Im Kern ging es bei dem Text des Inserats um den Appell an alle Bürger, sich doch – bitteschön – impfen zu lassen. Der hierzulande geborene und deshalb auch zu Recht in der deutschen Fussball-Nationalmannschaft kickende Emre Can markierte seine Bereitschaft dazu sogar auf Türkisch. Der Tenor war freilich umfänglicher. Er klang nach einem Aufruf an die gesamte Nation, doch nicht die von Corona-Ängsten und Zukunftssorgen beschwerten Köpfe hängen zu lassen, sondern jetzt, nach dem (hoffentlich!) Abklingen der Virus-Seuche, anzupacken und gemeinsam die wirtschaftlichen, körperlichen, mentalen und – ja sicherlich auch – seelischen Schäden zu beheben.
„Einer für alle, alle für einen“
Gemeinsam – das tönt wie ein Posaunenstoss. Das klingt nach Aufbruch, Mut, Solidarität, Zusammengehörigkeit. Das hört sich nach Alexandre Dumas und „Die drei Musketiere“ an, das erinnert an den Siegerländer Genossenschaftsgründer Friedrich Wilhelm Raiffeisen und den trotzigen Wahlspruch „Einer für alle, alle für einen“. Na gut, das ist vielleicht ein wenig dick aufgetragen, ein bisschen viel der Hoffnung in und Erwartung an uns und unser Gemeinschaftsgefühl. Aber dass ein gewisses kollektiv-positives Denken und Handeln wünschenswert und – vor allem – für die Stabilität der Gesellschaft von grossem Vorteil wäre, ist doch wohl kaum zu bezweifeln.
So zu träumen ist sicherlich schön. Aber mit der Realität hat es leider nichts zu tun. In Wirklichkeit zeigen sich nahezu überall in unserer Gesellschaft Risse und Auflösungserscheinungen. Traditionell suchen die Menschen doch Halt, möglicherweise auch Geborgenheit, nicht selten Trost, auf jeden Fall eine gewisse Sicherheit und notfalls auch Unterstützung in der Gemeinschaft mit anderen. Dafür standen bisher im täglichen Leben politische Parteien, im Bereich von Lohn und Brot die Gewerkschaften oder Arbeitgeber-Verbände, für Spass und körperliche Ertüchtigung die Sportvereine, für seelischen und geistlichen Beistand die Kirchen. Sie alle waren über lange Zeiten zugleich ein Stück gefühlter Heimat, setzten mit geschriebenen Statuten oder einfach nur durch ihr kollektives Miteinander zugleich automatisch Rahmen und Normen für das eigene Leben.
Die „Schuldigen“ sind überall
Dass diese heile Welt nicht mehr der Wirklichkeit entspricht, weiss man natürlich längst. Es ist also keineswegs eine Folge der seit rund zwei Jahren grassierende Corona-Pandemie. Die von dem Virus ausgelöste Seuche (besser gesagt: der Umgang mit dieser) hat aber viele dieser Risse gnadenlos offengelegt. Zum Beispiel die Schamlosigkeit, mit der sich sogar vom Volk gewählte Politiker – Bundestagsabgeordnete ebenso wie Landtagsmitglieder – in Zeiten knapper Schutzmasken bereicherten. Aber auf der anderen Seite auch jene mitbürgerlichen Betrüger jenseits des politischen Lagers, die mit falschen Angaben ordentlich staatliche Hilfsgelder für sich abzweigten.
Es hat, man sieht es, keinen Sinn, irgendeiner Seite besondere moralische Schuld zuzuweisen. Liegen solche und ähnliche Verfehlungen einfach nur im Wesen des Menschen oder am Lauf der Zeit samt ihren Möglichkeiten und Verführungen? Man sei „politikverdrossen“, hört und liest man allenthalben, sei des „Gezänks“ einfach „müde“. Abgesehen davon, dass diese Klage wirklich so alt ist wie die politische Existenz von Demokratien, ist sie im Grunde nichts anderes als das Eingeständnis eigener Trägheit. Klar, es ist nicht leicht, sich in einer Gesellschaft von höchst unterschiedlichen Interessen, weit auseinander driftenden Vorstellungen von Gerechtigkeit und dann auch noch unter dem unausweichlichen Zwang zu Kompromissen mit den eigenen Wertvorstellungen durchzusetzen. Aber so ist nun einmal die Basis eines wenigstens weitestgehend ausgeglichenen Zusammenlebens. Gegen Menschen zu pöbeln, welche die politischen Mühen nicht scheuen, ist dagegen eine Schande.
Alte Erfahrungen gegen junges Drängen
Ja sicher, wir sind (wenigstens die Älteren) in Deutschland (West) lange Zeit verwöhnt worden mit einem bequemen System von drei Parteien. Man wählte entweder bürgerlich CDU/CSU oder sozialdemokratisch SPD. Und dazu noch die liberalen Freidemokraten, die – sozusagen als Korrektiv – dafür sorgten, dass die „Grossen“ nicht übermütig wurden. Tempi passati – vergangene Zeiten. Für jüngere und junge Generationen zählen, logisch, alte Erfahrungen nicht. Dass erstmals in der europäischen Geschichte mehr als sieben Jahrzehnte kein Krieg tobte – na und? Ist doch normal! Für die „Grauköpfe“ ist es das eben nicht. Sondern eine unglaubliche Leistung und europäische Erfolgsgeschichte, an der man eigenes Denken und Handeln immer wieder messen müsste. Grenzenloses Reisen? Normal. Sicher. Gut, dass es so ist. Aber wie viele Jahrhunderte hat es gedauert, bis diese Normalität erreicht wurde!?
Nicht weniger Unverständnis herrscht bei vielen „Silberrücken“ über „die Jungen“. Etwa für die Zukunftsstürmer an den Freitagen. Kaum sonst irgendwo prallen die Gegensätzlichkeiten zwischen den Generationen so sehr zusammen wie beim Thema Klima. Natürlich existiert die einhellige Überzeugung, dass die Erde in Gefahr ist und wegen der Erwärmung dringend etwas unternommen werden müsse. Aber die Unerbittlichkeit und Absolutheit der „jungen“ Forderungen lässt die um wirtschaftliche Stabilität bangenden „Alten“ zurückzucken. Doch eine friedliche, funktionierende Gesellschaft braucht halt beides – das heftige Drängen nach vorn, und kluges Abwägen und Bewahren von Bewährtem.
Deutschland soll also die Ärmel hochkrempeln. Sagt und möchte die Bundesregierung. Wie aber soll ein Land, sollen seine Bürger kraftvoll und entschlossen zupacken, wenn sie in Wirklichkeit doch eher alles fürchten und infrage stellen? Jeden Tag ist von „Glaubwürdigkeit“ die Rede. Tatsächlich gibt es gegenwärtig kaum etwas von öffentlicher Bedeutung, das nicht kritisiert, angefeindet, oft genug gar zur Hölle gewünscht wird. Der (angeblich total versagende) Staat, die („ja nur in die eigene Tasche wirtschaftenden“) Parteien, die („längst überholten“) Gewerkschaften, die („lügende“ und „Merkel-hörige“) Presse, vor allem aber auch (wegen der Missbrauchsskandale) die Kirchen, denen die Mitglieder in Massen davonlaufen. Welche Folgen ein solcher Vertrauensverlust für ein demokratisches Land wie Deutschland hat, lässt sich allenfalls erahnen. Für eine Gesellschaft also, in der – verfassungsmässig geregelt – allein die Bürger über sich und die Zukunft der Gemeinschaft entscheiden.
Jagd auf Juden und Migranten
Angst, so heisst es, sei kein guter Ratgeber. Hinter dieser Erkenntnis steckt eine grosse Weisheit. Handelt danach aber auch eine Gesellschaft, die zu grossen Teilen geradezu im Zustand permanenter Angst lebt? Ein Volk, das zum Beispiel (gewiss, das ist schon lange her) zu Hunderttausenden auf dem Bonner Hofgarten mit Parolen wie „Totaler Überwachungsstaat“ und „Gläserner Mensch“ gegen einen Fragebogen demonstriert, in dem nach der Art der heimischen Heizung gefragt wird. Das aber mittlerweile in den so genannten sozialen Medien (und vor allem zu deren wirtschaftlichen Vorteilen) alles, selbst das Intimste, von und über sich ausbereitet?
Wohlgemerkt, die Rede ist von einer Nation, auf deren Strassen und Plätzen nahezu täglich – eigentlich unvorstellbar – sogar Rettungsdienste, Polizisten und Feuerwehrleute angepöbelt, angespuckt und körperlich attackiert werden? Wo selbst scheinbar „normale“ Bürger an Unfallstellen ungerührt Fotos von Schwerverletzten machen, um sie anschliessend triumphierend ins „Netz“ zu stellen? Vergisst man zudem in diesem Volk aus Angst vor „Überfremdung“, wozu es führen kann, wenn Hass, Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit freier Lauf gegeben wird? Sind die Bilder von Halle und Hanau nicht ein schreckliches Fanal, wo Jagd auf Juden versucht und auf Migranten gemacht wurde? Haben zwölf Jahre Hitlerdiktatur mit millionenfachem Tod und Verwüstungen weit über Europa hinaus und vierzig Jahre kommunistische Zwangsherrschaft in der DDR nicht ausgereicht, um in den Köpfen jeden Gedanken an den „starken Mann“ und scheinbar einfache Lösungen für komplizierte Zusammenhänge ein- für allemal auszulöschen? Sicher, es ist gewiss nicht die Mehrheit, die so agiert. Aber es sind eben zu viele, die dazu schweigen.
Deutschland krempelt die Ärmel hoch? Schön wär’s. Dann könnte vielleicht ein Lyriker im Sinne Goethes oder Erich Kästners ein Gedicht schreiben, das etwa mit den Zeilen begänne „Kennst du das Land, wo die Gedanken blüh’n? Wo die Talente reifen und die Ideen glüh’n …?“. Das wäre ein schöner Wunsch. Aber schliesslich darf jeder Träume haben. Selbst wenn die von der Berliner Regierung erhoffte Ärmel-hoch-Gesellschaft sich aktuell noch immer eher als eine furchtsame Ärmel-unten-Gesellschaft präsentiert.