Da sass er nun im sonnigen Garten eines Hotels in seiner Heimatstadt Arles, eine lebende Legende, das schneeweisse Haar und der schneeweisse Bart gepflegt und kurz gestutzt, das Lächeln freundlich, die Stimme leise. Lucien Clergue hatte vor wenigen Jahren zugesagt, einer kleinen Gruppe von Journalisten über seine Freundschaft mit Picasso zu erzählen, denn sie reisten auf den Spuren des Künstlers durch Südfrankreich.
Clergue freute sich über mein Geständnis, dass ich es als Ehre empfand, ihm endlich persönlich zu begegnen. Als Novizin beim «St. Galler Tagblatt» durfte ich nach kurzer Zeit unter anderem die jeden Samstag erscheinende Seite mit «schönen» Fotos betreuen, die nichts mit den aktuellen Bildern gemein hatte, die wir sonst publizierten.
Steine und Frauenkörper
Kurt Lüthy, der Feuilleton-Chef, hatte mich angewiesen, immer eine Fotografie von Lucien Clergue zu nehmen, wenn ein Umschlag von ihm eintraf. Als Absolventin einer Töchterschule, in der die Schul-Exemplare der Klassiker, die gelesen werden sollten, von jeder Formulierung gereinigt waren, die ein empfindsames junges Mädchen angeblich hätten schockieren können, so dass wir auf Geheiss des Deutschlehrers die Originale von zu Hause mitnehmen durften, gefielen mir die Fotos, die wir von Lucien Clergue alle paar Wochen erhielten, besonders gut.
Es waren Bilder aus seinen Zyklen mit Aktfotografien am Meer, auf denen das Gesicht der Frau nicht zu sehen war. Die Gischt schäumte über gerundete Formen im Sand, und man wusste kaum, welche ein Stein und welche Teil eines Frauenkörpers war. Fotos, natürlich schwarzweiss, in vollendeter Komposition von Licht und Schatten. Kurt Lüthy war somit einer der ersten, wenn nicht überhaupt der erste, der Clergues Fotos in der Schweiz veröffentlichte.
"Picasso mon ami"
Lucien Clergue hätte eigentlich Violine studieren sollen, aber seine Eltern waren zu arm für die Gebühren des Konservatoriums. So folgte der Junge seiner zweiten Liebe und fotografierte. Als er 19 war, traf er in der Arena von Arles Pablo Picasso, der ebenfalls einen Stierkampf besuchte. Er fragte den grossen Künstler, ob er ihm Fotos zeigen dürfe und zeigte ihm jene die er in Saintes-Maries de la Mer vom Treffen der fahrenden Völker gemacht hatte. Picasso erkannte den jungen Mann als Künstler an, und Jean Cocteau nannte Clergue den «Dichter mit der Kamera».
Clergue befreundete sich mit Picasso und ging bei ihm ein und aus. So entstanden grossartig entspannte Fotos, die Clergue lange nah Picassos Tod in seinem Buch «Picasso mon ami» publizierte.
Eifersüchtige Jacqueline
Clergue, der bald ein gefragter Fotograf war, der im Auftrag grosser Magazine berühmte Zeitgenossen porträtierte, aber auch die heute noch existierenden «Rencontres» der Fotografie in Arles gründete, erzählte auch Amüsantes: Picasso produzierte in Vallauris zahllose Keramikobjekte, die er auch in seinem Haushalt verwendete. War die Familie Clergue bei Picasso zum Essen eingeladen, bat der Fotograf seine Kinder eindringlich, bitte ja kein Geschirr zu zerschlagen, weil es sich um Kunstwerke handle.
Doch eines Tages schenkte Picasso bei Tisch spontan Clergues wunderschöner Frau Yolande einen kleinen Gegensand, den er geformt hatte, was den misstrauischen Augen von Jacqueline, der letzten Frau Picassos, nicht entging. So endeten diese Einladungen abrupt, nicht aber die Freundschaft der beiden Künstler.
Ritter der Ehrenlegion
Später schuf Lucien Clergue auch Filme, aber immer experimentierte er mit Fototechniken und widmete sich seinen liebsten Fotothemen: Frauenakte, die in einigen Ländern lange Zeit als Pornografie galten und verboten blieben - und dem Stierkampf. Als erster Fotograf wurde Lucien Clergue in die französische Akademie der schönen Künste berufen, und er wurde Ritter der Ehrenlegion. Er selber bezeichnete sich jedoch nie als Künstler, sondern schlicht als Fotograf.