Aus Syrien wird gemeldet, die Kämpfer der Nusra-Front in Kooperation
mit zwei weiteren Kampfgruppen hätten die Stadt Idlib, Hauptstadt der
gleichnamigen Provinz im Nordwesten Syriens, erobert. Dies ist die
zweite Provinzhauptstadt, die seit dem Beginn des Bürgerkrieges im
Jahr 2011 den Feinden des Asad Regimes in die Hände fällt. Die erste
war Raqqa am Euphrat, die heute als Hauptstadt von IS dient.
I Kämpfe ohne Ende in Syrien
Viele kleinere Orte der gebirgigen Provinz Idlib sind seit langer Zeit im
Besitz der Rebellen- oder Widerstandsgruppen. Die Stadt Idlib war
Jahre lang von den Rebellen eingeschlossen und musste von der
Regierung mit Helikoptern versorgt werden. Nusra-Front hatte sich in
den vergangenen Monaten die Oberherrschaft über die anderen
Kampfgruppen erkämpft. Diese waren anfänglich stärker gewesen als die Nusra-Leute. Doch die Nusra Kämpfer erwiesen sich über die Jahre als zäher, als rücksichtsloser - vor allem im Einsatz von Selbstmordbomben. Sie sind auch besser aus dem Ausland unterstützt - das heisst aus den Golfländern und aus Saudi Arabien - und als besser finanziert denn die Rivalen. Einige dieser Rivalen zwang Nusra, sich aufzulösen, anderewurden als Bundesgenossen der Nusra-Führung unterstellt.
Nusra bleibt Kaida-Tochter
Nusra ist eine radikal islamistische Gruppe. Das heisst sie strebt
einen Islamischen Staat durch Gewaltanwendung an. Nusra war einst von Abu Bakr al-Baghdadi, dem heutigen "Kalifen", als der syrische Arm der irakischen Jihadisten , gegründet worden. Doch Nusra hat sich seit 2014 von IS getrennt, und manchmal bekämpften sich die beiden Rivalen. Dabei geht es in erster Linie um die Führungsfragen. Der Nusra-Chef, Abu Bakr al-Golani, will sich IS nicht unterstellen. Deshalb bleibt er bei seinem Bündnis mit al-Kaida, von der IS sich losgesagt hat.
Es gibt auch Divergenzen über die Zielsetzung. IS hat schon sein
"Kalifat" und will es Richtung Bagdad und Richtung Damaskus
vergrössern. Nusra strebt einen islamischen Staat in Syrien an und
kämpft daher gegen Damaskus, nicht gegen Bagdad.
Wird Idlib zum "Emirat" der Nusra?
Doch Nusra hat von IS gelernt, dass es nützlich ist, einen eigenen
Staat zu gründen und von diesem Eigenterritorium aus den Kampf zu
führen. Deshalb strebt Nusra nun ein eigenes Territorium in Idlib an.
Mit der Einnahme der Provinzhauptstadt kommt Nusra diesem Ziel
bedeutend näher, weil der Rest der Provinz sich entweder in
Eigenbesitz oder unter der Macht von verbündeten und Nusra
unterlegenen Milizen befindet. Es gibt aber noch zwei syrische
Militärbasen in der Idlib-Provinz, die Nusra noch nicht erobert hat,
und die syrische Armee wird versuchen die Stadt Idlib
zurückzugewinnen. Ausserdem muss Nusra damit rechnen, dass die
syrische Luftwaffe die Stadt Idlib nun rücksichtslos bombardieren
wird. Nach den neuesten Meldungen haben diese Bombardierungen schon begonnen und eine Fluchtbewegung der Bevölkerung aus Idlib ausgelöst
Die Kämpfe um die Provinzhauptstadt haben Monate lang gedauert,
manchmal waren sie heftig geworden, dann wieder eingeschlafen. Die
letzte Phase waren drei Tage schwerer Kämpfe gewesen. Damaskus hat bestätigt, dass seine Truppen die Stadt verloren haben, doch erklärte das Fernsehen der Regierung, die Regierungstruppen würden alles tun, um die Stadt wieder zurückzugewinnen.
Bald zwei "islamische Staaten"?
Wenn Nusra sich auf die Dauer in ganz Idlib halten kann, wird es in
Syrien zwei islamistische Territorien geben, die sich Staaten nennen,
ein kleineres von Nusra und östlich daran angrenzend das Kalifat von
IS, das neben syrischen Ostprovinzen auch Teile des Iraks umfasst. Die beiden werden Rivalen bleiben, aber einander nicht notwendigerweise nachdrücklich und beständig bekämpfen, weil ihre Hauptstossrichtungen unterschiedlich sind. IS zielt auf Bagdad, Nusra auf Damaskus.
Falls allerdings IS versuchen sollte, Richtung Aleppo Gelände zu
gewinnen und in den Kämpfen um die zweite Stadt Syriens eine Rolle zu spielen, würden die beiden Gruppierungen wahrscheinlich
zusammenstossen, weil Nusra bereits gegenwärtig in den aufständischen westlichen Quartieren Aleppos präsent ist.
Versuche, West-Aleppo zu isolieren
Aleppo stellt auch ein Ziel der Asad Regierung dar. Ihre Strategie
geht darauf aus, alle Zugänge zu der geteilten und umkämpften
Grossstadt abzuschneiden, um die Aufständischen in ihren westlichen
Quartieren zu isolieren und auszuhungern. Diese kennen die Gefahr und suchen die Verbindungsstrasse nach Norden, die auf die türkische
Grenze hinführt, mit aller Macht offen zu halten. Um die einzelnen
Ortschaften an der Strasse spielen sich seit Wochen zähe und heftige
Kämpfe ab. Einmal meldet Damaskus Flecken wie Handarat seien gefallen. Doch dann melden die Kampfgruppen sie hätten den Ort zurückerobert. Eine völlige Abschnürung der aufständischen Teile von Aleppo hat Damaskus bisher trotz monatelanger Versuche nicht erreicht.
Asads Mangel an einsatzfähigen Militärs
Die reguläre Armee Syriens besitzt schwere Waffen und eine Luftwaffe,
doch es fehlen ihr genügend loyale Truppen, um an allen Fronten
gleichzeitig zu kämpfen. Trotz der Hilfe der Kämpfer des libanesischen
Hizbullah und dem Einsatz von Irregulären eines Volkssturms namens
"Schabiha" (Gespenster) ist Damaskus immer wieder gezwungen, einzelne Positionen aufzugeben, die unter Druck durch die Aufständischen geraten oder, in anderen Fällen, eigene Initiativen abzubrechen, weil die dafür benötigten Truppen anderswo eingesetzt werden müssen.
Die syrische Armee beruht auf der Solidarität der alawitischen
Gemeinschaften. Dies ist ihr Vorteil in Bezug auf Zusammenhalt, jedoch
auch ein Nachteil, weil die Alawiten nur etwa 15 Prozent der
Bevölkerung bilden und deshalb nicht genügend Mannschaften stellen
können, um ganz Syrien flächendeckend zu beherrschen. Gerade weil die Alawiten in der Armee eine führende Sonderstellung einnehmen, ist den nicht-Alawiten Soldaten und Offizieren, die sich zurückgesetzt fühlen, wenig zu trauen, und sie sind daher begrenzt einsetzbar.
Diese Lage führt dazu, dass Damaskus an jenen Fronten, an denen es
nicht in der Lage ist, die Initiative zu ergreifen, seine
Bombenflugzeuge einsetzt, und auch - wo diese fehlen - Helikopter, aus
denen die berüchtigten Barrel Bombs (Bombenkanister) von Hand und
weitgehend ungezielt abgeworfen werden. Diese Bomben fordern so gut
wie täglich Todesopfer unter den Zivilisten von Aleppo. Legal gesehen
stellen sie Kriegsverbrechen dar.
IS sucht einen Weg nach dem Westen
Südlich der Provinz Idlib versucht IS zur Zeit vom Euphrat aus
richtung Westen durch die syrische Wüste nach Homs vorzustossen.
Kämpfe sollen sich in Palmyra (arabisch Tadmor) abspielen. Es gibt
über Palmyra hinaus bewegliche Vorstössse, die darauf ausgehen, die
Hauptstrasse zu unterbrechen, die Damaskus mit Aleppo verbindet und
die als das Rückgrat von Syrien bezeichnet werden kann. Sollte IS
dabei Erfolg haben, schiebt es einen Riegel zwischen das von Nusra
beherrschte Gebiet von Idlib und die Hauptstadt Damaskus, die als das
Hauptziel von Nusra zu gelten hat.
Belagerungstaktik rund um Damaskus
Im Raum rund um Damaskus herum verfolgt die Regierung seit Monaten die gleiche Taktik, die sie auch in Aleppo durchführen will. Sie sucht die verschiedenen Orte der Umgebung der Hauptstadt, in denen
Rebellengruppen sich halten, zu umzingeln, zu isolieren und
auszuhungern. Dies hat für die Regierung den Vorteil, dass sie
Strassenkämpfe und die Verluste vermeiden kann, die der Nahkampf
unweigerlich kosten würde. Nach Berichten der Uno gibt es zur Zeit elf
Ortschaften, die einer solchen Belagerungstaktik ausgesetzt sind und
in denen etwa 202 000 Menschen Hunger leiden.
Nach einer Gruppe von syrischen Ärzten, die sich in den USA gebildet hat, sollen es sogar 640 000 Personen in 38 der Belagerung ausgesetzten Ortschaften sein.
Kinder und Frauen machen ungefähr drei Viertel dieser Zahlen aus. Die
Asad-Regierung macht mit diesen Belagerungsaktionen langsame
Fortschritte, und es gelang ihr, mehre dicht bewohnte Vorstädte und
Aussenquartiere der Hauptstadt, völlig zerstört und ausgehungert, in
ihre Gewalt zu bringen.
Die südliche Front aus Amman gesteuert
Südlich von Damaskus, nah an der jordanischen Grenze gibt es ein
weiteres Kampfgebiet. Dort stehen Kämpfer der FSA (Freie Syrische
Armee) zusammen mit verschiedenen Milizen, unter ihnen auch Nusra-
Front, im Einsatz. Diese Kräfte werden von Amman aus in einer dort
gelegenen Operationsraum gesteuert. Sie beherrschen die Grenzstadt
Deraa und meldeten am 26. März die Einnahme der Stadt Bosra, die etwa
17 Km entfernt liegt. Dies sei 1000 Mann der FSA und einer lokalen
Miliz gelungen, die sich Muthanna nennt. Bisher war Bosra - berühmt
durch sein wohlerhaltenes römisches Theater - von den syrischen
Truppen und von Kämpfern des libanesischen Hizbullah sowie einigen
iranischen Revolutionswächtern gehalten worden. Sie haben sich nun
Richtung Suweida zurückgezogen.
Restbestände der FSA an der jordanischen Grenze
Die FSA war bis Mitte 2014 auch im syrischen Norden eine wichtige
Kampfgruppe. Doch dort hat sie ihre Bedeutung verloren. Viele ihrer
Mannschaften im Norden sollen zu den reicheren und besser
ausgerüsteten Milizen von IS und Nusra übergegangen sein, nachdem sie Kämpfe gegen die Islamisten verloren hatten. Die südliche Front ist
für Damaskus bedrohlich, weil sie bloss etwa 170 Km von der Hauptstadt entfernt liegt.
Das Gesamtbild ergibt unverändert: langsame Fortschritte nach schweren und verlustreichen Kämpfen für die Regierungsarmee und ihre Hilfstruppen aus dem syrischen Volkssturm und aus Libanon und Iran. Doch gleichzeitig Rückschläge in den Kampfgebieten, in denen die
syrischen Streitkräfte nicht in der Lage sind, offensiv vorzugehen und
sich stattdessen in Militärbasen einigeln. Wo die Regierungsarmee
Siege davonträgt, erobert sie unbewohnbare Ruinen, in denen nur noch
kleine und geschwächte Teile der Bevölkerung überleben.
Dies ist eine Folge der von der Regierung eingesetzten schweren Waffen. Sie sind ein wesentlicher Teil ihrer Kriegsmacht, und durch ihren Einsatz sucht sie dafür zu kompensieren, dass sie über relativ wenig Truppen verfügt. Doch dieser Einsatz von schweren Waffen, der sich
gegen bewohnte Gebiete richtet, bewirkt auch die Entvölkerung und
Zerstörung der eroberten Landesteile. Beinahe die Hälfte der syrischen
Bevölkerung sind nun zu im Lande umherirreden Obdachlosen oder zu
Flüchtlingen im umliegenden Ausland geworden
II Der Irak
Die Kämpfe um Tikrit haben seit dem 2. März, als die Regierung eine
Grossoffensive Richtung Tikrit einleitete, die Aufmerksamkeit der
Beobachter gefesselt. Es gab Spekulationen darüber, ob "nach Tikrit"
eine Offensive Richtung Mosul beginnen könnte, möglicherweise noch
diesen Frühling. Doch in Tikrit wurde sehr sichtbar, dass die
irakischen Schiitenmilizen kaum in der Lage sind, mit der offiziellen
irakischen Armee zusammenzuarbeiten. Diese Milizen sind heute
zusammengefasst unter dem Gesamtnamen "Volksmobilisation". Die
Volksmobilisation ist jedoch aus Milizen zusammengesetzt, die als
gesonderte Einzelmilizen weiterhin unter ihren bisherigen eigenen
Kommandanten stehen.
Die irakische Armee leidet weiterhin unter dem Stigma der
ruhmlosen Niederlage durch IS vom vergangenen Sommer. Die Milizen
verachten sie. Doch die Milizen selbst sind nicht genügend
ausgebildet, um einen Nahkampf in den Städten zu führen, während die
IS Kämpfer und ihre Verbündeten sunnitischen Freunde und Zwangsfreunde sich in den Stadtzentren mit Bombenfallen und Heckenschützen befestigt haben und ihre Positionen offensichtlich zu halten vermögen. Dies gilt nicht nur für Tikrit sondern auch für Falluja und Ramadi, die Städte am Euphrat, nicht sehr weit von Bagdad entfernt, die IS und Konsorten schon im Januar 2014, ein halbes Jahr vor Mosul, eroberten und teilweise besetzten. Die irakische Armee hält seither die Städte "umzingelt", und beschiesst sie von aussen. Doch sie hat sie nie
einnehmen und reinigen können. Die Gefahr besteht, dass die "grosse
Tikrit Offensive" ebenso enden könnte.
Man kann einen Vergleich mit Kobane ziehen. Diese kurdische Stadt an
der türkischen Grenze wurde ebenfalls von IS erobert und dann zäh
gehalten. Doch der entscheidende Unterschied war, dass die kurdischen
Kämpfer ebenso zähen Widerstand leisteten, stets einen Fuss in der
Stadt hielten und dann nach dem Einsetzen der amerikanischen
Luftschläge ihren Machtbereich langsam über die ganze Stadt, genauer
über deren Ruinen, ausdehnen konnten.
Heute ist Kobane strategisch unwichtig geworden, weil IS weiterhin
östlich und westlich der Stadt das Gelände und die Dörfer beherrscht.
Kleinkämpfe spielen sich darum ab, welche der Dörfer die Kurden
befreien und welche die IS Terroristen weiter beherrschen. Doch für
die kurdischen Kämpfer ist es wichtiger, dem Druck von IS in dem
zusammenhängenden und weitgehend kurdophonen Gebiet am nordöstlichen Zipfel Syriens mit den Städten Membij und Hassake zu widerstehen, als die Dörfer in der Enklave von Kobane freizukämpfen.
Anbar, die offene Flanke von Bagdad
Was die Aussichten auf einen Vormarsch nach Mosul angeht, ist nun nach dem Stillstand der Tikrit-Offensive kaum mehr die Rede davon. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt vielmehr die entscheidende politische Frage, ob es der Regierung Haidar al-Abadis gelingt, die sunnitischen Bevölkerungsteile in den Kampf gegen IS einzubeziehen. Die Mentalität der schiitischen Milizen und ihrer Anführer, die auch in Parlament und Regierung als starke Kräfte vertreten sind, bildet das grösste Hindernis für dieses Unterfangen.
Diese Mentalität hat sich mehrmals dahin ausgewirkt, dass die Milizen in von ihnen eroberten sunnitischen Ortschaften durch Plünderungen, Brandschatzungen und Massaker "Rache
übten" für die angeblichen Sympathien, welche die Einwohner dem IS
entgegengebracht hätten, als dessen Kämpfer dort die Besetzugsmacht
stellten. Manche der betroffenen sunnitischen Vertriebenen sagen nun,
unter IS sei es ihnen besser gegangen als unter der "schiitischen"
Regierungsmacht.
Die strategische Bedeutung der Sympathien oder Antipathien der
sunnitischen Bevölkerungsteile wird deutlich, wenn man die
Wüstenprovinz Anbar betrachtet. Sie ist von sunnitischen Stämmen
bewohnt, und einige von ihnen arbeiten mit IS zusammen. Gegen andere hat IS Untaten verübt, weil sie als regierungsfreundlich gelten. Anbar grenzt westlich eng an Bagdad an und erstreckt sich südwestlich weit über Bagdad hinaus. Südlich von Bagdad lehnt sich die Wüstenprovinz an die schiitischen Südprovinzen an. Solange IS in diesen Wüsten Bewegungsfreiheit bewahren kann, weil grosse Teile der Stämme sie IS gewähren, sind die dicht bewohnten und bebauten Landesteile des schiitischen Südens und Auch die Hauptstadt Bagdad mit ihren Aussenquartieren immer möglichen Eingriffen und Überfällen aus der westlichen Flanke ausgesetzt.
Bagdad bleibt in diesem Fall darauf angewiesen, sich westlich und
südlich der Hauptstadt zu verteidigen, während es versucht nach Norden hin, Richtung Mosul, voranzukommen. Solange es der Regierung nicht gelingt, das Vertrauen ihrer sunnitischen Bevölkerung
zurückzugewinnen, steht es schlecht um die Aussichten einer
"Wiedervereinigung" des Iraks und der Aussschaltung von IS.
III Libyen, zwei Regierungen plus Jihadisten
In Libyen gibt es drei ungleiche Formationen, die gegeneinander
ringen: die Regierung von Tripolis mit ihren Milizen (genauer gesagt
in der Hand ihrer Milizen); jene von Tobruk in der Hand er Ihrigen,
die sie eine "Armee" nennt; und als dritte Kraft die bewaffneten
islamistischen Extremisten, die sich teilweise als zu IS gehörend
erklärt haben.
Diese dritte Kraft besitzt kein eigenes Territorium. Sie bewegt sich
im Machtvakuum, das zwischen den beiden feindlichen Regierungen liegt, ungefähr im Raum zwischen Bengasi und Sirte, ohne diesen Wüstenraum und seine Bewohner voll zu beherrschen. Dies ist auch der Raum, den die Erdöl und Erdgasleitungen durchqueren, die aus den Tiefen der libyschen Wüste an die Küste zu den wichtigen Ladehäfen von Sidra und Ras Lanouf führen. Von dort wurde in früheren Zeiten fast zwei Drittel des libyschen Erdöls exportiert.
Die beiden rivalisierenden Regierungen versuchen dieser an der Grossen Syrte, wie die dortige Meeresbucht heisst, gelegenen Mittelregion zwischen Tripolitanien und Cyreneika Herr zu werden. Dies ist für Tobruk schwieriger als für die "Fajr" (Morgenröte) genannte
Milizenverbindung von Tripolis, weil die Stadt Bengasi für Tobruk
einen Riegel bildet, während Tripolis praktisch freien Zugang zu der
Mittelregion besitzt. Bengasi ist seit über einem Jahr umkämpft
zwischen der jihadistischen Miliz der Ansar al-Scharia und der "Armee"
von Tobruk, die von General Haftar kommandiert wird. Haftar hat Teile
der Stadt in Besitz genommen, doch andere leisten immernoch
Widerstand.
Milizenvorstösse aus Tripolis
Tripolis hat versucht, die Erdölhäfen des Zentrums zu besetzen. Dazu
hat die potenteste Miliz Tripolitaniens, jene der Stadt Misrata, eine
ihrer Brigaden, die sich die Dritte Kraft nennt, vor drei Monaten nach
Osten ausgesandt. Doch dort stiess sie auf Widerstand durch die
lokalen Kräfte von Ras Lanouf, kommandiert durch Ibrahim Jadhran,
einem Stammeschef, der für die Unabhängigkeit der Cyreneika eintritt.
Er vermochte die Kämpfer von Misrata aufzuhalten, und er verbündete
sich mit der Gegenseite von Tobruk, um von dorther Unterstützung zu
erhalten.
Die Streitmacht aus Misrata setzte sich fest in Bin Jawad, einem
Flecken westlich von Sidra, etwa 30 Km entfernt. Sie wollten von dort
aus Razzien gegen Sidra und Ras Lanuf durchführen. Doch grosse Kämpfe mit den Kräften Jadhrans fanden nicht statt.
Die provokativen Aktivitäten von IS in den Grenzgebieten zwischen den
Machtbereichen der beiden Regierungen, besonders die spektakuläre
Ermordung von 21 ägyptischen Kopten im vergangenen Februar,
veranlasste das "Morgenröte" Milizbündnis von Tripolis und seine
Regierung, eine zweite Brigade, ebenfalls aus Misrata, nach Osten zu
senden. Dies ist Brigade 116, die den Auftrag erhielt, die Stadt Sirte
zu besetzen, in der IS durch periodische Inkursionen seine Waffenmacht zur Geltung brachte.
Die Annäherung dieser Brigade hatte zur Folge, dass IS seinerseits
Abwehrstellungen innerhalb der Stadt Sirte bezog, den Berichten nach in erster Linie auf dem Gelände der dortigen Universität und Radiostation sowie in anderen öffentlichen Gebäuden. Offenbar ist die Stadt zu
ausgedehnt als dass IS sie völlig besetzen könnte. Doch die
Abwehrpositionen von IS genügten, um die Brigade 116 daran zu hindern, nach Sirte vorzudringen. Auch diese Brigade bezog Positionen
ausserhalb ihres eigentlichen Kampfziels mit der Begründung, sie wolle
eigene Verluste durch Heckenschützen von IS vermeiden und die Stadt Sirte nicht zu sehr schädigen.
Wie Condottieri der Renaissance-Ära
Das Verhalten solcher Milizen gleicht dem der Condottieri der
Renaissance in Italien. Ihre Anführer sind primär daran interessiert,
ihre Waffenträger zu behalten, weil ihre eigene Machtstellung auf
ihnen beruht. Ein ihnen gesetztes Ziel anzugreifen, stellt ein Risiko
für sie da. Wenn ihre Waffenträger zu viele Verluste erleiden, bedeutet
das den Ruin der Machtposition ihrer Anführer. Deshalb geben sie der
Erhaltung ihrer Streitmacht erste Priorität, dem Erreichen von
Kriegszielen nur die zweite.
Am 28. März wurde gemeldet, die Miliz der Dritten Kraft verlasse Bin
Jawad und werde ihrerseits auch nach Sidra ziehen, um den dortigen
Kampf gegen IS zu unterstützen. Die Bewohner von Bin Jawad, die drei
Monate lang ausserhalb ihrer Stadt als Flüchtlinge lebten, kehrten
nach Hause zurück. Doch ihre Sprecher sagen, sie fürchteten, dass die
Kräfte von IS, die sich durch grosse Beweglichkeit auszeichnen, in
ihre Stadt einziehen würden, die ja nun nicht mehr von den Misrata
Kämpfern verteidigt wird.
Bewegungskrieg von IS
Die Beweglichkeit von IS - Lastwagen mit montierten Geschützen und
Maschinengewehren, die durch das Gelände pirschen - hat auch bewirkt, dass die IS Kämpfer in den Wüstenräumen südlich von Sirte, Sidra und Ras Lanouf, sowie auch im bergigen Gelände südlich von Bengasi, Petroleum- und Gasfelder angreifen konnten. Sie sollen ausländische und libysche Erdölarbeiter getötet und Ölquellen in Brand gesteckt haben. Die Regierung von Tobruk sah sich gezwungen in elf Ölfeldern den Sonderzustand zu erklären, weil nach den Verträgen dieser Notstand sie von ihren legalen Verpflichtungen gegenüber den Ölgesellschaften befreit. Ob die Verstärkung aus Bin Jawad, welche die 116 Brigade vor Sirte nun erhalten soll, dazu beitragen kann, den IS Schwadronen das Handwerk zu legen, bleibt abzuwarten.
Auch Tobruk bereit zum Kampf gegen IS
Auch die international anerkannte Regierung von Tobruk erklärt, sie
wolle gegen IS vorgehen. Ihr Aussenminister hat sogar vor der
ausländischen Presse den Rivalen aus Tripolis dazu gratuliert, dass
sie nun gegen IS einschritten. Doch Tripolis ist der Ansicht, die von
ihm bekämpften IS Einheiten seien in Wirklichkeit Amalgame aus
islamistischen Radikalen und ehemaligen Kämpfern Ghadhafis. Etwa so wie im Irak die IS Führer mit ehemaligen Offizieren der Armee Saddam Husseins zusammenarbeiten. Die Propaganda von Tripolis wirft auch Tobruk das gleiche vor, nämlich seine Armee und Regierung seien nichts anderes als "Ghaddafi-Kräfte", die versuchten eine neue Diktatur aufzurichten. General Haftar war in der Tat einst ein Waffengefährte Ghaddafis. Er war später allerdings über zwei Jahrzehnte hinweg einer seiner aktivsten Gegner. Der "Ghaddafi"- Vorwurf, den Tripolis gegenüber beiden, IS und Tobruk, erhebt, zeigt, dass es schwierig bis unmöglich sein wird, beide Rivalen-Regierungen zu einer effektiven Zusammenarbeit gegen IS zu veranlassen.
Luftangriffe aus Tobruk
In der Tat führt Tobruk weiterhin Luftkrieg gegen Tripolis. Dabei ist
Tobruk im Vorteil, weil es eine kleine, eigene Luftwaffe besitzt und
auch mit mehr oder weniger diskreter Hilfe durch die Luftwaffen
Ägyptens und der arabischen Emirate rechnen kann. Tripolis soll ein
einziges Kriegsflugzeug besitzen, das es aus den Überresten von
solchen, die auf dem Flughafen von Tripolis zerstört worden waren,
zusammengestückt haben soll. Damit, so wurde gemeldet, habe Tripolis einen Angriff auf den feindlichen Flughafen von Zintan durchgeführt.
Zintan liegt im Jebel Nufus, dem Berbergebiet nah an der tunesischen
Grenze. Die Zintan Milizen sind bittere Feinde des Morgenröte
Bündnisses von Tripolis, welches ihre Macht im vergangenen Sommer in langhingezogenen Kämpfen aus dem Flughafen von Tripolis vertrieb. Der Flugplatz ist seither unbrauchbar. Die Zintan Milizen, es gibt zwei
bekannte davon, die im äussersten Westen von Libyen stehen, sind
Verbündete von Tobruk, im äussersten Osten.
Die Luftwaffe von Tobruk versucht durch Angriffe auf die verbleibenden
Flughhäfen, die sich in der Gewalt von Tripolis befinden, die
Regierung von Tripolis aller Flugverbindungen zu berauben. Der
wichtigste Flugplatz, der als Ersatz für den zerstörten von Tripolis
dient, ist jener von Mitiga, 8 Km von Tripolis, der schon im Zweiten
Weltkrieg als Kriegsflughafen des Deutschen Reiches gedient hatte und
später von den Amerikanern als "Wheelus air base" ausgebaut wurde.
Kürzlich soll es Tobruk zum ersten Mal gelungen sein, eine Flugpiste
von Mitiga zu treffen und zu beschädigen. Auch der Flughafen von
Zawiya, an der Küste auf dem Weg zur tunesischen Grenze, wurde zum Ziel von einigen Angriffen aus Tobruk. Sie sollen auch Waffendepots der Tripolitanischen Milizen bombardiert haben.
IV Der Yemen-Krieg in der Anfangsphase
Der neue Krieg in Jemen hat erst begonnen. Er befindet sich im Stadium
von regelmässigen nächtlichen Luftangriffen der saudischen
Kriegsflugzeuge und der ihrer arabischen Verbündeten. Die Saudis
erklären, sie hätten 100 Jets bereitgestellt, sowie 150 000
Fusstruppen. Ziele der gegenwärtigen Angriffe sind in erster Linie die
Flughäfen, Militärbasen, schweren Waffen und Waffenlager der Huthis
und auch jener Teile der jemenitischen Armee, die mit den Huthis
zusammenarbeiten, weil Ex-Präsident Ali Abdullah Saleh, der immernoch grossen Einfluss auf die Armee ausübt, sie dazu veranlasst hat.
Diese Angriffe haben bis jetzt den Vormarsch der Huthi und pro-Saleh
Militärs auf Aden nicht zum Stehen gebracht. Die Angreifer stehen etwa
30 Km vor der Hafenstadt. Doch innerhalb Adens sind Kämpfe zwischen pro-Huthi und pro-Hadi Käften ausgebrochen. Abd Rabbo Mansur al-Hadi ist der international anerkannte jemenitische Präsident, der sich nun in Saudi Arabien aufhält und für den die Saudis eintreten. Der Flughafen von Aden hat mehrmals die Hände gewechselt. Zur Zeit sollen die Hadi-Anhänger ihn beherrschen.
Saudi Arabien hofft offenbar, dass die Luftangriffe die Huthis und
ihre militärischen Partner soweit lähmen, dass sie ihre offensive
Kriegsführung aufgeben müssen und schliesslich ihre Waffen "an den
Staat zurückgeben", wie der saudische Kriegsminister erklärte. In der
Praxis zerstören die Luftangriffe die gesamte militärische
Infrastruktur des Landes. Dadurch schädigen sie, mehr noch als die
Huthis, die jemenitischen Militärs - genauer die Mehrheit von ihnen,
nämlich den Teil, der den Weisungen des Ex-Präsidenten folgt. Die
Huthis sind in der Lage zum Guerilla Krieg zurückzukehren, aus dem sie hervorgingen. Die jemenitischen Militärs ohne ihre schweren Waffen, Automobile und Basen werden machtlos.
Der Ex-Präsident weiss offenbar um diese Gefahr für seine eigene
Machtposition. Er hat zu einem Waffenstillstand aufgerufen und
versprochen, wenn ein solcher zustande komme, wolle er selbst nicht
mehr für die Präsidentaschaft kandidieren. Von seinem Sohn Ahmed hat er dies allerdings nicht gesagt. Der Sohn und General, Ahmed Ali
Abdullah Saleh, hat seine offizielle Position als Botschafter Jemens
in den Arabischen Emiraten verloren. Hadi hat ihn abberufen, und die
Behörden von Abu Dhabi stimmten zu. Im Nachhinein ist zu erfahren,
dass Ahmed nur einmal, bei seiner Inauguration, in Abu Dhabi anwesend war. Den Rest der Zeit verbachte er in Sanaa mit seinem Vater.
Schon bevor die Bombardierungen begannen, soll Ali Abdullah Saleh
Kontakt mit Riad gesucht und den Saudis einen Ausgleich angeboten
haben. Doch damals erlangte er kein Gehör und er wird es auch in der
nächsten Zukunft schwerlich erlangen.
Einmarschdrohungen aus Riad
Falls die Luftangriffe nicht genügen sollten, um die Huthis zur
Kapitulation zu zwingen, schliessen die Saudis eine Truppenaktion zu
Lande und möglicherweise auch mit Landungstruppen zur See nicht aus. Sie haben bereits nach ihren eigenen Angaben eine Seeblockade der jementischen Häfen begonnen. Sie soll verhindern, dass den Huthis
Waffen aus Übersee, etwa aus dem befreundeten Iran, zukommen. Doch die Saudis wissen wohl, dass mit einer Landinvasion die Gefahr eines
langdauernden Guerillakrieges verbunden wäre.
Dieser würde den Iranern Gelegenheit bieten, unter der Hand einzugreifen und zu versuchen eine
Huthi Guerilla zu unterstützen, ohne selbst als offizielle Partei in
den Krieg eintreten zu müssen. Die Erfahrungen der ägyptischen Armee mit Jemen in den Jahren 1962 bis 1970 haben deutlich gezeigt, wie schwierig es für eine reguläre Armee ist, in dem zerklüfteten und
teilweise aus weiten Wüstengebieten bestehenden Land einen Krieg gegen die einheimischen Stämme zu führen, besonders natürlich wenn diese Unterstützung durch Aussenmächte erhalten.
Daher bleibt abzuwarten, ob die saudische Macht sich gezwungen sehen wird, in Jemen einzumarschieren, oder ob sie das fertig bringt, was im Irak die Amerikaner und ihre Verbündeten - wie sie selbst sagen - mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht zu erreichen vermögen, nämlich ihre Feinde durch reine Luftangriffe zu besiegen.
Wohin neigt die Armee?
Offen ist gegenwärtig auch die Frage, wie sich die wichtigsten Teile
der jemenitischen Armee zu dem Saudi-Eingriff stellen. Die Minderheit,
die zu Hadi hält, heisst ihn natürlich willkommen. Doch die Mehrheit
der Offiziere, die bisher auf die Weisungen des Ex-Präsidenten hörte,
steht vor der Wahl, sich von ihm und den Huthis loszusagen und dadurch ihre verbleibenden Waffen und ihre Position als die nationalen
Streitkräfte Jemens zu bewahren - oder aber soweit mit Waffen,
Mannschaften und Kriegsmaterial durch die Luftangriffe aufgerieben zu
werden, dass sie nur noch als Guerilla gemeinsam mit den Huthis
fortexistieren kann.
IS und AQAP profitieren
Über all dem gerät zurzeit in den Hintergrund, was vielleicht in der
Zukunft bestimmend werden könnte: in Jemen gibt es auch eine starke
Präsenz von al-Kaida Aktivisten, die unter der Bezeichnung AQAP gehen (Al-Qaeda on the Arabian Peninsula). Ihre Kämpfer sind in den Wüsten Zentraljemens eingewurzelt. In den letzten Jahren haben sie sich vor allem durch Attentate gegen die jemenitischen Sicherheitskräfte hervorgetan. Sie sind auch bittere Feinde der Huthis und haben viele von ihnen durch Bombenanschläge und in direkten Zusammenstössen getötet. Sie arbeiten bereits heute eng mit den sunnitischen Stämmen Zentraljemens zusammen, die ihrerseits als Sunniten die zaiditischen Huthis als Feinde einstufen.
Solange die Amerikaner im Lande weilten, haben sie in Zusammenarbeit mit der jemenitischen Armee Drohnen gegen AQAP eingesetzt und dabei oftmals Anführer der Islamisten getroffen, jedoch auch unschuldige Jemeniten der Dörfer und Siedlungen des Inneren. Doch in der vergangenen Woche haben die Amerikaner Jemen verlassen.
Neben und parallel zu AQAP scheint es auch bereits Jihadisten zu
geben, die es vorziehen sich als Anhänger von IS zu bezeichnen. Ob und wie weit ein Rivalenverhältnis zwischen ihnen und den Leuten von AQAP besteht, weiss man noch nicht. Sicher ist eines: Kämpfe und Chaos in Jemen werden beiden Gruppen, vereint oder konfrontiert, Nutzen bringen. Sie werden im Schatten der saudischen Kämpfe gegen die Huthis und des weiter zunehmenden Elends der ohnehin bitter armen Bevölkerung wachsen und prosperieren, indem sie weitere Macht und weitere Anhänger gewinnen. Sie könnten am Ende als der erfolgreiche Dritte aus dem saudisch-jemenitischen Krieg hervorgehen, der soeben begonnen hat.