So schrieb er auch selbst das Libretto für seine 5-aktige Oper „Les Troyens – Die Trojaner“. Sie entstand in den Jahren 1856–58. Berlioz war 53 Jahre alt, als er damit begann. Glück hatte er mit diesem breit angelegten Werk nicht. Es wurden im Jahre 1863 in Paris nur die Akte 3–5 aufgeführt; die ersten beiden Akte hörte man erstmalig 1879 in einer konzertanten Aufführung. Berlioz war seit 10 Jahren tot.
Gewaltige Anforderungen
Über Jahrzehnte wurde es zur schlechten Gewohnheit, die Oper an zwei Abenden zu spielen, obwohl sie insgesamt kürzer ist als etwa Wagners „Götterdämmerung“. Akt 1 und 2 schildern „Trojas Fall“, die folgenden drei Akte bezeichnet man als „Die Trojaner in Karthago“. In der vom Komponisten gewünschten Art hat man das Werk erst im 20. Jahrhundert entdeckt und diesem auch Gerechtigkeit widerfahren lassen.
Zugegeben: die Anforderungen sind gewaltig, um diese Oper auf die Bühne zu bringen. Chöre, Ballett, riesiges Orchester, 22 verschiedene Rollen: ein Spektakel, das die letzten Ressourcen auch eines grossen Opernhauses fordert. In den vergangenen Jahren sind exzellente Produktionen entstanden. Wir können sie heute in den inzwischen lieferbaren europäischen und amerikanischen Mitschnitten der Oper auf CD oder DVD nacherleben.
Viel Waffengeklirr und Kriegslärm hat Berlioz in seinen Trojanern mit hineinkomponiert. Er lässt das Orchester immer wieder gewaltig schmettern und donnern, Chöre marschieren und jubeln. Weshalb man dieses Werk aber besonders gern hört und immer wieder zu ihm zurückkehren will, ist einerseits die Musik einiger Glücksstunden in Karthago, die der Komponist sich für das liebende Paar Aeneas und Dido imaginiert hat. Das Glück der Nähe hat für dieses Paar allerdings nur kurze Zeit gedauert. Bald verordneten die Götter wieder die Trennung, wonach das Liebespaar – unheilbar liebeskrank – wieder getrennt wird.
Zwei Frauenschicksale
Vor allem jedoch ist es das von schicksalhafter Tragik durchzogene Leben von zwei Frauen, für welche Berlioz in gestalterischer Hochform Musik geschaffen hat, die uns bis heute aufwühlt, bannt und zu dieser Oper immer neu hinzieht. Es ist das Los der trojanischen Seherin Kassandra auf der einen Seite, das der karthagischen Königin Dido auf der anderen.
Während Aeneas, der Tenorheld der Oper, von göttlichen Aufträgen gehetzt durch das Mittelmeer segelt, damit er endlich in Italien mit den Trojanern, welche die Niederlage ihrer Stadt überlebt haben, ein neues Reich gründe, erleben wir in den Gestalten der beiden Frauen menschliche Tragik pur. Beide werden zu grandiosen Anklägerinnen einer Macht- und Eroberungspolitik, die für das Los der Einzelnen, zumal der beteiligten Frauen, weder Einsicht noch Einfühlung kennt.
Steht im Troja-Teil die Seherin Kassandra mit ihren Unheilsbotschaften über die Zukunft der Trojaner im Zentrum des Geschehens, so ist Dido, die Herrscherin von Karthago, die zentrale Figur in den Akten 3–5. Im 3. Akt versprechen die in Karthago angekommenen Trojaner, Königin Dido im Kampf gegen die ihr Reich bedrohenden Numider zu unterstützen. Die Liebesgeschichte zwischen Aeneas und Dido beginnt bald danach, im 4. Akt.
Doch Liebe lässt die Pflicht vergessen! Aeneas soll ja nicht in Meeresgrotten erotischen Vergnügungen nachgehen, sondern mit den Trojanern weiterziehen, um endlich die Stadt Rom zu gründen. Geisterchöre der verstorbenen Trojaner, unter ihnen auch Hektor und Kassandra, mahnen die Säumigen, in die Schiffe zu steigen und den von den Göttern erteilten Auftrag zu erfüllen. Wir vernehmen die Stimme des Götterboten Merkur, der den selbstvergessenen Aeneas dreifach an seine Bestimmung erinnert: Italien! Italien! Italien!
Didos Abschied
Dem Opernfreund bleibt nichts so sehr im Ohr wie Didos Verzweiflung über den Liebesverrat des Aeneas und ihre anschliessende Selbsttötung auf dem Scheiterhaufen. Wenn die karthagischen Wachen ihre Königin darüber aufklären, dass die trojanischen Schiffe mit Aeneas an Bord in See gestochen sind, bricht Dido in Wut und Rachegeschrei aus. Doch allmählich greift in ihr die Überzeugung Raum, als liebesbetrogene Königin von der Welt Abschied nehmen zu wollen.
Hier ist Didos Abschiedsgesang ausgewählt, in einer ergreifenden Gestaltung durch die amerikanische Sängerin Lorraine Hunt Lieberson, die im Jahr 2003 an der Met in New York unter der Leitung von James Levine live mitgeschnitten wurde, eine Inszenierung übrigens aus Anlass des 200. Geburtstages von Berlioz. Diese Aufnahme erinnert auch an die unvergleichliche Berlioz-Interpretin Lorraine Hunt, die bereits drei Jahre danach ihrem damals schon diagnostizierten Krebsleiden erlag. Dido war für sie die letzte Rolle auf der Opernbühne. Den danach geplanten Orpheus von Gluck konnte sie nicht mehr singen.
„Je vais mourir – ich werde sterben“, beginnt Dido, versunken in Liebesschmerz, ihre Klage. Venus wird ihr ihren Aeneas nicht mehr zurückgeben. So nimmt sie Abschied von der stolzen Stadt, die sie erbaut hat, von ihren Verwandten, von ihrem Volk. Aber auch von allem, was ihr in ihrem Leben lieb und teuer war: die wunderbare Küste, an der sie ihr Glück erlebte, der afrikanische Himmel, die Sterne, zu denen sie in den Nächten des Liebesglücks und der unendlichen Ekstasen aufblickte. Die Schlussverse ihrer Abschiedsarie lauten: „Ich werde euch nicht mehr sehen – mein Lebenslauf ist vorbei.“
Wer diese Klage der Dido im Opernhaus erlebt – oder diese sich zuhause anhört –, möchte aus dem Stuhl aufspringen und der karthagischen Königin sogleich entgegeneilen, um die unglückliche Frau aus ihrer Todesverfallenheit zu befreien. Aber Opernarien sind nicht dazu da, um Interventionen an der tunesischen Mittelmeerküste auszulösen, sondern um Aufruhr, Staunen und Mitleid in Körper und Seele der Zuhörenden aufkommen zu lassen.
Lorraine Hunt Lieberson mit Didos Abschiedsgesang im Jahr 2003 an der Met in New York unter der Leitung von James Levine auf Youtube