Warum braucht der Mensch Abstand vom Alltäglichen, Distanz zum Hektischen des Alltags? Warum Auszeiten? Darauf hatten schon antike Dichter eine Antwort. Auch beim Evangelisten Johannes finden wir sie. Eine kleine Nachlese aus aktuellem Anlass.
Nun sind sie gekommen, die kostbarsten Wochen des Jahres, wie ein Neckermann-Katalog die Ferientage einst euphorisch bezeichnet hat. Nun brechen die Leute wieder auf – als Singles und als Paare, im Familienverband oder in Cliquen, in Jugend- und Freundesgruppen. Unzählige sind unterwegs, zu Fuss, mit dem Velo oder dem Auto, mit der Eisenbahn oder im Flugzeug. Bald verstreut rund um den Globus. Ganz nach dem Motto: «Schön ist es auch anderswo, hier bin ich ja sowieso.»
Im Spannungsfeld von Negotium und Otium, von Arbeit und Musse
Der vom Stundenplan und vom Arbeitsablauf diktierte Rhythmus des Tages ist aufgehoben, der getaktete Alltag fällt weg, der Zeitdruck verflüchtigt sich. Angesagt ist Ausatmen, Durchatmen, erwartungsvoll erhofft das Gegenteil des Alltäglichen und Gewöhnlichen. Ausspannen, abschalten, anderes tun, so lautet die Devise. Gesucht ist das Konträre, vielleicht sogar als Korrektiv – weil es als Komplementäres im Alltag vielfach zu kurz kommt.
Es gibt sie zu allen Zeiten und in allen Kulturen, die Geschichten und Metaphern zum Dialektischen unseres Lebens, zur Anspannung und Entspannung, zur Konzentration und zum Loslassen, zum Einatmen und Ausatmen. Es sind Gedanken zum existenziellen Spannungsfeld von Negotium und Otium, von Arbeit und Musse, von Engagement und Rückzug.
Den Bogen spannt man nur, wenn man ihn braucht
Man muss ja nicht zwingend ein Ferien-Freak sein, um zu wissen: Das Leben besteht daraus, sich anzustrengen und sich zu erholen, sich einzugeben und sich zurückzunehmen. Und beides sollte im Gleichgewicht sein.
Bereits der griechische Geschichtsschreiber Herodot aus dem 5. vorchristlichen Jahrhundert verweist auf dieses Wechselspiel. Der ägyptische Pharao Amasis (570 bis 526 v. Chr.) macht nach getaner Arbeit gerne etwas anderes: Er verlustiert sich, scherzt und zecht. Seine Freunde tadeln ihn und verurteilen sein Faible fürs Fröhliche und Vergnügte. Das gehöre sich in dieser Position einfach nicht. Der König aber verteidigt sich: «Den Bogen spannt man nur, wenn man ihn braucht; hat man ihn benutzt, entspannt man ihn wieder. Hielte man ihn dauernd in Spannung, würde er zerbrechen; und wenn man ihn bräuchte, wäre er nutzlos», argumentiert der Pharao. So sei es auch beim Menschen, fährt er fort: «Wenn er immer nur ernst und fleissig ist und Scherz und Spass keinen Raum gönnt, dann wird er, ohne es zu merken, ganz toll oder völlig erschöpft. Weil ich das weiss, lasse ich jedem seinen Teil zukommen.»[1]
Sich Ruhe gönnen, um denkfrisch zu bleiben
Eine ähnliche Geschichte stammt vom römischen Fabeldichter Phaedrus aus dem ersten Jahrhundert nach Christus. Er erzählt, wie der griechische Dichter Aesop vergnügt mit Nüssen spielt – inmitten einer Schar junger Knaben. Ein Athener Bürger belächelt das verspielte Tun mit Kindern. Aesop bemerkt das verächtliche Gehabe; er legt einen entspannten Bogen mitten auf die Strasse. Zum Athener gewandt, meint er: «Kluger Mann, erkläre uns, was ich gemacht habe!» Doch der Angesprochene erfasst den Kern der Frage nicht; er errötet und schweigt.
Darauf der weise Aesop: «Schnell wirst du den Bogen zerbrechen, wenn du ihn stets gespannt hast. Aber entspannst du ihn, wird er dir, wenn du willst, von Nutzen sein. So muss man auch dem Geist zuweilen Ruhe gönnen, damit denkfrisch er dir wiederkehrt.»[2]
Was den Einsatz meiner Kraft verlangt
Die alte Metapher des Bogens, von dem es schon in der Tragödie Antigone von Sophokles (497 bis 406 v. Chr.) heisst: «Den Bogen nicht zu sehr spannen!» Dieses Bild findet sich auch beim Evangelisten Johannes. Der Apostel, so die Legende, spielt gerne mit einem zahmen Rebhuhn.
Ein Jäger, der ihn aufsucht und ihn gedankenverloren spielen sieht, kann nicht verstehen, dass ein Mann seiner Qualität mit solch albernem Zeugs Zeit vergeudet. Warum er dies tue, will er vom Apostel wissen. Johannes wundert sich und fragt zurück: «Warum ist dein Bogen nicht gespannt?» «Weil er seine Spannkraft verlöre, wäre er immer gespannt. Wenn ich dann einen Pfeil abschiessen wollte, hätte er keine Kraft mehr», antwortet der Jäger. Und Johannes’ Schlussfolgerung: «Siehst du, so geht es mir auch. Wenn ich mich nicht von Zeit zu Zeit entspanne und einfach spiele, habe ich keine Kraft mehr für eine grosse Anspannung. Dann fehlt mir die Kraft, das zu tun, was notwendig ist und den ganzen Einsatz meiner Kraft verlangt.»[3]
Den Rhythmus von Ein- und Ausatmen finden
Das Geheimnis eines geglückten Lebens, vielleicht liegt es im Wechsel von Einatmen und Ausatmen, von Anspannen und Entspannen. Auf die Systole, die Kontraktionsphase des Herzmuskels, folgt die Diastole, seine Erschlaffung.[4] Ob Auszeit, ob Alltagspflicht, das Herz hat seinen Rhythmus.
Vielleicht haben viele im hektischen und ausgefüllten Berufsalltag gelernt, tief einzuatmen und in einem langen Ausatmen die Arbeitszeit durchzustehen. Die Balance wankt. Ausgelaugt und erschöpft gelangen manche an den Ferienanfang. Vielleicht müsste es darum gehen, den natürlichen Rhythmus von Ein- und Ausatmen in die freie Zeit wie in die Arbeitszeit hineinzutragen.
Die Kunst des richtigen Wechselspiels
Möglicherweise lehren uns das die drei Geschichten: zwischendurch Abstand gewinnen und regenerieren. Vielleicht liegt darin das andere, das wir in den Ferien suchen. Denn sich brav erholen, das sei – so der deutsche Dichter Viktor von Scheffel – eine tapfere Kunst. Vielleicht ist es die Kunst des richtigen Wechselspiels. Die Kunst, mit Nüssen zu spielen oder einem Rebhuhn.
[1] Zitiert nach: Kurt Steinmann: 50 kleine Texte. Willisau: Buchverlag Willisauer Bote o. J., S. 30.
[2] Ebda, S. 29f.
[3] Willi Hoffsümmer (Hg.): Kurzgeschichten II. 222 Kurzgeschichten für Gottesdienst, Schule und Gruppe. (1992), 8. Aufl. Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag, S. 193.
[4] Vgl. Frank Nager: Das Herz als Symbol. Basel: F. Hoffmann-La Roche AG, 1993.