Die Ähnlichkeiten mit Tunesien sind so frappant, dass man an Nachahmertaten denken kann. In Ägypten, in Algerien, in Jordanien gab es sogar Selbstverbrennungen nach dem Vorbild von Mohammed Bouazizi in Sidi Bouzid in Innertunesien, das dort die Erhebung ausgelöst hat. Der Brennstoff ist auch überall sehr ähnlich, beinahe der Gleiche. Überall gibt es eine Schicht von arbeitslosen, aber relativ gut ausgebildeten und mit der digitalen Welt vernetzten jungen Leuten. Dies sind die Aktivisten, die sich nun nach der tunesischen Revolution ausrichten. Sie wollen das Gleiche bei sich zu Hause auslösen.
Klientelelismus und die Machenschaften der Herrscher
Sie kämpfen gegen die jeweilige Herrschaft eines Einzelnen, gegen dessen eingebundene Familie und die Günstlingswirtschaft. Diese Herrscher haben Oligopole und teilweise sogar Monopole geschaffen. Damit machen sie einträgliche Geschäfte. Das sind fast immer Geschäfte mit der westlichen Welt oder mit den neu entwickelten Industriestaaten des Fernen Ostens, allen voran Japan und China. Dank der heutigen Geschwindigkeit der digitalen Geldgeschäfte und Geschäftsverbindungen, können solche vom Regime und seiner Bürokratie unterstützte Oligo- oder Monopolisten durch Manipulation der Preise und andere Manipulationen des Marktes sehr schnell sehr reich werden.
Doch ihr Reichtum geht auf Kosten einer über das ganze Land ausgebreiteten, mafiähnlichen und von einem offenen Markt ausgesperrten Nationalwirtschaft. Auch neue Ideen können sich in einem derartigen Staat, der Zensur übt und dessen Markt von staatlich privilegierten "Geld-Eliten" eingedämmt wird, nicht entwickeln oder, falls das doch geschieht, nicht durchsetzen.
Die Einmannherrscher haben sich alle daran gewöhnt, mit ihren schwerreichen Klienten und privilegierten Geschäftsleuten in einer Art Symbiose zusammen zu wirken: Sie fördern die Geschäfte der Monopolisten, dafür fliesst Geld - natürlich auch in ihre Privatschatullen. Dieser Komplex wird von den nicht Beteiligten als Korruption verstanden und angesprochen. Für die Beteiligten handelt es sich um seriöse Geschäfte - und so sehen es auch deren Partner im industrialisierten Ausland, Amerika, Europa und im Fernem Osten. Sie verkaufen ja legal ihre Ware. An welche vom Staat als legal erklärte Mafia sie geht, betrachten sie nicht als ihre Verantwortung.
Ägypten im Bann der Unruhen
Die jugendliche Opposition durchschaut diese Zusammenhänge vielleicht nur teilweise, doch sie bekommt sie voll zu spüren. Ihre Lage ist mit den Jahren und den gegenwärtig weltweit wachsenden Preisen für Grundnahrungsmittel für sie immer unerträglicher geworden. Die Unterschichten auf dem Land und in den Elendsvorstädten, die mit mit einem oder zwei Dollar im Tag ihre Familien ernähren müssen, spüren das Gleiche und sind daher neuerdings mobilisierbar geworden. Bisher waren sie das nicht oder viel weniger, weil sie sich in nationale und religiöse Solidarität eingebunden fühlten.
Gerade die armen Leute erbrachten Opfer für das Vaterland und für den Islam. Was das Vaterland sei und noch werden sollte, und was der Islam sei und zu sein habe, liess man sich bisher von den Mächtigen an der Spitze des Landes und von den geistlichen Hütern der Religion vorsagen. Hunger und Wut bewirken, dass diese Stimmen allmählich auch für die einfachen Leute unglaubwürdig werden, und dass die arbeitlosen Mittelschul- und Hochschulabsolventen beginnen bei ihnen Gehör zu finden.
All dies ist ein Teil der kombustiblen sozialen und politischen Mischung, die in Tunesien aufloderte und die nun die "Nachahmer" in anderen Ländern mit sehr ähnlichen Problemen auch dort zu entflammen suchen. In Ägypten ist es zur Zeit am heissesten, und die Möglichkeit, dass es auch dort zu einem Flächenbrand wie in Tunesien mit mehr oder weniger vergleichbaren Folgen kommt, scheint dort am ehesten zu bestehn. Aber noch ist es kein Flächenbrand. Die eindrücklichen Bilder von riesigen Massen von Demonstranten, die nun weltweit gezeigt werden, sind nicht als Beweis für einen Flächenbrand zu nehmen. In der 18-Millionen-Stadt Kairo laufen rasch mehr Demonstranten zusammen als in dem 10-Millonen-Land Tunesien. Das Land Ägypten hat über 70 Millionen Einwohner.
Wer hat die wirksamste "Feuerwehr"?
Hat Ägypten eine wirksame "Feuerwehr"? Kann diese einen Flächenbrand verhindern oder nicht? In Tunesien stellte es sich heraus, dass die einzige "Feuerwehr" aus der Polizei bestand. Sie war der landesweiten Ausbreitung der Prostete nicht gewachsen, ja sie steigerte sie durch scharfe Schüsse und Todesopfer. In Tunesien waren dies während der kritischen Tage vom 17. Dezember bis zum 14. Januar vorsichtig geschätzt 78, nach Schätzungen der internationalen Behörden sogar 100. Wenn in Ägypten die Demonstrationen ebenfalls einen knappen Monat andauerten und proportional vergleichbare Zahlen an Opfern anfielen, müsste man mit 780 Toten rechnen. Mit diesem Blutzoll käme das dortige Regime vielleicht ans Ende.
Es sind aber viele Unbekannte in der Rechnung. Welche Rolle würde die Armee im Falle des Versagens der Polizei spielen? Es ist keineswegs sicher, wohl sogar eher unwahrscheinlich, dass diese sich in der Art der tunesischen weigern könnte, auf die Ägypter zu schiessen. Viel hinge natürlich davon ab, wie genau sie eingesetzt würde, taktisch geschickt oder ungeschickt.
Doch soweit ist man noch lange nicht in Ägypten. Es sieht so aus, als ob die Organisatoren nun auf den kommenden Freitag hofften, wenn sich grosse Menschenmassen in den Moscheen zusammenfinden. Über "Twitter" haben sie schon einen Massenaufruf in die Wege geleitet. Doch inzwischen hat der Staat "Twitter“ und „Face Book“ abgeschaltet, auch das Internet. Traditionell ist das Hinausströmen aus den Moscheen nach dem Mittagsgebet vom Freitag die klassische Gelegenheit, um Volksdemonstrationen auszulösen. Doch diemal wird die Polizei massiv zur Stelle sein und darauf achten, dass sich keine Zusammenballungen von grösseren Menschenmengen an den Moscheeausgängen bilden können.
Die Rolle der Polizei
Die Polizei hat nach eigenen Angaben bisher gegen 700 Verhaftungen von Aktivisten in Kairo und Suez vorgenommen. Menschenrechtsorganisationen sprechen von gegen 1200. In der Stadt Suez wurden die Demonstranten ziemlich gewalttätig. Sie versuchten, Feuer an Regierungsgebäude zu legen. Es gab Tote und Verwundete. Bezeichnenderweise brachen die Demonstrationen beim Begräbnis der ersten Opfer neu aus, weil die Polizei einschritt und dieses öffentliche Begräbnis verhindern wollte.
In Kairo wird die "Feuerwehr" flexibler und wohl auch wirksamer eingesetzt. Es scheinen vor allen Geheimagenten in Zivil zu sein, die in grosser Zahl die Demonstrationen beobachten. Sie verhaften so viele Aktivisten wie sie können. Wahrscheinlich ist in der Hauptstadt das Netz der Geheimdienstler sehr viel dichter als in den Provinzstädten. Dort muss sich die Regierung auf die schwerere aber oft auch ungeschicktere Hand der uniformierten Polizei verlassen. - Für Ägypten bleibt zunächst abzuwarten, was der Freitag bringt, und dann die nächsten Tage.
Das Angebot von Muhammed al-Baradey, dem einstigen Chef der Atombehörde und Nobelpreisträger, die Bürde der Präsidentschaft von Husni Mubarak zu übernehmen, hat wohl heute noch keine praktische Bedeutung. Mubarak hat bisher keinerlei Bereitschaft gezeigt, diese Bürde an andere abzutreten.
Jemen als ein weiterer Schauplatz
Demonstrationen gab es neuerdings auch im Jemen. Es sind offenbar in erster Linie die Studenten der Universität von Sanaa, die dem Vorbild von Tunis folgen möchten. Sie sind mit den Studenten in Deutschland von 1848 vergleichbar, die damals eine Revolution auslösen wollten, aber damit scheiterten. Jemen ist eine überaus komplexe und heterogene Gesellschaft, die eigentlich nur durch die Streitkräfte zusammengehalten wird.
Es gibt einen bewaffneten Aufstand der Zaiditen - ein jemenitische Form des Schiismus - im Norden, den sogenannten Houti Aufstand. Die Armee bekämpft ihn seit jahren, ohne seiner ganz Herr zu werden. Im Augenblick besteht im Norden ein Waffenstillstand. Dazu kommt ein Aufstand der Südjemeniten gegen die Zentralregierung. Die Leute des Südens - ihr Zentrum ist die Hafenstadt Aden - halten sich von der Zentrale in Sanaa für vernachlässigt, ja diskriminiert. Sie möchten einen eigenen Staat oder Bundesstaat erkämpfen.
In der zentralen Wüste des Landes, die zwischen Sanaa und dem Tal von Hadramaut mit seinen drei Städten liegt, gibt es zudem eine Ansammlung von unzufriedenen und bewaffneten Stammesleuten und gewalttätigen Islamisten, die sich als der Qaida zugehörig bezeichnen. In dieser Wüste dürfte es mehrere hunderttausend bewaffnete Beduinen geben. Manche halten zur Regierung, andere nicht und noch andere wechseln von der einen zur anderen Seite, je nachdem, wer wie viel zu bieten hat.
Die Ordnungsmacht im Jemen ist die Armee. Der langjährige Alleinherrscher, Ali Abdullah Saleh, ist ein ehemaliger Armeeoffizier. Die Armee scheint überfordert durch die drei Unruheherde. Dies ermutigt wohl die Städter, welche nach Tunis schauen, ihre Muskeln spielen zu lassen. Dass sie die Regierung schon gegenwärtig zu Fall bringen könnten, ist unwahrscheinlich. Dass das Land als ganzes mit Staatschef Ali Saleh Abdullah an der Spitze sich auf einer abfallenden Linie bewegt, die über die nächsten Jahre hinweg ins Chaos führen könnte, ist leider offensichtlich.
Präsident Ali Saleh Abdullah ist bisher der Einzige, der das Land Jemen zusammenzuhalten vermochte. Vor ihm gab es den Bürgerkrieg von 1962-1968, und danach eine darauf folgende Periode rascher Umstürze mit zwei Präsidentenmorden, mehreren Verfassungen und Regimewechseln, die von 1968 bis 1978 dauerte. Damals kam der jetzige Staatschef aus der Armee an die Macht. Die unruhigen Zeiten wiesen unter ihm von 1990-94 Nachspiele auf, bedingt durch den Anschluss des Südens und schliesslich den vom Norden gewonnen Krieg gegen den Süden Jemens. Ob es nach ihm noch jemanden geben wird, der das Land auch zusammenhalten kann, ist höchst ungewiss. Unter vielen anderen Gründen, weil im Jemen, wohl dem ärmsten aller arabischen Staaten, die kleinen Erdölvorräte des Landes zu Ende gehen, und sogar das Wasser immer knapper wird.
Der Zweivölkerstaat Jordanien
Zu Demonstrationen ist es auch im Königreich Jordanien und in der letzten Endes von der Armee beherrschten Republik Algerien gekommen. In Jordanien hat die Regierung unter dem Druck der Demonstranten die Subventionen für Brot und Öl und andere Grundlebensmittel, die sie hatte streichen wollen, rasch wieder eingeführt. Das scheint gewirkt zu haben. Das Problem ist, dass die Regierung das Geld nicht hat, um diese Subventionen zu finanzieren. Sie muss noch mehr Schulden machen und gleichzeitig versuchen, Subsidien in Saudi Arabien, in den USA, in anderen Erdölstaaten zu mobilisieren.
Jordanien ist ein heterogenes Land, in dem ein Flächenbrand schwer zu entfachen ist, weil es zwei stark rivalisierende Bevölkerungen gibt: die einheimischen Bewohner des Landes jenseits des Jordans und die von der westlichen Seite des Jordans nach Jordanien vertriebenen Palästinenser (die sogenannten Palästinaflüchtlinge). Die Jordanier gelten als königstreu, und sie spielen die Hauptrolle in Staat und Armee. Doch sie und ihr Staat sind arm. Unter den vielen im Elend lebenden Palästinensern gibt es einige Grossfamilien, die gute Geschäfte machen und viel rascher reich geworden sind als ihre jordanischen Mitbürger.
Der Hof ist darauf angewiesen zwischen der Geldquelle der aus Palästina vertriebenen und inzwischen in Jordanien reich gewordenen Geld-Aristokratie sowie den Aktivitäten anderer zugewanderter Geschäftsleute zu lavieren. So gibt es zum Beispiel aus dem Irak oder aus Libanon Geschäftsleute, aus deren Gewinnen dem Königshaus mitsamt den Geld fordernden Kreisen der transjordanischen Loyalisten Anteile zufliessen.
Die Lage verschärft sich, je mehr Transjordanier es gibt, die nicht mehr von den staatlichen Geldern leben können und die daher der unzufriedenen Jugend Gehör schenken, welche ihrerseits auf Tunesien blickt. Diese Jugend kann heute aus beiden Lagern kommen, dem jordanischen und dem palästinensischen. Doch die Flammen schlagen noch nicht so hoch, dass das königliche Regime gefährdet wäre. Der König verfügt immer eine Regierung, die er entlassen kann, wenn die Bevölkerung dies allzu laut und energisch fordert. Er selbst steht - noch ? - nicht in der Schusslinie der Demonstranten.
Algerien, Ölgeld in der Hand der Armee
In Algerien steht es ähnlich. Der Staat hat auf die Streichung der Subventionen für Grundnahrungsmittel verzichtet und dadurch die nur örtlich ausgebrochenen Protestdemonstrationen zunächst beschwichtigen können. Algerien hat den Vorteil, dass viel Geld in der Staatskasse liegt. Erdölgeld natürlich. Die hinter der zivilen Regierung stehenden Offiziere geben es lieber für sich selbst und für ihre Armee aus. Doch wenn es sein muss, erlauben sie auch Präsident Bouteflika, ein bischen davon zur Beruhigung der darbenden und aufsässigen Bevölkerung zu verwenden. - Was die Bevölkerung angeht, so weiss sie, im Falle von Unruhen wird sie es mit einer Armee zu tun haben, die ähnlich brutal gegen die Unruhestifter und die gesamte Bevölkerung, Schuldige oder Unschuldige, vorgehen wird, wie sie es zur Zeit des Bürgerkrieges gegen die Islamisten in den frühen 90er Jahren tat. Das möchte sie nicht noch einmal erleben.
Die Absetzung der Machthaber ist nur ein erster Schritt
Anzumerken ist noch: Wie man heute in Tunesien sehen kann, mit der Absetzung der gegenwärtigen Einmannregime und ihrer korrupten Anhänger (soweit man diese wirklich erwischen kann) ist eine Demokratie noch nicht erreicht. Dann wird erst die Frage nach dem Übergang zu einem demokratischen Regime akut. Ob dieser gelingt oder nicht, könnte auch in einem jeden Lande unterschiedlich sein. Man kann höchstens spekulieren: in Ägypten wäre er schwierig; in Jemen fast unmöglich; in Jordanien chaotisch, weil die Spannungen zwischen den beiden Bevölkerungsteilen zuerst ausgetragen werden müssten; in Algerien noch einmal bürgerkriegsähnlich.
Was die Rolle der Islamisten angeht, kann man sicher aussagen, sämtliche Einmannregime haben bisher versucht, ihre Islamisten als gefährlicher darzustellen, denn sie wirklich waren. Weil sie auf diesem Wege die Zustimmung und Mithilfe der Amerikaner und Europäer bei allem was sie taten, um ihre Bevölkerung niederzuhalten, erreichen konnten. Die Islamisten, soweit es sie überhaupt noch gibt, sind an an den gegenwärtigen Protestaktionen nur am Rande beteiligt. Einzelne Individuen machen bestimmt mit, zusammen mit dem Rest der Bevölkerung.
Doch die Führungen halten sich zurück. Die überlebenden Islamisten wären zu grossen Teilen wahrscheinlich heute bereit, als demokratische Kräfte in demokratische Regierungen einzutreten - falls solche zustande kommen. Wenn aber nicht und wenn stattdessen Chaos ausbricht, haben die radikalen, heute marginalisierten Flügel der islamistischen Bewegung eine gute Chance schrittweise wieder hochzukommen und den Gang der Dinge entscheidend mitzubestimmen, so etwa wie in Somalia die dortigen islamistischen "Schabab" (was "junge Leute" bedeutet, aber "junge Leute mit Maschinenpistolen" meint).
Zur Zeit kocht es auch in Libanon und unter den Palästinensern der westjordanischen quasi Staatsführung. Doch diese beiden sind Sonderfälle und dazu noch so kompliziert, dass sie gesonderte Analysen beanspruchen.