Präsident Macron und seiner neuen Regierung stehen ungemütliche Wochen bevor. Angesichts von Energiekrise, Inflation und Macrons Festhalten an seinen Reformplänen sind massive Unmutsäusserungen der Franzosen so gut wie gewiss. Ein Stimmungsbild.
Nach drei Wochen Urlaub ist Präsident Macron Ende August wieder ins politische Alltagsgeschäft eingetaucht, nach einem Urlaub auf dem Feriensitz der französischen Präsidenten, dem «Fort Brégançon» unweit von Saint-Tropez. Fast gezwungenermassen muss ein französischer Präsident heute seine Ferien dort verbringen, alles andere – wie einst die Luxusferien Sarkozys in den USA oder die von Chirac in Marokko oder auf den Malediven – würde inzwischen von der öffentlichen Meinung als völlig unangemessen verurteilt werden.
Macron gab sich in den drei Wochen am Mittelmeer äusserst diskret, lies sich nur einmal von den Paparazzi eines Klatschblattes beim Wasserskifahren ablichten, sparte mit Äusserungen in den sozialen Netzwerken und mit Auftritten in der Umgebung seiner streng bewachten Trutzburg hoch über dem Strand.
Bei einer kurzen Ansprache jedoch, noch an seinem Urlaubsort, machte er deutlich, dass er angesichts des explosiven Gemischs von Themen, die die Agenda der kommenden Monate bestimmen werden – schwindende Kaufkraft, Energieversorgung, die angestrebten Reformen der Arbeitslosenversicherung und des Rentensystems – sich durchaus bewusst ist, dass diese politische Rentrée für ihn alles andere als ein Zuckerschlecken werden dürfte. In diesem Urlaubsstatement forderte er von den Franzosen Anstrengungen und, angesichts der Krisen und Umwälzungen vor denen man stehe, zu akzeptieren, «den Preis der Freiheit bezahlen zu müssen».
Vergeigt
Am Mittwoch vor zwei Wochen war der Präsident dann wieder im Elyséepalast und rief zum ersten Ministerrat nach den Sommerferien. Und um zu zeigen, dass die Lage ernst ist, die kommenden Monate schwierig werden und er etwas sehr Wichtiges zu verkünden hat, liess Macron – was absolut ungewöhnlich ist – seine Ansprache an die versammelten Minister von Kameras filmen.
Die Botschaft an die Franzosen: Es stehen schwere Zeiten bevor, Opfer müssen gebracht werden. In diesem Zusammenhang liess er dann wieder einmal – als hätte er einfach nichts dazu gelernt oder als gefalle er sich eben in der Pose des Provokateurs – eine Äusserung fallen, die ihm für den Rest seiner zweiten Amtszeit anhaften wird.
Es war eine dieser mehr als unglücklichen Bemerkungen, wie er sie in seiner ersten Amtszeit schon ein Dutzend Mal gemacht hatte und die ihm den Ruf eingetragen haben, arrogant und abgehoben zu sein oder vom Alltagsleben der Franzosen schlicht keine Ahnung zu haben.
«Die Zeiten des Überflusses und der Sorglosigkeit sind vorbei», schrieb der Präsident seinen Ministern bei dieser im Fernsehen übertragenen Kabinettssitzung ins Notizbuch.
Überfluss
Überfluss, bei neun Millionen Armen im Land und weiteren Millionen, die angesichts der Inflation – auch wenn diese mit 6 Prozent niedriger liegt als in vielen Nachbarländern – den Gürtel enger schnallen müssen? Überfluss, wenn gerade mal die Hälfte der Franzosen diesen Sommer in Urlaub fahren konnte und ihn häufig nur verkürzt und in der Nähe genommen hat?
Überfluss, wenn Suppenküchen und alle Hilfsvereine immer grösseren Zulauf melden, und das nicht nur im Winter?
Mit diesem Wort Überfluss hat Macron ausserdem seinen politischen Gegnern ein perfektes Stichwort geliefert. Denn auch in Frankreich tobt die Diskussion über die Profite und ausgeschüttete Dividenden der Grossunternehmen während des Ukrainekriegs. Dort herrsche der schamlose Überfluss, gaben Opposition und Kommentatoren Macron zu bedenken, der zudem von einer Übergewinnsteuer in Frankreich nichts wissen will.
Sorglosigkeit
Und dann vor allem das Wort Sorglosigkeit. Angesichts eines Sommers, in dem das Land vertrocknete und verbrannte, die ohnehin geplagten Landwirte mindestens ein Drittel weniger, wenn nicht überhaupt nichts ernten werden? Wenn landesweit hunderte Kommunen kein Trinkwasser mehr haben?
Sorglosigkeit, wenn Unwetter und Stürme, wie etwa in Korsika, ganze Landstriche ruiniert haben? Sorglosigkeit angesichts weit verbreiteter Ängste? Sei es, wie man über den nächsten Winter kommt oder wie tief die Wirtschaft einbricht, welche weiteren Auswirkungen der Ukrainekrieg haben wird und wie man der Klimakrise beikommen wird, gerade nach diesem historischen Sommer, wo Millionen Franzosen an ihren Urlaubsorten die Auswirkungen der Klimakrise hautnah erlebt haben.
Mit zwei Begriffen hat der Präsident, der einfach so tut, als hätte er im Parlament, wie in den letzten fünf Jahren, immer noch die absolute Mehrheit, seinen Wiedereinstieg ins politische Alltagsgeschäft gründlich verhunzt. Ja, man sagt sich, hätte Macron eine zweite Gelbwestenbewegung in diesem Herbst heraufbeschwören wollen, hätte er keine bessere Wortwahl treffen können. Worte, die für Abermillionen Unterprivilegierte in diesem Land schlicht ein Affront sind.
Andere Baustellen
Macron wird sich darüber hinaus in den kommenden Wochen mit einer ganzen Reihe von weiteren und sehr heiklen Themen konfrontiert sehen.
Frankreichs Gesundheitswesen zum Beispiel ist auch ohne akute Covidkrise nur eher schlecht als recht über den Sommer gekommen. Dutzende Notaufnahmen in der Provinz mussten über die Nacht schliessen. Den Krankenhäusern fehlen weiterhin zehntausende Krankenschwestern, und zu allem Übel wollen sich auch immer weniger für diesen Beruf ausbilden lassen. Ganz zu schweigen vom Ärztemangel in der Provinz! Immer mehr Landstriche Frankreichs bezeichnen sich als «medizinische Wüste».
Keine Lehrer, keine Busfahrer
Manchmal darf man inzwischen den Eindruck haben, dass unter allen öffentlichen Einrichtungen Frankreichs kaum ein Sektor mehr richtig funktioniert, so etwa auch die Schulen.
Als an diesem 1. September landesweit der Lehrbetrieb wieder aufgenommen wurde, war klar, dass zwei Probleme das kommende Schuljahr über nicht zu lösen sein werden.
Zum einen hat der Lehrerberuf in diesem Land in den letzten Jahren gewaltig an Attraktivität verloren. Die Tatsache, dass die geringen Gehälter französischer Lehrer trotz aller Diskussionen und Proteste der letzten Jahre nicht substantiell erhöht wurden, ist wohl der wichtigste Grund für das Fehlen von tausenden Lehrern nach diesen Sommerferien. Ein frisch Verbeamteter an einer Mittelschule oder am Gymnasium verdient in Frankreich gerade mal 1550 Euro netto und zehn Jahre später werden es gerade mal 2000 Euro sein.
Die Folge: Bei den obligatorischen landesweiten Wettbewerben für Lehramtsanwärter gab es jüngst erstmals weniger Kandidaten als zu besetzende Stellen, vor allem in Mathematik. Die Folge davon: Schulen und Erziehungsministerium gehen sogar über soziale Netzwerke auf Jagd nach Vertragslehrern und Quereinsteigern, die über Nacht, ohne jede pädagogische Qualifikation – in Frankreich auch normalerweise schon auf ein striktes Minimum reduziert – den Klassen zum Frass vorgeworfen werden. Ja, viele sollen als Lückenbüsser gar Fächer unterrichten, von denen sie keine grosse Ahnung haben.
Das zweite unlösbare Problem: In diesem extrem zersiedelten Land ist der Schultransport zu Mittelschulen und Gymnasien auch so schon ein ständiges Kopfzerbrechen. Jetzt aber fehlen plötzlich landesweit 20’000 Busfahrer und rund eine halbe Million Schüler wissen nicht, wie sie in den nächsten Wochen und Monaten zur Schule kommen werden.
Jupiter macht weiter
Wie gesagt: Macron tut im Moment einfach so, als wäre die fehlende absolute Mehrheit im Parlament kein Problem für ihn und seine Vorhaben und als könnte er auch die nächsten fünf Jahre so agieren wie in der vergangenen Amtszeit, nach dem Motto: Ich weiss, wo es langgeht, und letztlich entscheide ich alleine.
Erstes Beispiel: Im französischen Gestrüpp der Institutionen gibt es einen Verteidigungsrat (Conseil de défense), den der Präsident einberufen kann und der sich bisher aus einer Reihe von Ministern und hochkarätigen Militärs zusammensetzte und nur einberufen wurde bei internationalen Krisen, bei denen Frankreichs Streitkräfte gefragt waren.
Doch dann, im März 2020, hat Präsident Macron dieses eher martialische Instrument für die Covidkrise umfunktioniert. «Conseil de défense sur le Covid» hiess es plötzlich und mancher fragte sich, was das mit der Verteidigung und der Armee zu tun hat. Gewiss, Macron hatte erklärt, man befinde sich im Krieg gegen das Virus. Aber brauchte es wirklich einen Verteidigungsrat, um gegen die Pandemie anzukämpfen? Einen Verteidungsrat, dessen Beschlüsse nur bedingt veröffentlicht werden und zum Teil der Geheimhaltung unterliegen?
Doch Macron, der sich als Krisenmanager gefällt, macht auch jetzt im selben Sinne weiter. Letzten Freitag berief er einen Verteidigungsrat zum Thema «drohende Enegriekrise und schwindende Kaufkraft» ein. Dagegen hagelte es inzwischen von einer wiedererstarkten Opposition ordentlich Kritik mit dem Argument, auch dies seien schliesslich Themen, die man öffentlich und konträr und nicht hinter verschlossenen Türen ganz oben im Olymp diskutieren müsse.
Zweites Beispiel: Macron hat sich, um die gegenwärtige Spannung aus der Luft zu nehmen und so etwas wie partizipative Demokratie vorzugaukeln, die Einrichtung eines «Nationalen Rates der Neugründung» einfallen lassen. Auf Französisch: «Conseil National de la Refondation», abgekürzt CNR.
Doch dieses Kürzel ist in Frankreich schon seit Kriegsdende besetzt und zwar sehr positiv. Der «Conseil National de la Résistance» (CNR) hatte noch vor Kriegsende das Wunder vollbracht, für die Nachkriegszeit ein hoch angesehenes Sozial- und Wirtschaftsprogramm auszuarbeiten und dann auch umzusetzen, welches über Jahrzehnte hinweg das Fundament der französischen Nachkriegsgesellschaft sein sollte.
Der «Nationale Rat der Neugründung», der diesen Freitag erstmals zusammentreten wird und sich im Prinzip aus Vertretern aller Parteien, der Gewerkschaften, von NGOs und Mitgliedern der Zivilgesellschaft zusammensetzen sollte, um über die grossen Zukunftsthemen zu beraten, scheint ein totgeborenes Kind zu sein. Sämtliche Oppositionsparteien, einige Gewerkschaften und mehrere Nichtregierungsorganisationen haben sofort abgewunken. Der Hauptgrund dafür: Die Franzosen haben mit derartigen ad hoc geschaffenen Beratungsgremien während Macrons erster Amtszeit bereits reichlich Erfahrungen gesammelt. Erfahrungen, die am Ende vor allem Frustrationen zurückliessen.
Nach der Gelbwestenbewegung hatte Macron zur Befriedung der Stimmung die «Grosse Debatte» ins Leben gerufen, in deren Rahmen er wochenlang durchs Land zog und ohne Sakko und mit aufgekrempelten Ärmeln oft stundenlang mit einem mehr oder weniger ausgewählten Publikum diskutierte und vorgab, der dort vorgebrachten Kritik in Zukunft Rechnung tragen zu wollen. Passiert ist hinterher so gut wie gar nichts.
Und dann der Bürgerkonvent zum Thema Klima. 150 interessierte Personen waren ausgelost worden und hatten in verschiedensten Arbeitsgruppen ein ganzes Jahr lang an Vorschlägen zum Klimaschutz gearbeitet, die in ein Klimaschutzgesetz einfliessen sollten. Ganze 18 davon sind von Macron und der Regierung übernommen worden. Die Teilnehmer an diesem Konvent fühlten sich übergangen und sparten nicht mit heftiger Kritik. Macrons kaltschnäuzige Reaktion: «Nur weil 150 Bürger etwas aufschreiben, ist das für mich nicht die Bibel oder der Koran.»
Kein Wunder, dass nun gegenüber dem «Nationalen Rat der Neugründung», den sich Macron ausgedacht hat, eine gehörige Portion Skepsis besteht und bei dessen erstem Zusammentreten an diesem Freitag die Hälfte der potentiellen Teilnehmer fehlen werden.
Wohin steuert Macron?
Eine untergründige Verunsicherung und beachtliches Misstrauen geistert durch das zwiegespaltene Land. Da ist auf der einen Seite die sich verschärfende Angst vor noch grösserer sozialer Not durch galoppierende Energiepreise und allgemeine Preisanstiege und auf der anderen Seite eine gewisse Angst der Privilegierteren, die die Inflation leichter wegstecken können, vor sozialen Unruhen und Gewaltausbrüchen
Bei all dieser Verunsicherung und Nervosität, die im Land umgeht, war Macron, der vor der Präsidentschaftswahl praktisch keinen Wahlkampf geführt hat, bis heute nicht in der Lage, eine Art Linie für seine zweite Amtszeit vorzugeben. Alles riecht nach Stückwerk und angesichts des Fehlens einer klaren Mehrheit im Parlament wird sich der Präsident bestenfalls auch nur Stück für Stück bewegen können, jedes Mal auf der Suche nach einer neuen Mehrheit, die er im Grunde aber bestenfalls mit Hilfe der konservativen Abgeordneten der ehemaligen Sarkozypartei «Les Républicains» finden kann. Von einem grossen Wurf oder klaren Perspektiven kann keine Rede sein. Kein Wunder, dass der angeschlagene Präsident angesichts dessen offensichtlich nicht in der Lage ist, den Franzosen, die überhaupt noch auf ihn hören, klar zu sagen, wohin er das Land im Lauf seiner zweiten Amtszeit führen möchte.