Das Rätsel lässt sich so umreissen: Da ist eine hoch gepriesene Mode- und Reportagefotografin. Sie ist gesegnet mit allen Fähigkeiten, die den Erfolg als Fotografin ermöglichen. Ihre Bilder werden von den besten und bekanntesten Modezeitschriften und Publikumsmagazinen gedruckt. Zeitgenössische Fotografinnen und Fotografen ersten Ranges zollen ihr ebenso Anerkennung wie einige der bekanntesten Kunstmuseen wie das Museum of Modern Art in New York. Aber ihr eigentliches Werk, das bis heute gezeigt wird, besteht aus Bildern, deren ästhetische Reize eher verhüllt sind – um es vorsichtig auszudrücken.
Ein grösserer Kontrast ist kaum vorstellbar: Hier die Welt der Mode, des Glamors, fotografisch mit beneidenswerter Meisterschaft in Szene gesetzt, dort die Welt des Trivialen, des Hässlichen, des Abnormen, so betont nüchtern fotografiert, dass einem das Wort „kunstlos“ in den Sinn kommt. Was hat diese Frau, die 1923 in New York zur Welt kam und sich 1971 das Leben nahm, angetrieben?
Das eigene Fotostudio
Ihre Biographie ist farbig. Sie wuchs in einem begüterten jüdischen Elternhaus auf, wurde von einem eigens für sie abgestellten Kindermädchen betreut, und ihre künstlerische Begabung wurde auch von ihrem Vater, dem Inhaber eines renommierten Pelz- und Modekaufhauses in der Fifth Avenue in New York gefördert. Zum Ärger ihrer Eltern allerdings verliebte sie sich schon als junges Mädchen in ihren späteren Mann, Allan Russeks. Ironie der Geschichte: Sie lernte ihn 1937 in der Kunstabteilung des väterlichen Kaufhauses kennen. Als sie achtzehn war, heirateten sie und mussten sich nun, weitgehend auf sich gestellt, durchschlagen.
Sie bauten ihr eigenes Fotostudio auf. Diane wirkte damals mehr bei den technischen Arbeiten, während ihr Mann die Fotos machte. Die Arbeit war sehr erfolgreich. Coverfotos für „Glamour“ and „Seventeen“ steigerten ihr Renommee, so dass sie bis zum Redaktionsstab von „Vogue“ auftiegen.
1956 fing sie mit einer 35 mm Nikon selber an, systematisch zu fotografieren. Seit 1962 verwendete sie eine 6 x 6 Rolleiflex. In diesen Jahren begegnet sie berühmten Fotografen wie Richard Avedon, August Sander, Robert Frank oder Lisette Model, lässt sich von renommierten Lehrern wie dem Maler Marvin Israel ausbilden, und ihre Arbeiten finden starke Beachtung. Unter anderem publiziert sie in Esquire, Harper´s Bazaar und der New York Times.
Fotografie als Meditation
1963 erhält Arbus für ihr Projekt, „American Rites, Manners and Customs“ ein Guggenheim Stipendium. Ihre Arbeit war so überzeugend, dass sie 1966 ein zweites Stipendium beantragen konnte. In der Begründung dafür schrieb sie. „Ich habe gelernt, die Schwelle vom Äusseren zum Inneren zu überwinden. Ein Milieu führt zum nächsten ... eine Gruppe junger Nihilisten, verschiedene Haushalte, eine Rentnerstadt im Südwesten, eine Art neuer Messias, eine spezielle utopische Sekte, die sich auf einer nahegelegenen Insel niederlassen will, Schönheiten aus unterschiedlichen ethnischen Gruppen, bestimmte kriminelle Typen, eine Minderheitenelite.“
Die Schwelle vom Äusseren zum Inneren: Fotografie als Meditation. Susan Sontag, die grosse Essayistin, die genau in jenen Jahren ihr grundlegendes Werk „Über Fotografie“ verfasst hat, äussert dagegen einen anderen Verdacht: Könnte die Fotografie von Diane Arbus nicht voyeuristische Wünsche befriedigen? Und dazu kommt noch ein anderer Eindruck, nicht weniger abträglich: Es entstehe „das Gefühl, dass alles, was sie zeigt, genau ihrer persönlichen Sicht entspricht, also etwas Gewolltes ist.“
Nicht weniger pointiert äusserte sich Norman Mailer: „Giving a camera to Diane Arbus is like putting a live grenade in the hands of a child.“ Die Kamera also wie eine scharfe Granate in Kinderhänden: Hat Diane Arbus Dinge aufgerissen, die bislang unter dem Mantel der Verborgenheit verdeckt waren? Dem hätte Susan Sontag zugestimmt, zumal sie in ihrem Essay „Über Fotografie“ feststellt: „Ein grosser Teil der modernen Kunst zielt darauf ab, die Reizschwelle dessen, was entsetzlich ist, herabzudrücken.“ Und etwas gehässig schreibt sie, speziell auf Arbus gemünzt: „Der Fotograf versucht ständig, neue Erfahrungsbereiche zu erschliessen ..., um die Langeweile zu bekämpfen.“
Das Monströse kann beim heutigen Betrachter nicht mehr so aufwühlend wirken, wie das damals der Fall war. Dennoch wirken die Bilder immer noch bizarr, mindestens befremdlich, wie wenn aus der Vergangenheit noch einmal seltsame Gestalten heraufgefischt würden. Fast ausnahmslos schauen alle in die Kamera. Damit treten sie zu dem Betrachter in Kontakt. Entsprechend „berühren“ die Bilder. Das gilt um so mehr, als die Fotografin Diane Arbus immer wieder fragende Blicke der Porträtierten anzieht. Irgendetwas ist da im Raum, Offenbar hat sie eine spezielle Arbus-Beziehung hergestellt, die die Fotografierten ihre Not im fragenden Blick zum Ausdruck bringen lässt.
"Vermehrt Euch. Verpfuscht es"
Überhaupt die Not: Arbus porträtiert ganz junge Paare, aber in den Blicken spiegelt sich eine Resignation, die nur noch durch den Ausdruck der Verzweiflung abgelöst wird. Liebe gibt es für Arbus nicht. Und Nacktheit ist der pure Horror. Sie hat in FKK-Camps fotografiert und Hässlichkeit ohne Ende zutage gefördert. Sie selbst schreibt: „Es ist, als hätten Adam und Eva nach dem Sündenfall Gott angefleht, ihnen zu vergeben, und er in seiner grenzenlosen Wut gesagt hätte: «Also gut, dann bleibt. Bleibt im garten Eden. Werdet zivilisiert. Vermehrt euch. Verpfuscht es.» Und genau das haben sie getan.“
Schwer passt dazu ihr Bekenntnis: „Das ist es, was ich liebe: die Verschiedenheit, die Einzigartigkeit aller Dinge und die Bedeutsamkeit des Lebens ... Ich sehe etwas, das wie ein Wunder erscheint; ich sehe das Göttliche in den gewöhnlichen Dingen.“
Dieses Zitat stammt allerdings aus einem Referat über Plato, das sie im Oberstufenseminar der Fieldston School im November 1939 gehalten hatte. Der Horror kam später und er war, wie viele, die Diane Arbus persönlich nahestanden, nur zu genau wussten, Ausdruck ihrer Depressionen, die sie im Laufe der Jahre immer stärker heimsuchten. Und man muss es leider sagen: Lässt man die 200 Bilder im Fotomuseum Winterthur auf sich wirken, dann vermitteln sie eine düstere Stimmung. Die meisten Bilder sind relativ dunkel – die Reproduktionen im neu aufgelegten Band vom Schirmer/Mosel Verlag sind gemessen an den Originalen viel zu hell !
Nobilitierung durch Anteilnahme
Dunkel und ohne Strukturen, die dem Auge wohltun. Eine Ausnahme gibt es, auf die man regelrecht erleichtert zugeht: ein helles Bild mit einer schönen, ansprechenden Struktur. Beim näheren Hinschauen erkennt man den Central Park, zwei alte Frauen kommen des Weges, es ist offensichtlich Winter, denn die Bäume sind kahl ....
Die Ambivalenz der Fotografie, ihre Stellung zwischen kunstloser Dokumentation und kunstvoller Gestaltung, zwischen blossem Voyeurismus und Nobilitierung des Hässlichen und Banalen durch die Anteilnahme des Fotografen lässt sich an Diane Arbus exemplarisch studieren. Den "Zwischenraum", den die Fotografie einnimmt, hat sie so angegeben: "Eine Fotografie ist wie ein Geheimnis eines Geheimnisses. Je mehr es erzählt, umso weniger erfährt man."
Aber es ist schade, dass in der Ausstellung in Winterthur - eben so wenig wie vorher im Jeu de Paume in Paris - nur die eher dokumentarische Arbus zu sehen ist. Das wird ihr nicht gerecht. Denn man könnte ja auch die Frage stellen, ob ihr Weg von der Mode- und Reportagefotografie hin zur Darstellung der bis dahin weniger beachteten Facetten des „Alltags“ nicht auch ein Weg der bewussten Reduktion der Ausdrucksmittel ist.
Diane Arbus, Fotomuseum Winterthur, 3. März bis 28. Mai 2012, dazu: Diane Arbus, Schirmer/Mosel, München 2003/2011