» Symbolik für den bewaffneten Kampf gegen die israelischen Streitkräfte zu werben. Palästina wird in ihrer Propaganda zum Heiligen, der Tod zum Selbstopfer für die heilige Idee «Palästina». Natürlich weiss auch die palästinensische Öffentlichkeit, dass die iranische Führung nach der Ermordung des Hamas-Politbürochefs Ismail Hanija das Heft in die Hand genommen hat und mit der PIJ nun auch über einen wichtigen Stellvertreter im Westjordanland verfügt.
Diese Anbindung an den Iran verlangt aber von der PIJ wie von der Hamas, sich den Ränkespielen der iranischen Führung zu beugen, ja deren manchmal überraschenden Volten zu folgen. Aber auch dem sind Grenzen gesetzt. Als der iranische Revolutionsführer Khamenei jüngst verlauten liess, der Kampf gegen die USA und Israel und die Unterstützung der Palästinenser sei geradezu unbedeutend im Vergleich zum Krieg zwischen Schiiten und Sunniten, der bis zum Jüngsten Gericht andauern werde, war nicht nur die sunnitische Welt empört. In säkularen wie religiösen Kreisen arabischer und palästinensischer Nationalisten wuchs die Wut auf den Iran, der nicht nur sein Vergeltungsversprechen nicht einlöste, sondern eine neue Front definierte, die die sunnitischen Palästinenser zu Gegnern des Iran machte. Die politischen Folgen dieser Kehrtwende sind unabsehbar.